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Grenchen

«Wer alles gibt,
 kann auch alles schaffen»

Gordana Schmid hat mit 57 Jahren ihre Stelle verloren – und gründete eine eigene Spitex. 
Damit hätte sie nicht gerechnet, als sie in den 80er-Jahren als Lehrerin aus Ex-Jugoslawien in die Schweiz kam.

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  • Dossier

Hannah Frei

Heute sind wir fünf Personen, die meisten arbeiten Teilzeit. Wir betreuen, pflegen und machen den Haushalt. Und ich bin der Joker. Denn wenn einer unserer Klienten verstirbt oder in ein Altersheim zieht, haben wir erheblich weniger zu tun. Diese Arbeit teilen wir auf. Und dabei ist es mir wichtig, dass die Angestellten so gut wie möglich so viel arbeiten können, wie sie es wünschen. Wenn wir also weniger Klienten haben, ziehe ich mich aus der Pflege zurück und konzentriere mich auf die Büroarbeit. Sobald wieder neue Kunden dazukommen und mehr Arbeit ansteht, bin ich dann wieder im Einsatz. Zurzeit haben wir noch Kapazität.

Ursprünglich komme ich aus Ex-Jugoslawien, dem heutigen Serbien. Als ich meine Ausbildung zur Primarlehrerin in den 80er-Jahren abgeschlossen hatte, war die Arbeitslosigkeit dort gross. Ich fand keine Stelle, wollte weg, träumte davon, nach Australien auszuwandern. Mein Grossvater hat eine Zeit lang dort gelebt, mir immer wieder Karten geschickt, mir erzählt, wie toll es dort ist. Ich kann gar nicht recht sagen, was mir an diesem Land so sehr gefällt. Vielleicht die Einwohner, die ein ganz anderes Leben führten als ich. Vielleicht ist es auch einfach ein Gefühl, sozusagen ein Jugendtraum. Für mich stand jedenfalls fest: Dort will ich hin. Aber die Flüge nach Australien waren in den 80er-Jahren fast unbezahlbar. Damals arbeitete ich als Kellnerin in einem Lokal. Und dort lernte ich einen jungen Mann aus der Schweiz kennen. Wir führten eine Beziehung, wollten zusammen in die Schweiz. Er kaufte Flugtickets für uns und lud mich ein. Doch am Schweizer Zoll war die Einreise ohne Visum nicht möglich. Also musste ich wieder zurück nach Jugoslawien. Der Mann hingegen blieb in der Schweiz. Ich war traurig und enttäuscht. Später stellte sich aber heraus, dass es mein grosses Glück war, nicht einreisen zu dürfen. Denn dieser Freund hatte die Absicht, mich in der Schweiz zur Prostitution zu zwingen. Er war ein Frauenhändler. Ein paar Monate darauf versuchte ich es alleine erneut, hatte endlich genug Geld gespart, um es mit dem Zug in die Schweiz zu schaffen. Und es funktionierte.

Hier arbeitete ich als Aushilfe bei einem Bauern in den Bergen und kellnerte. Deutsch konnte ich kaum. Ich hatte immer ein Büchlein dabei, in dem die wichtigsten deutschen Ausdrücke notiert waren. Und dann habe ich in einem Restaurant im Seeland meinen späteren Ehemann und Vater meiner Kinder kennengelernt. Zwei Töchter und einen Sohn haben wir zusammen. 2005 haben wir uns friedlich getrennt. Die älteste Tochter blieb bei meinem Ex-Mann, die anderen beiden kamen mit mir. Damals arbeitete ich bereits in einem 60-Prozent-Pensum als Pflegehelferin. Das Geld reichte hinten und vorne nicht. Ich hatte Schulden. Mein Arbeitgeber erlaubte mir, die Anstellung auf Vollzeit zu erhöhen und mich weiterzuentwickeln. Ich absolvierte die Ausbildung zur Pflegefachfrau HF, später zur Heimleiterin und Berufsbildnerin. So bin ich zu dem geworden, was ich heute bin.

Als Studentin in Jugoslawien war ich eine überzeugte Kommunistin, war sogar Parteimitglied. Für mich gehörte die Welt damals den Menschen, mit allem drum und dran. Der Mensch war Gott gleichgestellt. Mit 30 Jahren, als ich bereits in der Schweiz war, habe ich mich zum ersten Mal mit dem Spirituellen auseinandergesetzt. Und ich stellte fest: Der Mensch ist im Vergleich zu allem anderen winzig klein. Aber wenn der Mensch Dinge aus vollem Herzen in Angriff nimmt und das Ziel nicht aus den Augen verliert, kann er alles schaffen – früher oder später. Man muss einfach bereit sein, alles zu geben.

Jeder von uns hat seine Träume. Und es ist toll, wenn man diese verfolgt. Sollte einmal etwas nicht klappen, darf man dem aber nicht zu lange hinterher trauern. Das hindert uns daran, über uns hinauszuwachsen. In meinem Leben habe ich immer mehr festgestellt, dass die Träume manchmal auch besser einfach Träume bleiben, dass sie in der Realität vielleicht nicht das Beste sind. Mit 33 Jahren wollte ich mein spirituelles Wissen unbedingt auf professionelle Weise weitergeben. Ich übte Reiki aus, verbrachte meine Zeit mit Kinesiologie und bildete mich als Entspannungstrainerin aus. Bis heute habe ich diese Leidenschaft jedoch nicht beruflich umgesetzt. Und ehrlich gesagt weiss ich nicht, ob mir dies besser gefallen würde als meine jetzige Arbeit. Ich denke nicht. Auch dem entfernten und exotischen Australien trauere ich nicht hinterher. Vielleicht werde ich irgendwann noch die Möglichkeit haben, dorthin zu reisen. Und wenn nicht, dann im nächsten Leben.

Stichwörter: Mein Montag, Grenchen

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