Sie sind hier

Abo

Moutier

Was hat Moutier zu verlieren?

Die Gemeinde Moutier wird am 18. Juni 2017 über ihre Kantonszugehörigkeit abstimmen. Der bernjurassische Regierungsrat Pierre Alain Schnegg kämpft für den Verbleib der Stadt im Kanton Bern, auch wenn ein Gutachten seine Argumente nur teilweise stützt.

Soll Moutier den Kanton wechseln? Die Jurastadt könne dabei nur verlieren, meint Regierungsrat Pierre-Alain Schnegg. Stéphane Gerber
  • Dokumente
  • Dossier

Pierre-Alain Brenzikofer/pl

Die Kantone Bern und Jura sowie die Stadt Moutier haben zwei Gutachten publiziert, welche den Bewohnern Moutiers aufzeigen sollen, welche Folgen ein allfälliger Kantonswechsel hätte. Regierungsrat Pierre Alain Schnegg ist vom Amtes wegen Präsident der Juradelegation in der kantonalen Exekutive. Er hat die beiden Expertenberichte gelesen und bezieht heute Stellung gegenüber dem «Bieler Tagblatt»: «Immerhin wissen wir jetzt, welche Vorteile die Romands vom Kanton Bern geniessen. Das ist gut so, auch wenn es noch Verbesserungsmöglichkeiten gibt.» Was Moutier betrifft, meint der Magistrat: «Das Schicksal der Stadt würde bei einem Kantonswechsel durch viele Unbekannte belastet.» Unrecht hat er nicht, schliesslich konnten sogar die Experten in ihren Berichten nicht alle Fragen schlüssig beantworten.

Kriterien vernachlässigt

Das erste Gutachten gibt Antworten auf 18 Fragen, auf die sich die drei Auftraggeber Ende des vergangenen Jahres einigten. Federführend für das Werk sind das Hochschulinstitut für öffentliche Verwaltung der Uni Lausanne (IDHEAP) und das Büro «Eco’Diagnostic» in Genf. Das zweite Gutachten betrifft die Zukunft des Standortes Moutier im Rahmen des Spitalverbunds «Hôpital du Jura bernois SA».

Regierungsrat Schnegg übt schon hier Kritik an der Expertise: «Es werden die Städte Delsberg und Moutier verglichen, aber dort herrschen ganz unterschiedliche wirtschaftliche Bedingungen.» Zudem seien andere Kriterien vernachlässigt worden, welche einen entscheidenden Einfluss auf die Kantonszugehörigkeit von Moutier hätten, so Schnegg.

Er denkt dabei auch an die Sozialhilfe: In Moutier leben 300 bedürftige Personen. Im Kanon Jura sind es 1900. Daraus folgert Schnegg: «Wenn sich Moutier für den Kanton Jura entscheiden würde, kämen für diesen auf einen Schlag viele neue Sozialfälle hinzu. Auch wenn man die Auswirkungen heute nicht genau beziffern kann, dürfte die Belastung für die jurassischen Finanzen erheblich sein.»

Arbeitsplätze gefährdet

Heute ist Moutier ein wichtiger Amtssitz der bernischen Verwaltung. Zudem erhält die Stadt im Rahmen des Sonderstatuts erheblich Beiträge für ihre Kulturinstitutionen. «Im Kanton Jura sind solche Vorteile nicht vorgesehen; sie müssten durch die Politik beschlossen werden», sagt Schnegg.

Er stellt fest, dass sein Kanton mit einer Million Einwohner über eine gewichtige und diversifizierte Wirtschaftskraft verfügt. Dagegen sei der Kanton Jura ein Leichtgewicht: «Der Kanton Jura hat viel weniger finanzielle Ressourcen. Bern hat 2014 ganze 480 Millionen Franken investiert, der Kanton Jura nur 85.

Ähnliches sieht Schnegg auch beim Bruttosozialprodukt: «Im Kanton Bern liegen wir mit 76 000 Franken pro Einwohner knapp unter dem Schweizer Durchschnitt, aber im Jura beträgt die individuelle wirtschaftliche Wertschöpfung nur 63 00 Franken.»

Auch beim nationalen Finanzausgleich sind die Verhältnisse ähnlich, sagt der Politiker: Dieser sei zwischen Bern und Jura höchst unterschiedlich. «Das wider- spiegelt doch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der zwei Regionen.»

Aber was hätte die Stadt Moutier im Kanton Jura für ein politisches Gewicht? Dazu meint Schnegg: «Bern ist beim Bund mit 25 Nationalräten vertreten, der Jura nur mit vier. Mit der Berner Fraktion lassen sich in Bundesbern viel einfacher Mehrheiten für die Romands gewinnen.»

Auch auf kantonaler Ebene sei es leichter, eine Person aus Moutier in den Grossen Rat zu portieren. Falls sich die Stadt für den Kanton Jura entscheiden sollte, müssten die Parlamentarier womöglich im Verwaltungsbezirk Delémont um einen der wenigen Sitz kämpfen, so Schnegg.

Steuerbelastung ungewiss

Er erinnert daran, dass sich im Kanton Bern viele namhafte In-stitutionen befinden: das Zentrum Paul Klee, das Kunsthistorische Museum, die Schweizer Künstlerbörse, das Universitätsspital Insel und viele andere. «Klar sind diese Einrichtungen nicht im Berner Jura angesiedelt», so Schnegg, «aber sie strahlen auch dahin aus.» Er nennt im Speziellen den Bieler Swiss Innovation Park, welcher direkt mit den Industriebetrieben des Berner Juras vernetzt ist.

Werden die Bürgerinnen und Bürger von Moutier im Kanton Jura weniger Steuern bezahlen? Die Experten hätten «ungünstige» Zahlen aus dem Berner Jura zum Vergleich herangezogen, meint Schnegg. Denn auf der Basis von «vergleichbaren Situationen» würden die heutigen Bernjurassier im Kanton Jura nur unwesentlich mehr belastet: «Hätte man andere Vergleichswerte genommen, wäre die Rechnung durchaus umgekehrt verlaufen.»

Aber ist die Steuerbelastung wirklich kleiner als im Kanton Bern? «Wenigstens wissen die Steuerpflichtigen von Moutier heute, woran sie sind. Im Kanton Jura sind die Verhältnisse bedeutend undurchsichtiger», sagt Schnegg. Er nennt dazu Unterschiede beim steuerlichen Abzug für die Kinderbetreuung: Im Kanton Bern können dafür 8000 Franken abgezogen werden, im Kanton Jura sind es lediglich 3200. Wenn eine Familie zwei Kinder in die Krippe gibt, dürfen im Kanton Bern 16 000 Franken vom Einkommen abgezogen werden; der Kanton Jura lasse nur 6400 zu. Das macht immerhin eine Differenz von rund 10 000 Franken bei der Berechnung des Einkommens.

Spitalverbund gefährdet

Der SVP-Regierungsrat sorgt sich auch um die vielen Schulen und Institutionen in Moutier, welche heute vom Kanton Bern finanziert werden: «Hier erkenne ich eine grosse Unsicherheit für die Zukunft.» Schnegg denkt dabei an die Kindergärten, die Primar- und Sekundarschulen – und selbstverständlich an die kantonalen Verwaltungsstellen. «Würden all diese Arbeitsplätze nach einem Übertritt in den Kanton Jura kompensiert?», fragt er sich.

Pierre Alain Schnegg ist der ehemalige Verwaltungsratspräsident des bernjurassischen Spitalverbands Hôpitaux du Jura bernois (HJB). Als heutigem Gesundheits- und Fürsorgedirektor des Kantons Bern liegt ihm natürlich dessen Gedeihen am Herzen: «Allein im Spital Moutier arbeiten 300 Personen.» Darin sind die vielen Teilzeitangestellten noch nicht einmal eingerechnet. Zum Expertenbericht von Professor Rütsche meint er: «Die Schlussfolgerungen decken sich mit dem, was wir immer gesagt haben: Nach einem Übertritt von Moutier in den Kanton Jura wäre das Spital in seiner Existenz gefährdet».

Schnegg ist enttäuscht, dass der Experte keine Alternativen aufzeigt: «Dem Bericht ist nicht viel zu entnehmen, und ich mache mir wirklich Sorgen um die 300 Angestellten. Schliesslich tragen sie erheblich zur wirtschaftlichen Diversifizierung der Region bei.»

Keine Geschlossenheit

Die Behörden des Kantons Bern wollten bekanntlich keine gemeinsame Medienkonferenz mit dem Kanton Jura, der Stadt Moutier und den Experten. Zu verschieden sind die Standpunkte. «Wir haben das so beschlossen, weil keine Einigkeit besteht. Hingegen werden wir die beiden Expertenberichte im Vorfeld der Abstimmung auf objektive Weise vermitteln», so Schnegg.

Schnegg weiss nur zu gut, dass es bei der Abstimmung über die Kantonszugehörigkeit von Moutier um alles geht. Einerseits wirbt der Kanton Jura um die Berner Industriestadt, andererseits ist die Mehrheit des Gemeinderats von Moutier für eine Abspaltung vom Kanton Bern.

Schliesslich meint Pierre Alain Schnegg: «Dank seiner geografischen Lage zwischen den Kulturen hat der Kanton Bern ein hohes politisches Gewicht.» Tatsächlich nimmt Bern sowohl an den deutschsprachigen als an den französischsprachigen nationalen Konferenzen teil. Deshalb könnte auch die Stadt Moutier – wenn sie im Kanton Bern bliebe – von dieser Vernetzung profitieren.

Nachrichten zu Seeland »