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Brügg/Bern

Wollte er ihr nur Angst machen – oder sie töten?

Weil er seine Ex-Frau lebensbedrohlich verletzt hat, hat das Regionalgericht 2019 einen Mann der vorsätzlichen Tötung schuldig gesprochen. Jetzt rollt das Obergericht den Fall noch einmal auf.

Mit einem Messer hat der Täter auf seine Ex-Frau eingestochen. Nur dank einer Notoperation hat sie überlebt. Symbolbild: Adobe Stock

Carmen Stalder

Acht Mal hat er auf sie eingestochen: in den Brustkorb, in den Bauch und in den Oberschenkel. Wäre die Ambulanz nicht so schnell vor Ort gewesen und wäre sie nicht so schnell operiert worden, wäre sie laut den Ärzten gestorben. Mehr als fünf Jahre sind vergangen seit dem lebensbedrohlichen Angriff, der im Juli 2016 in Brügg stattgefunden hat. Der Täter, ein heute 38-jähriger Türke, gab später vor Gericht an, er habe das Messer gezückt, weil seine Ex-Frau ihn beleidigt und angeschrien habe. Davor hätten sie eine schöne Beziehung miteinander geführt.

Sein Opfer sah das freilich etwas anders: Ihr Ex-Mann sei bereits während der Beziehung aufbrausend und aggressiv gewesen, er habe sie gewürgt, sie zum Sex gezwungen und ihre Töchter geohrfeigt. Auch nach der Trennung habe er sie über Monate hinweg aufgesucht, ihr hinterhertelefoniert und sie aus der Distanz beobachtet. Schliesslich kam es zur Eskalation: Er passte sie vor ihrer Haustür ab – und stach zu.

Halb so lange Haft

Vor zwei Jahren hat das Regionalgericht Berner Jura-Seeland den Mann wegen versuchter vorsätzlicher Tötung schuldig gesprochen. Vom Vorwurf der Vergewaltigung sprach ihn das Gericht dagegen frei (das BT berichtete). Die Freiheitsstrafe von acht Jahren sitzt der Täter seither auf dem Thorberg ab. Nun befasst sich die nächste Instanz mit dem Fall: Noch heute steht der Mann vor dem Obergericht in Bern. Dies, weil alle Parteien den Entscheid des Regionalgerichts weitergezogen haben. Besonders die Staatsanwaltschaft dürfte mit dem damaligen Urteil nicht zufrieden gewesen sein: Für versuchten Mord hatte sie 17 Jahre Gefängnis gefordert.

Zu Beginn der Verhandlung werden die 48-jährige Frau und ihre beiden Töchter befragt. Damit Täter und Opfer nicht aufeinandertreffen, muss der Türke den Saal verlassen. Ebenso seine Tochter, die der Verhandlung beiwohnt. Auch die Medien werden hinausgeschickt. Es bleibt also offen, wie es der Mutter und ihren Töchtern heute geht. Vor zwei Jahren machte die Anwältin geltend, dass es ihrer Mandantin körperlich und psychisch schlecht gehe. Sie könne nicht mehr arbeiten und habe bleibende Schäden an inneren Organen.

Erst Mitte Nachmittag ist der Täter an der Reihe. Mit einer Fussfessel und von zwei Polizisten begleitet wird er in den Saal geführt. Das Gericht befragt ihn zur Beziehung, die er mit dem späteren Opfer geführt hat, zur Trennung und zur Tat. Eine Übersetzerin übermittelt dem Gericht seine Antworten.

Abweichende Aussagen

Geht es um den verhängnisvollen Tag im Juli 2016, spricht der Täter davon, dass er seiner Ex-Frau zu Hilfe geeilt sei, als diese volle Einkaufstaschen aus ihrem Auto habe laden wollen. Er sei per Zufall vor Ort gewesen. «Und wenn Sie unterwegs waren, hatten Sie meistens ein Messer im Hosensack?», fragt Oberrichterin Franziska Bratschi und nimmt die Tatwaffe hervor – ein Messer mit knapp zehn Zentimeter langer Klinge. Auch das sei ein blöder Zufall gewesen, macht der Täter geltend. Die beiden hätten zu streiten begonnen, sie habe geschrien. «Ich habe es nur hervorgenommen, um ihr Angst zu machen.» Danach sei es einfach passiert. Die Aussage, wonach er seiner Ex-Frau habe helfen und sich mit ihr aussprechen wollen, löst bei der Oberrichterin Stirnrunzeln aus. «Das höre ich zum ersten Mal.»

Es ist nicht seine einzige Aussage, die von früheren Befragungen abweicht. Mal mag er sich nicht mehr erinnern, mal sollen sich die Dinge anders zugetragen haben als einst angegeben. Sogar mit seiner eigenen Tochter ist er nicht eins. Diese gab in einer früheren Befragung zu Protokoll, dass sie gemeinsam mit ihrem Vater draussen gewesen sei, als dessen Ex-Frau im Auto vorbeigefahren sei. Vor der Wohnung angekommen, sei der Vater auf seine frühere Partnerin losgesprungen. Davon will ihr Vater nichts wissen. Die nicht übereinstimmenden Aussagen begründet er damit, dass seine Tochter nach der Tat so durcheinander gewesen sei, dass sie falsche Sachen gesagt habe. Tatsächlich bekam sie den Angriff aus nächster Nähe mit – ebenso wie die ältere Tochter des Opfers.

Heute wird die Verhandlung fortgesetzt, es stehen die Plädoyers an. Die Urteilsverkündung ist für Montag angesetzt.

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