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Titelgeschichte

Wie Rousseau posthum in ein Verbrechen verwickelt wurde

Gleich zweimal ist Jean-Jacques Rousseaus Bett im Jahr 1983 von der St. Petersinsel gestohlen worden. Rückblick auf einen Inselkrimi, der ein Ende findet, mit dem weder der Entführer noch die Polizei gerechnet hatten.

Bilck von der Südseite der Insel zu den Alpen: Jean-Jacques Rousseau, Naturphilosoph und angeblicher Staatsfeind, konnte diese Aussicht nur wenige Wochen lang geniessen. Bilder: Daniel Graber

Lotti Teuscher

«Den 5. fuhren wir früh auf dem Rathsschiffe von Biel aus nach der Insel des Bieler Sees wohin Rousseau sich begab als er von Geneve weggetrieben wurde. (…) wo der Schaffner und seine Frau die Wirtschaft selber führen sind eben noch dieselben die Rousseau bewirtheten.» Dies schrieb Johann Wolfgang von Goethe 1768 in sein Tagebuch.

Aus orthographischer Sicht ist Dichter Goethe heute schwer verständlich. Richtig ist indes, dass Jean-Jacques Rousseau die St. Petersinsel im Jahr 1765 tatsächlich als Zuflucht auserkoren hatte. Tatsache ist allerdings auch, dass der Philosoph und Querdenker, krank und gebrochen, nach kurzer Zeit als «Staatsfeind» von der Insel verjagt werden sollte. Mit demütigen Worten versuchte Rousseau mit Briefen an die «gnädigen Herren von Bern» dieses Schicksal abzuwenden: «Ich habe meine Lage, mein Alter, mein Gemüt und meine Kräfte überdacht: Sie alle erlauben es mir nicht, in diesem Augenblick und ohne Vorbereitung, eine lange und mühselige Reise zu unternehmen.» Die gnädigen Herren zeigten sich ungnädig, sie vertreiben Rousseau nach nur zwei Monaten aus seinem Asyl.

Zurück bleibt die Erinnerung an einen berühmten Inselbewohner und Naturschwärmer, dessen kurzer Aufenthalt auf der Insel bis heute zelebriert wird. Zurückgeblieben ist auch das Bett, in dem Rousseau geschlafen hatte. Ein Bett, das fast 250 Jahre später aus Sicht der Polizei Mittelpunkt eines Kriminalfalls wird. Eine Straftat, die aus der Sicht des Verantwortlichen eine überaus notwendige Aktion war.

Es ist ein Krimi, der sich im Jahr 1983 abspielte, eine Straftat, die längst verjährt ist. Dennoch besteht der Täter immer noch darauf, dass sein Name nicht genannt wird – aus Rücksicht auf seinen «Gehülfen», dem die Aktion bis heute nicht geheuer ist. Tilo Lander, wie wir ihn also nennen, besteht darauf, dass sein Helfer genau so genannt wird: der Gehülfe.

Item. Tilo Lander, der heute einen respektablen Beruf ausübt, sitzt in seiner Küche, ein Glas Bier vor sich, schwelgt in Erinnerungen, er breitet 25 Jahre alte, vergilbte Zeitungen aus. Denn seine Aktion hat hohe Wellen geworfen, die zumindest symbolisch ans Ufer der Insel klatschten. Der Seeländer, damals 24 Jahre alt, Student, kehrt an diesem Freitagabend 1983 in der Dorfbeiz ein, am Südufer des Bielersees. Je mehr Bielersee-Wein fliesst, desto hitziger wird die Diskussion: Die St. Petersinsel soll von den Besitzern, den Berner Burgern, touristifiziert werden! Tilo Landers verwunschenes Paradies, zu dem er als Kind im Kajak gepaddelt ist! Wo er mit den Kindern des Inselpächters gespielt und gezankt hat! Wo er das Geweih eines ausgebüxten Damhirsches gefunden hat! Um immer mehr Besucher anzulocken, soll auf dem Heidenweg gar ein Transportbähnli gebaut werden. Eine Spanisch-Brötli-Bahn, wie Tilo Lander sie fortan verächtlich nennt.

Tilo Lander will handeln. Er muss handeln. Er kann nicht anders. Er schwört: «Das lassen wir uns nicht bieten!» Der studierende Rebell in spe fasst einen Beschluss: Der Inselgeist wird Jean-Jacques Rousseaus Bett klauen. Eine passende Aktion, um auf das kommende Desaster aufmerksam zu machen. Schliesslich war ja auch der verjagte Philosoph ein Rebell.

Also klaut der Seeländer um Mitternacht zusammen mit seinem Gehülfen ein schönes Ruderboot aus Holz. Geheuer ist die Aktion den beiden allerdings nicht wirklich. Während die Ruder leise ins schwarze Wasser platschen, murmelt Tilo Lander: «Besser, wir kehren um.» Der Gehülfe widerspricht. Etwas später sagt der Gehülfe: «Das machen wir besser nicht.» So geht es hin und her, bis sie leise an der Ligerz-Ländti anlegen; ein alter Holzsteg vor der St. Petersinsel, der bis heute Ziel der Inselschwimmer ist.

Naturlehrpfad durch die Heide: Anderswo darf sie nicht betreten werden.


Tilo Landers grosser Ärger
35 Jahre später stochert Tilo Lander in den Ravioli auf seinem Teller herum, sagt verärgert: «Alle nennen diesen Steg EHEMALIGE Ligerzer-Ländti. Das ist Blödsinn, das ärgert mich fürchterlich. Also schreib einfach nur: Ligerzer-Ländti.» Jawohl, das tue ich. Weil mir in diesem Moment klar wird, dass der Entführer die Insel seiner Kindheit immer noch über alles liebt: Deshalb sind ihm Details so wichtig.

Verstohlen schleichen der Entführer und sein Gehülfe zum Kloster auf der Insel. Der Seeländer weiss, dass die Tür zu Jean-Jacques Rousseaus Zimmer nie abgeschlossen ist. Sie demontieren Rousseaus Bett, das Himmelsdach lassen sie zurück. Die beiden jungen Männer schleppen die Schlafstatt aus massivem Holz keuchend zum höchsten Punkt auf der Insel. Sie müssen sie immer wieder abstellen, weil ihnen die Kraft ausgeht. Danach tragen sie das sperrige Ding steil hinunter zum Ruderboot, befestigen das Bett behelfsmässig quer zum Bug, sie rudern wieder los.

Da stellt sich die Frage: Warum haben der Entführer und sein Gehülfe das schwere Rousseau-Relikt nicht am Uferweg entlang getragen, um sich die steilen Höhenmeter zu ersparen? Tilo Lander runzelt die Stirn, diese Frage hat er sich nie gestellt: «Vielleicht, weil dieser Weg uns kürzer erschien?»


Der Inselgeist bekommt Angst
Der Täter und sein Gehülfe rudern bis zur Mitte des Bielersees. Dort öffnen sie eine Flasche Roten, bewundern die silbrige Spiegelung des Vollmonds im dunklen, stillen Wasser, bevor sie erneut (die Flasche ist inzwischen leer) nach den Rudern greifen. Dann wird das Bett in den Keller des Gehülfen geschleppt.

Die Polizei «merkt gleitig» (O-Ton Tilo Lander), dass Rousseaus Bett gekidnappt wurde, sie leitet eine Fahndung ein. Und obwohl der Entführer mit der Entführung des Betts des Philosophen gegen die Kommerzialisierung der St. Petersinsel protestieren will und daher Öffentlichkeit braucht, wird ihm mulmig, nachdem er einen Kommentar im «Bieler Tagblatt» liest. «Protestaktionen gegen dieses und jenes sind ja heute an der Tagesordnung», steht im BT: «Die Grenze der Toleranz wird aber spätestens erreicht, wenn solche Proteste zu kriminellen Akten ausarten, wie dies beim Diebstahl des Rousseau-Bettes eindeutig der Fall war. (…) Mehr noch: Es war ein Anschlag auf Kulturgut.»

Ein Diebstahl? Ein Anschlag? Tilo Lander schüttelt den Kopf: «Als ich dies gelesen hatte, bekam ich es mit der Angst zu tun.» Er, der Inselgeist, er, der mutige Kämpfer gegen die Touristifizierung der Insel! Er ist plötzlich ein Krimineller! Jemand, nach dem die Polizei fahndet.

Fürs Erste setzte Tilo Lander sein Studium fort, das er zum Glück fern vom Kanton Bern absolviert. Zufrieden, denn er glaubt, dass das Bett im Keller gut versteckt ist.

Um noch mehr Öffentlichkeit zu bekommen, meldet er sich mit verstellter Stimme bei diversen Zeitungen. Selbst der «Tagesanzeiger» zitiert «die Nachtbuben» mit den Worten: «Diese Aktion ist als Protest gegen die neuen Inselpächter gedacht. Wir können die Vertreibung der Familie Stämpfli (die damaligen Pächter) von der St. Petersinsel nicht akzeptieren. Stämpflis Sohn hätte gut die Nachfolge seiner Eltern antreten können. Stattdessen wird jetzt wohl auf der Insel ein profitabler Kommerzrummel losgehen.»

Eglistein, besetzt von einem Fischreiher: Hat der Findling tatsächlich die Form des gestreifen Fischs?


Rousseaus Bett wird zurückgeklaut
Gegenüber den Zeitungen sagt Tilo Lander, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen: «Wir sind ganz viele.» Ausserdem sei das Bett ausserhalb des Kantons Bern versteckt. Eine Schutzbehauptung, denn der Entführer hatte das Corpus Delicti bekanntlich in einem Keller am See versteckt –¬ wo es nicht mehr ist, als er zurückkehrt. Das Bett hat sich verselbstständigt, es steht nun auf dem überdachten Teil der BSG-Schiffländte auf der Insel. Wie es dorthin gekommen ist, bleibt verworren.

Tilo Lander vermutet, dass Dorfbewohner Rousseaus Schlafstatt zurückgebracht haben. Bis heute fragt er sich schwer enttäuscht: «Wer war das?»

Sogleich plant der düpierte Inselgeist eine zweite Entführung. Er sucht einen neuen Gehülfen, mietet einen Transporter, fährt zur Schiffländti. Er stibitzt nicht nur das Bett, sondern gleich auch noch dessen Himmelsdach, das sich im Schlafgemach Rousseaus mit der unverschlossenen Tür befindet. Inzwischen fahndet die Polizei intensiv nach den Tätern, sie befragt zahlreiche Jugendliche, ohne Erfolg. Dass das Bett zwischenzeitlich auf der Insel war, erfährt sie nicht.

Um seinen Forderungen noch mehr Nachdruck zu verleihen, gibt Tilo Lander der Protestaktion einen Namen: «Action Free Food for Rousseau.» Er verfasst eine scharfe Anklage gegen die Besitzer, die Berner Burger, mit Worten wie: «Die Besitzer des Bettes verstossen gegen die Natur, indem sie die Insel als Touristenzentrum vermarkten wollen.»

Das Bett montieren der Täter und sein Gehülfe samt Himmelsdach einen Monat nach der ersten Entführung im Eingang der Ligerzer Kirche. Schliesslich hat Tilo Lander den Medien versprochen, die Schlafstatt an einem historischen Ort zu hinterlassen. Von einer Telefonkabine aus am Bielersee informiert der Entführer die Redaktion der TV-Sendung «DRS aktuell». Dann flüchtet er ins Ausland. Tilo Lander hat jetzt richtig Angst.


Fernsehen verfolgt die Polizei
Dort wartet er der Dinge, die da kommen. Tatsächlich wird die entführte Liege schneller als geplant von einem Winzer entdeckt; dieser informiert subito die Polizei. Die Polizei lädt Bett samt Himmelsdach in ihr Auto. Die «DRS aktuell»-Journalisten kommen zu spät: Sie sehen das Polizeiauto davonfahren –¬ und verfolgen die Polizei samt Bett bis auf die Insel.


Was wurde da eigentlich entführt?
Der Kriminalfall hat somit ein einigermassen gutes Ende gefunden: Das Bett ist zurück im Kloster, der Entführer wurde nie verhaftet. Bleibt die Frage: Hat die Aktion überhaupt etwas bewirkt? Tilo Lander wirkt nachdenklich: «Möglicherweise wurden die Bernburger etwas für die Natur sensibilisiert. Die Spanisch-Brötli-Bahn wurde nicht gebaut.» Pause, Tilo Lander nimmt noch einen Schluck Bier, jetzt wird er energisch: «Käme nochmals jemand auf die Idee, eine Spanisch-Brötli-Bahn auf dem Heidenweg zu bauen: Dann würde ich Rousseaus Bett ein drittes Mal entführen!»

Jean-Jacques Rousseaus Bett? Wie in jedem guten Krimi kommt am Ende das verblüffende Finale. Denn was damals niemand wusste: Jean-Jacques Rousseaus Schlafstatt samt Himmelsdach wurde nie entführt.

Das Bett ist eine Kopie, angefertigt in den 40er-Jahren. Das Original steht in einem Museum in Genf.

Nah ans Wasser gebaut: Die Wellen spülen die Erde rund um die Wurzeln weg.

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