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Métairie Morat

Wo eine Grosstierärztin die Hirtin ist

200 Rinder versorgen die Hirten auf der Métairie Murten, das ist ein Chasseral-Rekord. Diese Alp ist die einzige in der Region, die nur zu Fuss oder mit dem Velo erreicht werden kann. Das verleiht diesem versteckten Ort einen besonderen Reiz.

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Lotti Teuscher

Sie versteckt sich im V-förmigen grasgrünen Hochtal Combe à Maillet, nur anderthalb Kilometer vom Hotel Chasseral entfernt und dennoch unsichtbar. Denn zwischen ihr und dem Chasseral ragt der scharfe Rücken des Petit Chasseral auf: ein schlafender Drache mit Zacken aus Fels auf dem Rücken. Sie liegt abseits der tausendfach begangenen Touristenpfade, sie wird nur von nur Wanderern oder Bikern besucht – mit dem Auto zur Métairie Morat fahren, ist den Bauern vorbehalten, die dort 220 Rinder sömmern – Chasseral-Rekord.

Ist die Métairie Morat ein Mauerblümchen im Schatten bekannter Alpwirtschaften? Oder eine spröde Schönheit, die entdeckt werden will?

 

Die Mysteriöse
Als die Hirten Simone Bleeker und Erik Diks die Métaire zum ersten Mal sahen, umfangen von Nebel, dachte sie, die Alp habe etwas Mysteriöses. Die Métairie klebt am Hang des Murtenberglis vis à vis des Petit Chasseral; 200 Meter unterhalb der dritten Krete dahinter, die dem höchsten Berg im Berner Jura seine unverwechselbare Topografie verleihen. Ihr graues Dach hat die gleiche Farbe, wie die verwitterten Kalksteinbrocken am Hang. Im Gegensatz zu allen anderen Alpen liegt die «Murten» nicht auf einer Kuppe, sondern im Hochtal der Combe à Maillet.

Geführt wird sie von einem holländischen Paar, also geborenen Flachländern. Dennoch – die beiden leben und lieben die Berge. Nach Jahren hoch oben in den Alpen im Bündnerland und oberhalb der Verzasca im Tessin, ist der Chasseral für Erik Diks und Simone Bleeker zwar nur ein Bergli. Aber ein ideales.

Denn seit zweieinhalb und anderthalb Jahren gehören Malte und Jarre zur Familie. Ziel der Eltern war es, den Kindern eine Umgebung zu bieten, wo sie andere Menschen kennenlernen und gefahrlos die Welt entdecken können – einen Ort wie die Métairie Murten. Wenn sie nicht schlafen oder essen, spielen die beiden Buben fast immer draussen. Sie bauen aus einem Holzstück eine Wippe, schleppen irgendetwas ächzend von A nach B, spielen mit Hunden, Hühnern, Schweinchen.

Während sie erzählt, beobachtet Simone Bleeker 30 Rinder, die in der Nähe der Métairie weiden. Ein schwarz-weisses Gusti wird ausgiebig beschnuppert, ein Zeichen, dass das Rind stierig ist. Die Holländerin springt auf, treibt das Tier auf eine andere Weide. Stier und Kuh beschnuppern sich, dann springt der Stier auf – erfolglos. Er wird dem Rind nicht von der Seite weichen, bis er Erfolg hat; auf der Métairie Murten wird kein Gusti künstlich besamt.

 

Er will ja nur spielen
Der einjährige Stier, nicht grösser als die Gusti, macht seinen Job leidenschaftlich. Mit manchem Rind schliesst er Freundschaft, das Gusti trennt sich ab und zu von der Herde, um dem Stier über den Zaun hinweg Gesellschaft zu leisten. «Der Stier darf nicht vereinsamen», sagt Erik Diks. Nur 30 bis 40 der 220 Rinder deckt der Bulle pro Saison, die anderen sind bereits trächtig, wenn sie auf die Alp kommen. «Der Stier braucht viel Umgang mit Menschen und anderen Tieren.»

Ein Umgang, der Vorsicht erfordere, sagt Simone Bleeker: «Wir haben grossen Respekt vor dem Bullen.» Auch dann, wenn der Stier nur spielen will und eine Schubkarre herumwirbelt: «Er ist immerhin 600 Kilo schwer», ergänzt Erik Diks. Jede Saison bestimmen die Bauern einen anderen Jungstier für die Alp. Er darf bleiben, bis sein Verhalten auf die beiden erfahrenen Hirten unheimlich wirkt, weil das Testosteron ihn unberechenbar macht.

Einsamkeit auf einer Alp ist nicht nur für den Stier, sondern auch für Sennen ein Thema. Simone Bleeker sagt, sie schätze die vielen Nachbarn auf dem Chasseral. Nachbarn? Kein einziger Nachbar ist in Sichtweite. Die Métairie La Neuve ist einen Kilometer entfernt, die Métairie du Milieu drei, der Kleine Twannberg vier. Auf einer Alp sind dies keine Distanzen, man besucht sich gegenseitig.

 

Problem Gamsbildheit
Und diskutiert. Letztes Jahr war die Gamsblindheit ein Thema, fast 40 Tiere bei der Métairie wurden von Fliegen infiziert. Während erblindete Gämse abstürzen oder verhungern, werden Rinder behandelt – ein spürbarer Mehraufwand für die Sennen: Die kranken Gusti bleiben etwa eine Woche im Stall, werden mit Heu gefüttert, gepflegt, der Stall muss ausgemistet und neu eingestreut werden. Kranke Rinder auf der Métairie Murten haben allerdings ein einzigartiges Privileg, womöglich schweizweit: Simone Bleeker ist Grosstierärztin.

Die schwerste Arbeit wartet indes vor dem Alpaufzug: 21 Kilometer Zaun spannen, sei alles andere als eine Kleinigkeit, aber auch etwas Schönes, erzählt Erik Diks. Nach der Winterpause sind die Muskeln eingerostet, aber während des Zäunens spürt der Senn, wie die Kraft zurückkehrt. Als Privileg empfindet das Paar, dass ihm auf der Alp zwei Milchkühe zur Verfügung gestellt werden. Frische Milch für die Kinder, Rahm und Butter für die Gäste, Molke für die Schweine, jeder Tropfen wird verwertet.

Jeden Tag werden die Rinder durchgezählt; bei 220 Tieren keine Kleinigkeit. Simone Bleeker zeigt ihr Notizheft, in dem sie jede Nummer notiert hat, die sich auf den Glocken befinden. Um die Tiere herumgehen, wenn sie sich auf einem Haufen zusammendrängen, auf jede Glocke schauen, im Buch ein Häkchen machen – das braucht Zeit.
Die Weiden ablaufen, ist allerdings auch eine schöne Aufgabe. Denn die 260 Hektar Weide um die Métairie gehören zum Reizvollsten, was der Chasseral zu bieten hat. Steile Hänge, gespickt mit bizarr verwitterten Felsen, kleine Wälder, Tannen in Gruppen, Magerwiesen mit seltenen Blumen, scharfe Kreten mit Aussicht, ab und zu ein Murmeltier oder ein paar Gämsen. Ein wildes Gebiet, teilweise unzugänglich, auf dem Gusti, vor allem der Rasse Holstein, fit werden für ihr künftiges Leben als Hochleistungskühe.

«Es ist eine riesige Verantwortung, zu den Rindern zu schauen», sagt Simone Bleeker. «Es ist aber auch schön, das Vertrauen der Bauern zu fühlen, denn die Tiere hier oben sind ihre Zukunft.»

 

Abend- oder Morgenrot?
Seine schönste Zeit verbringt Erik Diks, wenn er bei einer Tasse Kaffee und einer Zigarette dem Sonnenaufgang zuschaut. Seine Frau liebt das Gegenteil: Abends auf dem Petit Chasseral dem Sonnenuntergang zusehen, versteckt hinter einem Steinbrocken. Denn die Rinder verhalten sich anders, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Allerdings trägt die die Mutter jeweils einen kleinen Gewissenskonflikt aus – um gleiche Zeit werden die Kinder geduscht und ins Bett gebracht. Wenn die Mutter oben auf dem Petit Chasseral sitzt, vom Vater: Eine klassische Arbeitsteilung kennt das holländische Paar nicht.

 

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Métairie Murten

- Die Sennen kochen mit Liebe und verlangen für das Essen nicht viel mehr als die Selbstkosten. Eine Spezialität ist das kalte Plättli, das mit Früchten ergänzt wird, weiter Simone Bleekers holländischer Apfelkuchen.

- Wanderung: Chasseral Hotel, Abstieg in Richtung Combe Grede, Combe à Maillet, Métairie Morat, Chasseral-Signalturm.

- Dauer: 2,15 Stunden.

- Höhenmeter: 300.

- Anreise Samstag und Sonntag: Bus ab Nods auf den Chasseral. LT

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