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Titelgeschichte

Zu Besuch bei Herr und Frau Chlous

Wie lebendig der Geist des Samichlous ist, spürt man, wenn man Kinder dabei betrachtet, wie sie den Mann mit dem weissen Bart ehrfürchtig anschauen. Oder wenn man sich in Lyss in die Stube von Marianne und Martin Graber setzt.

Copyright: Raphael Schaefer / Bieler Tagblatt

Parzival Meister

Und plötzlich ist er da, dieser Moment, in dem man spürt: Ja, der Samichlous lebt. Und zwar genau hier. An diesem Küchentisch in einer Lysser Wohnung. Denn hier sitzen Marianne und Martin Graber, sie 66-jährig, er 69 Jahre alt. Nein, wenn man die beiden einfach so betrachtet, denkt man nicht per se an Herrn und Frau Samichlous. Sie, mit den kurzen grauen Haaren, die den Besuch freundlich begrüsst, an den Küchentisch bittet und Kaffee serviert, strahlt durchaus Herzlichkeit aus. Und ihn, mit seinem langen, grauen Schnauz und der tiefen Stimme, kann man sich zwar durchaus in der Rolle dieses Mannes vorstellen, der einem als Kind ganz schön Respekt eingeflösst hat. Aber es fehlen in diesem Moment einfach die optischen Attribute. Kein roter Mantel, kein weisser Bart, kein grosses, schwarzes Buch; und im Garten ist auch kein Eseli zu sehen.

Es sind diese Dinge, die wir mit dem Samichlous verbinden. Und ohne diese optischen Merkmale ist es auch schwierig, den Samichlous zu erkennen.  Ausser, man hört Marianne und Martin Graber zu. Der Moment, in dem man es spürt, er kommt nicht dann, wenn sie von ihren unzähligen schönen Erlebnissen berichten. Er kommt in dem Moment, wenn Marianne Graber etwas ernster wird, einen anschaut und sagt: «Die Leute wissen ja, was wir tun. Und dann fragt man mich manchmal: ‹Seid ihr immer noch am chlöisle?› Sie sagen das mit einem ironischen Unterton. Manche belächeln uns. Das tut schon weh. Denn diese Leute, sie sehen nicht, was alles dahinter steckt.»

Was dahinter steckt, ist in erster Linie ein grosser organisatorischer Aufwand. Marianne und Martin Graber führen die Samichlousen-Gruppe-Seeland, die 1989 von Martin Graber gegründet wurde. Die Gruppe besteht aus drei Samichlous- und Schmutzli-Paaren, sechs Männern also – und natürlich Marianne Graber. Sie schlüpft, je nach Betrachtungsweise, in die Rolle der Frau Samichlous oder Mutter Samichlous. Wenn es kurzfristig etwas zu nähen gibt an einem Kostüm, ist sie zur Stelle. Wenn einer der Chlöise etwas nervös ist vor seinem Auftritt, redet sie ihm gut zu. Wenn Schmutzli und Samichlous nach getaner Arbeit am Abend nach Hause kommen, hat sie bereits Kerzen angezündet, serviert Kaffee und Weihnachtsgebäck und setzt sich mit den Männern hin, um den Geschichten zu lauschen, die «ihre» Chlöise zu erzählen haben.

In diesem Jahr hat die Samichlousen-Gruppe-Seeland insgesamt 143 Aufträge angenommen. Das bedeutet, dass jedes Chlouser/Schmutzli-Paar fast 50 Auftritte absolviert, verteilt auf rund drei Wochen. Anfragen hätte es noch mehr gegeben. Aber mehr liegt nun mal nicht drin. Martin Graber führt den Besuch ins Arbeitszimmer, wo auf einer Tafel alle Auftritte vermerkt und in verschiedenen Farben angestrichen sind. Die Planung, sie ist das A und O. Bei einem so dichten Programm muss alles stimmen, sonst würde  dies den ganzen Zeitplan durcheinander bringen. Dazu gehört auch, die Auftrittsorte im Vorfeld zu rekognoszieren. Wo gibt es Parkmöglichkeiten, die von der Wohnung aus nicht sichtbar sind? Die Kinder sollen den Samichlous schliesslich nicht aus dem Auto aussteigen sehen. Und ganz wichtig sind natürlich die Steckbriefe. Wenn der Samichlous in sein schwarzes Buch blickt, steht da ja bekanntlich alles über das Kind, das er gerade vor sich hat. Das alles gehört zu der Arbeit, die Marianne und Martin Graber jedes Jahr wieder verrichten.

Mehr als ein Mann mit Kapuze
Doch wenn Marianne Graber sagt, die Leute, die sie belächeln, würden nicht sehen, was alles dahinter steckt, meint sie nicht unbedingt den organisatorischen Aufwand, den sie und ihr Mann betreiben. Es geht um den Stellenwert des Samichlous. Um das, was er den Kindern nach wie vor bedeutet. Ein Punkt, den wir Erwachsenen oft vergessen. Wir sehen im Samichlous einen Mann mit aufgeklebtem Bart und roter Kapuze. Für kleine Kinder ist er aber viel mehr. Er verkörpert eine gewisse Magie und geniesst ihren Respekt, der Mann, der alles hört und alles sieht. Es hat für Kinder eine grosse Bedeutung, diesen Mann zu treffen. Ihm ein Versli vorzutragen, ihm zu versprechen, das Zimmer häufiger aufzuräumen, ihm seine «Nuggis» abzugeben, im Wissen, damit das «Nuggele» endgültig zu beenden – all das tun sie nicht einfach für einen Mann mit roter Kapuze, nein, sie tun dies für den Samichlous.

Diesen Zauber zu erhalten, das ist Marianne und Martin Graber wichtig. Ihre Samichlousen-Gruppe ist denn auch keine Spass-Truppe. Es sind Leute, die diesen Brauch sehr ernst nehmen und viel Zeit investieren, ihn lebendig zu halten. Und dabei geht es um Details. Martin Graber erzählt von einem Kind am Aarberger Weihnachtsmarkt, das festgestellt habe, dass der Schmutzli im Laufe des Tages gewachsen ist. Tatsächlich gab es eine Wachablösung. Und der neue Schmutzli war etwas grösser als sein Vorgänger. «Wir glauben es zwar nicht, aber Kinder merken so etwas. Kinder erkennen viel mehr, als wir denken», sagt Martin Graber. Wenn eine Familie jedes Jahr den Samichlous und Schmutzli bestellen, achten Grabers darauf, dass sie auch jedes Jahr vom gleichen Chlouser/Schmutzli-Gespann besucht werden. Nicht nur, damit die Kinder keine Veränderung bemerken. Der Chlous kann so eine Art Beziehung zu den Kindern aufbauen. Er erlebt die Entwicklung der Kinder mit und kann besser auf sie eingehen.

Es ist denn auch nichts als selbstverständlich, dass Martin Graber die eigenen Enkelkinder nicht als Samichlous besucht. Sie könnten ihn erkennen. Wenn nicht an den Augen, dann vielleicht an der Stimme. Und die Enkelkinder sind auch der Grund, wieso an diesem Montag in der Wohnung der Grabers nichts an den Samichlous erinnert. Es ist Grosi- und Grosspapi-Tag. Alle Chlouser-Utensilien sind im Arbeitszimmer untergebracht. Und dieses bleibt an diesem Tag verschlossen.

Blick ins verschlossene Zimmer
Würden die Kinder einen Blick ins Zimmer erhaschen, sie sähen, wie an einer Kleiderstange schön aneinandergereiht die Kutten hängen: eine Samichlaus-Robe neben einem Schmutzli-Mantel; und das in dreifacher Ausführung. Die Kutten müssen trocknen, beim letzten Auftritt war es feucht. Auf dem Schrank stehen Kartonkisten mit Bärten. Keine billigen Polyester-Varianten, sondern Bärte aus Büffelhaar, für die man pro Stück mehrere hundert Franken bezahlt und die regelmässig aufgefrischt werden.

Am heutigen Samichlous-Tag sind die Enkel nicht zu Besuch – und die Wohnung von Marianne und Martin Graber verwandelt sich wie jedes Jahr in die Samichlous-Hauptzentrale: Hier werden die Einsätze des Tages nochmals durchgegangen, die Steckbriefe sortiert, hier greifen die Männer zur Schminke und zum Bartkleber, hier ziehen sie sich um, hier werden sie von Marianne Graber verpflegt. Der Grund, wieso die Gruppe nicht aufstocken möchte, um noch mehr Aufträge annehmen zu können, ist simpel: Grabers wollen keine andere Hauptzentrale als ihre Wohnung. Und für noch mehr Chlöise und Schmutzlis, die sich umziehen und schminken, ist kein Platz.

Die Verwandlung
Mariane Graber sagt zwar: «In dieser Zeit haben wir fast keine Privatsphäre.» Doch bei diesem Satz schwingt nichts Negatives in ihrer Stimme mit. Man kennt und vertraut sich. Ist mal niemand zu Hause, wie früher zum Beispiel, als Grabers noch nicht pensioniert waren, überliessen sie den Kollegen auch einfach ihre Hausschlüssel. Marianne Graber sagt, sie fühle sich wohl unter den Chlöisen und Schmutzlis. Sie schaut den Männern gerne zu, wenn diese sich umziehen. Wenn sie davon spricht, schwingt Stolz mit: «Wenn sie in ihre Kostüme schlüpfen, tauchen sie in die Rolle ein. Ich sehe, dass sie das, was sie tun, aus Freude und Überzeugung machen.» Martin Graber nickt. Und ergänzt: «Sobald ich mich zu schminken beginne, setze ich mich bereits mit meiner Rolle auseinander. Ich denke an die Steckbriefe der Kinder, die wir besuchen und bereite mich im Kopf auf die Auftritte vor.» Und in dieser Rolle bleibe er dann auch. Sobald er und seine Kollegen die Wohnung verlassen, sind sie Chlöise und Schmutzlis. Es wird nicht geraucht und nicht getrunken. Der Bart wird bei der Verpflegung nicht abgenommen. Es ist, als wäre es der echte. Erst wenn alle Familien besucht, alle Verse angehört, die Jutesäcke leer sind und die Herren zu Marianne Graber in die Wohnung zurückkehren, erst dann werden sie wieder zu denen, die sie vorher waren.

Und so werden sie auch heute Abend nach getaner Arbeit im Wohnzimmer der Grabers zusammensitzen und über das reden, was sie alles erlebt haben. Über artige Kinder, über schwierigere Fälle, über Schönes, über Berührendes. «Dieser Austausch ist ihnen wichtig», sagt Marianne Graber. Was die Männer erleben würden, gehe nicht einfach an ihnen vorbei. Und es geht dabei nicht nur um Erlebnisse mit Kindern. Die Besuche in Altersheimen zum Beispiel seien immer speziell, erzählt Martin Graber. Man spüre das Bedürfnis der älteren Leute, sich auszutauschen. Auch für sie sei der Samichlous etwas Besonderes. Und wenn man dann an einem Bett stehe, und die Person die Hand des Samichlous nicht mehr loslassen wolle, dann gehe das einem sehr nahe.

Angst ist das falsche Mittel
Wie gross glauben sie denn, ist der Einfluss der Rolle, die sie einnehmen? Kann der Samichlous auch heute noch etwas bewirken? Ja, sagen beide. Aber es sei ganz klar festzuhalten, dass der Samichlous nicht für die Erziehung der Kinder verantwortlich sei. «Das ist Sache der Eltern, und das kann ihnen der Chlous nicht abnehmen», sagt Martin Graber. Aber Einfluss, ja, den habe der Samichlous schon, ergänzt Marianne Graber. Als Beispiel nennt sie die vielen Nuggis, die die Chlöise bei ihren Besuchen einziehen und bei den Kindern damit einen Wandel bewirken. Sie sagt es so: «Der Samichlous ist eine Autoritätsperson, vor der man Respekt hat.»

Respekt, ja, den müssten die Kinder haben. Aber sie dürfen den Samichlous nicht fürchten, sagt Martin Graber. Diesbezüglich hat sich die Chlouser-Rolle in den vergangenen Jahren verändert. Früher wurde den Kindern oft gesagt, der Schmutzli packe sie in den Sack, wenn sie nicht artig waren. Das sei aber nicht der richtige Weg, etwas zu erreichen, sagt Martin Graber. Man versuche jeweils, das Positive in den Vordergrund zu stellen. Und man sage einem Kind auch nicht, was es schlecht mache, sondern was es besser machen könne. Auch sei ihm daran gelegen, ein Kind nicht vor allen blosszustellen. Dann flüstere er dem Kind lieber etwas ins Ohr, oder lasse einen Punkt ganz weg, als vor allen etwas laut zu sagen, was dem Kind peinlich sein könnte.

Und was sind denn nun die Top 3 der Dinge, die der Samichlous den Kindern im Seeland mit auf den Weg gibt? Martin Graber lacht. Denn manches scheint sich nie zu ändern:

•Dein Zimmer könnte ordentlicher sein.
•Du solltest mehr Gemüse essen.
•Ihr solltet euch nicht so oft streiten.

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