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Twann/La Heutte

Wie Leser das «Ding» enttarnt haben

Was namhaften Historikern nicht gelungen ist, haben Leser des «Bieler Tagblatts» innerhalb von sechs Wochen geschafft: Sie haben das Rätsel um den behauenen Stein aus La Heutte gelöst. Und auch noch ein Pendant in Twann gefunden, das jahrzehntelang verschollen war. Zugleich führen die Recherchen durch die Vergangenheit behauener Steine, die in der Landwirtschaft, beim Wägen, als Gegengewichte von Kirchenglocken oder als Suurchabissteine eingesetzt wurden.

  • 1/5 Blasebalg, wie es ihn einst in La Heutte gab, gezeichnet von BT-Leser Hans Rickenbacher. zvg
  • 2/5 Das «Ding» aus Twann, das während Jahrzehnten verschollen war. Matthias Käser/Bieler Tagblatt
  • 3/5 Gerhard Engel, Dorfhistoriker von Twann (links), hebt den Stein zusammen mit seinem Historiker-Gehilfen Roman Mürset hoch. «Heute gibt es niemanden mehr im Dorf, der den Stein alleine stemmen kann», sagt Engel. Matthias Käser/Bieler Tagblatt
  • 4/5 Der Zwilling wurde in La Heutte in einem Estrich entdeckt. Reto Probst/Bieler Tagblatt
  • 5/5 Heinz Peter, Gartenbauer aus La Heutte, hat den ersten Stein entdeckt und das Rätselraten initiiert. Reto Probst/Bieler Tagblatt
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Lotti Teuscher

Am Anfang war der Stein. Und der Stein war ein Rätsel: Geschätzte 80 Kilogramm schwer, sorgfältig behauen, oval, mit zwei steinernen Griffen links und rechts. Gartenbauer Heinz Peter hat ihn im Estrich eines Restaurants in La Heutte gefunden, das er renoviert. Wozu diente das «Ding»? Anfragen bei mehreren Fachleuten von der Bieler Historikerin Margrit Wick Weder bis zum Kurator des historischen Museums in Bern brachten zwar Spekulationen – aber kein schlüssiges Ergebnis. Die Vorschläge reichen von einer Art Unspunnenstein über ein Folterinstrument bis zu einem Gewichtstein zum Wägen von schweren Gütern.

Wenn Fachwissen nicht weiterbringt, hilft nur noch eines: Schwarmintelligenz. Das BT lancierte vor sechs Wochen einen Aufruf; Leserinnen und Leser kramten in ihrer Erinnerung an alte Gegenstände und versuchten eine Verbindung zum «Ding» aus La Heutte herzustellen. In der Zwischenzeit hat auch Heimatkundler und Heimweh-Bieler Hannes Hübner begonnen zu recherchieren und sein Netzwerk zu aktivieren (er hat bereits das Rätsel um die Nagelschuhe gelöst). Ein erstes Ergebnis lag dank Hübner rasch vor: Er hat das «Ding» gewogen, dieses ist lediglich 41 Kilo schwer.

Ein Stein, um Holzbretter auf dem Suurchabis zu beschweren?

Doch wozu braucht man einen 41 Kilo schweren Stein aus Jurakalk? Seeländerin Renate Scheller hat eine Idee. Sie sagt, als Kind habe sie ähnliche Steine gesehen: «Sie wurden gebraucht, um Sauerkraut herzustellen. Nach dem Einfüllen in grosse, braune Steingutfässer wurde zuletzt ein Holzdeckel aufgelegt und mit einem Suurchabis-Stein beschwert.»

Ein schlauer Hinweis. Dennoch ist die Suurchabistheorie nicht schlüssig: Sauerkraut-Steine wurden wohl kaum während vielen Stunden sorgfältig behauen, um sie in eine symmetrische Form zu bringen. Für diesen Zweck genügte ein schwerer Stein mit einigermassen flachem Boden. Zudem scheinen 41 Kilogramm Gewicht etwas gar viel zu sein, um ein Brett zu beschweren: Ohne Hilfe ihres Mannes hätte die Sauerkraut herstellende Hausfrau den Stein kaum hochstemmen können.

Eine Beschwerung für Landwirtschaftsgeräte?

Hannes Hübner hat das Wissen von Peter Bretscher vom historischen Museum Thurgau angezapft und ihm die Frage gestellt, ob der Stein ein Utensil aus der Landwirtschaft sein könnte – eine Quelle, die sich als ergiebig erwies. Zum Pflügen seien früher zwar nur selten Steine als Gewichte genutzt worden, sagt Bretscher: «Hingegen wurden sie beim Eggen und Walzen als zusätzliche Beschwerung gebraucht.»

Allerdings wurden meist grössere Feldsteine benutzt, häufig auch Teile von steinernen Fenster- oder Türrahmen, die etwas handlicher auf- und abzuladen waren. Weiter dienten Randsteine als Beschwerung – was die Landwirtschaftstheorie gemäss Bretscher widerlegt: «Dass zum Eggen behauene Gewichte angefertigt wurden, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Im Gegenteil, auch irgendwelche Reste von Alteisen genügten vollauf.» Oder Kinder, die sich nicht nur zum Vergnügen, sondern auch als Beschwerung auf Eggen und Walzen setzten.

Ist die Landwirtschaftstheorie damit auch wirklich vom Tisch? Nicht, wenn man wie BT-Leser Markus Meier in grösseren Zeiträumen denkt: «Meiner Meinung nach handelt es sich um eine mittelalterliche Pflugbeschwerung.» Die Pflüge seien damals aus Holz gewesen mit zwei Handführungen: «Und genau zwischen diesen Führungen konnte der Stein als Beschwerung eingelegt werden. Dadurch erklären sich auch die Griffe», so Meier. Das tönt logisch, doch etwas fehlt: Gebrauchspuren.

Ein Gewichtsstein, der nie vollendet wurde?

Nachdem die Landwirtschaftstheorie selbst nach einem Blick zurück ins Mittelalter vom Tisch ist, meldet sich Bretscher vom Museum in Thurgau mit einer neuen Variante: Da das «Ding» aus La Heutte keiner üblichen Presse, Quetsche oder Mahlvorrichtung gleiche, sei eine Verwendung als Gewichtsstein denkbar. Aber: «Dann müsste eine eingemeisselte Gewichtsangabe, meist in römischen Buchstaben als Pfund-Einheit, erkennbar sein.» Eine solche Inschrift fehlt. Deshalb mutmasst Bretscher, dass das Stück vielleicht unvollendet geblieben ist. Die Theorie des Unvollendeten überzeugt indessen auch nicht wirklich, da sie auf einer Annahme beruht und keine verwertbaren Indizien vorliegen.

Beschwerte das «Ding» einst einen Blasebalg?

Dies ist jedoch nicht das Ende des Lateins, schon gar nicht, wenn man den Ausführungen von Leser Hans Rickenbacher folgt, der eine selber gezeichnete Skizze beilegt (siehe rechts oben), um den komplizierten Sachverhalt zu erklären. Der rätselhafte Stein aus La Heutte könnte laut Rickenbacher ein Relikt einer verschwundenen «Hütte» sein, die dem Dorf den Namen gab. Er vermutet, dass es sich um die verschiebbare Beschwerung eines Blasebalgs handelt, denn: «Egal, ob es sich um eine Glashütte handelt, oder ob Bohnerz zu Eisen verhüttet wurde, die Anlage brauchte ein Gebläse, um auf hohe Temperaturen zu kommen.»

Und so stellt sich Rickenbacher, ein guter Kenner der Geschichte des Berner Juras, die Einrichtung vor: Die Schüss trieb ein Wasserrad an, das mit einer Nockenwelle den Blasebalg betätigte. Der Nocken griff unter die Verlängerung des oberen Deckels und hob ihn an. Sobald der Nocken den Eingriff verlor, senkte sich der beschwerte Deckel und presste die im Balg enthaltene Luft durch eine Düse in den Ofen.

Wenn bei niedrigem Wasserstand die Kraft kaum mehr reichte, um den Deckel hochzustemmen, wurde die Beschwerung gegen das innere Ende des Deckels verschoben: Dadurch wurde der Druck reduziert, ein Stillstand konnte verhindert werden. «Die besonders geformten Enden des Steins sind also keine Handgriffe, sondern Gleitwangen, mit denen der Stein auf parallelen Holmen lagerte», folgert Rickenbacher. Durch entsprechende Positionierung wurde das Hebelgewicht der verfügbaren Wasserkraft angepasst.

Das klingt nach einer verführerischen Theorie, der Heimatkundler Hannes Hübner indes vehement widerspricht: «Der Beschwerungsstein lag nie auf dem Blasebalg; denn der war aus Leder und hatte wegen des Eigengewichts so wenige Verstrebungen wie möglich.» Das Gewicht wurde über einen Hebelarm geführt, weil dadurch die Hebelkräfte viel effizienter eingesetzt werden konnten. Hübner erwägt kurz, ob der Stein ein Gegengewicht für Kirchenglocken gewesen sein könnte. Und muss die Theorie gleich wieder verwerfen: Diese Steine hatten eine ganz andere Form.

Wohin ist ein ähnliches «Ding» aus Twann verschwunden?

So viele schöne Theorien, die alle verworfen werden müssen. Es ist zum Verzweifeln – wäre da nicht Thomas Tschantré aus Twann, der zu wissen glaubt, was das «Ding» aus La Heutte darstellt: «Und zwar sieht die Sache folgendermassen aus!», schreibt Tschantré mit Ausrufezeichnen an das BT, um seine Gewissheit zu unterstreichen.

Bevor er das Geheimnis lüftet, holt der Twanner ein wenig aus: «Vor bald 50 Jahren besuchte ich in Twann die Sekundarschule. In der Turnhalle, die inzwischen abgerissen ist, sah ich gleich zwei Exemplare, die dem ominösen Stein aus La Heutte ähneln, einen kleineren und einen grösseren.» Der eine Stein sei fast 80 Kilo schwer, was für die Twanner Giele eine Herausforderung gewesen ist, denn, so Tschantré: «Wir haben vor den Turnstunden immer versucht, den Stein hochzuheben, was uns natürlich nicht gelang.»

Tschantré ist überzeugt, dass es sich sowohl beim Stein aus La Heutte, wie bei jenem aus Twann, um einen Gewichthebestein handelt. Ein Verdacht, den Hübner inzwischen ebenfalls hegt; allerdings mit Vorbehalt: Er hat zwar etliche Hebesteine entdeckt, aber keinen mit Griffen. Hübner wendet sich deshalb, findig wie er ist, an den deutschen Griffkraftsportler und Steinheber Thorsten Moser, der auch das Steinheben erforscht. Moser mailt Heimatkundler Hübner das Foto eines seiner alten Hebesteine – und tatsächlich: Der Stein sieht dem behauenen «Ding» aus La Heutte verblüffend ähnlich. Dennoch bleiben Zweifel: Der letzte Beweis wäre ein Vergleich des Steins aus La Heutte mit einem Gewichthebestein aus Twann. Leider, bedauert der Twanner Tschantré, sei die alte Turnhalle von Twann abgerissen worden, und mit ihr seien auch die beiden Gewichthebesteine verschwunden. Margrit Bohnenblust, Gemeindepräsidentin von Twann, alarmiert deshalb Dorfhistoriker Gerhard Engel, der sich sofort auf die Suche macht. Von verschiedenen Turnveteranen bekommt Engel den Hinweis, dass sich der Stein im Skiclubhaus des Turnvereins Twann auf dem Spitzberg befinden könnte. Engel nimmt sich vor, auf den Spitzberg zu gehen, sobald der Schnee weg ist – und erlebt eine Enttäuschung: Der Stein auf dem Berg ist leider kein Gewichthebestein.

Engel lässt nicht locker, bis er den Verschollenen im Geräteraum von Twann entdeckt. Und tatsächlich: Der Stein aus Twann sieht dem «Ding» aus La Heutte zu Verwechseln ähnlich – der behauene Stein aus La Heutte hat endlich einen Namen:

Gewichthebestein.

 

Steine für Männlichkeitsrituale

Gewichthebesteine wie jener aus Twann oder La Heutte haben eine lange Tradition: Sie dienten Clans für Männlicheitsrituale und Bauern beim Testen der Stärke von Landarbeitern.

Einer, der den Gewichthebestein aus Twann als Sportgerät benutzt hat, ist der ehemalige Schwinger und Nationalturner Hans Steiner. Er war einer von drei Twannern seiner Generation, die den Stein nicht nur heben, sondern mit gestreckten Armen stemmen konnten. Dass dies nur den wenigsten Turnern gelang, ist nicht erstaunlich: Der Brocken aus Twann wiegt zwar nicht 80, aber um die 50 Kilo.

Drei Mal hat Steiner Ende der 1960er -Jahre an Seeländischen Turnfesten teilgenommen; Gewichtsteine zu heben und zu werfen, gehörte damals zu den Disziplinen. Der Stein wurde erst auf Brusthöhe hochgehoben, danach über den Kopf gedrückt, dann rannten die Turner drei Schritte und warfen den behauenen Stein in eine Sandfläche. Dies erklärt auch, weshalb die Gewichthebesteine aus Twann und La Heutte keine Gebrauchsspuren aufweisen.

Welches Alter der Gewichthebestein aus Twann hat, ist nicht überliefert. Laut Steiner war der Brocken aber dabei, als die Turner 1949 ihr Clubhaus auf dem Spitzberg einweihten. Das 50 Kilo schwere «Ding» wurde entweder mit einem Traktor oder einem Töff mit Seitenwagen hochgebracht.

Steine aus dem 16. Jahrhundert

«Viele der historischen Steine gelten als verloren, aber es sind immer noch etliche Steine vorhanden, die nur darauf warten, gehoben zu werden», sagt der deutsche Griffkraftsportler und Steinheber Thorsten Moser. Denn das Steinheben hat eine lange Tradition, die zum Beispiel in Schweden bis ins 16. Jahrhundert zurückgeht. Durch das Heben massen Männer ihre Kräfte. Manchmal einfach zum Spass, oft ergab sich daraus aber auch eine Hierarchie.

Interessant sind die Überlieferungen von schwedischen Farmbesitzern, die einen oder mehrere «Drängasten» in ihrem Besitz hatten und diese Steine von den Bewerbern für Feldarbeitsplätze heben liessen. Dies diente als Test, um festzustellen, ob der Bewerber den kräfteraubenden Anforderungen eines Farmarbeiters gewachsen waren.

«Weltweit» stärksten Mann finden

Im Gegensatz zu Hebesteinen aus der Schweiz, die meist eckig oder oval waren, waren typische schwedische Hebesteine oft rund. Einer bildet eine perfekte Kugel und ist 123 Kilogramm schwer. Andere waren so leicht, dass man sie bequem hochheben konnte.

Hebesteine sind in ganz Nordeuropa verbreitet. Es waren in der Regel schwere lokale, unbehauene Steine. Die Herausforderung war einzig, den Stein zu heben, um Stärke zu demonstrieren. Ziel war, den «weltweit» stärksten Mann zu finden. In Schottland wurden Steine während Jahrhunderten für Kraftproben eingesetzt: Ein Jüngling wurde erst dann als Mann anerkannt, wenn er in der Lage war, den Hebestein seines Clans auf Taillenhöhe zu heben. LT

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