Sie sind hier

Abo

Kantonswechsel

Zwischen stiller Freude und zornigen Worten

Die einen reagierten leise und zufrieden, die anderen laut und empört: Das bernjurassische Städtchen Moutier
ist nach annullierter Abstimmung zum Kantonswechsel gespaltener denn je. Dennoch blieb es gestern auf den Strassen ruhig.

Wut und Frust: Moutiers separatistischer Stadtpräsident Marcel Winistoerfer (CVP) zeigte sich im Rathaus enttäuscht. Bilder: Beat Mathys
  • Video
  • Umfrage
  • Dossier

Stefan von Bergen,
 Quentin Schlapbach
 und Martin Bürki

Im Café de l’Ours, im Zentrum von Moutier, kostet die Tasse Kaffee noch 3.50 Franken. An diesem Montagabend ist die Welt hier aber alles andere als in Ordnung. Betretene Gesichter, wo man auch hinschaut.

Dutzende Projurassier haben sich nach Feierabend im – und noch zahlreicher vor – dem Lokal versammelt, um gemeinsam eine Livesendung des welschen Radios mitzuverfolgen. Das Thema: die Ungültigerklärung der Abstimmung vom Juni 2017.

Für einen kurzen Ausbruch von Euphorie sorgt einzig der Einmarsch von Moutiers separatistischem Bürgermeister Marcel Winistoerfer (CVP) im Café. Er wird gefeiert wie Roger Federer beim Betreten eines Tennisstadions. Als hingegen Regierungsrat Pierre-Alain Schnegg (SVP) live aus Bern zugeschaltet wird, können viele ihre Emotionen nicht mehr im Zaun halten. Höhnisches Lachen, Zwischenrufe, die Enttäuschung weicht der Wut.

Schon am Morgen früh hatte sich das projurasssische Lager in Moutiers Hôtel de la gare versammelt. Kurz darauf erfuhren sie, dass die bernjurassische Regierungsstatthalterin Stéphanie Niederhauser das Ja zum Wechsel Moutiers zum Kanton Jura annulliert hatte.

Als der Entscheid durchsickerte, waren dort enttäuschte Gesichter zu sehen. Für den Sprecher der Organisation Moutier Ville jurassienne, Valentin Zuber, ist die Jura-Frage nach dem Entscheid wieder offen. «Wir werden den Kampf gegen die Regierung und ihre Vertreter wieder aufnehmen», sagte Zuber, der gleichzeitig zur Ruhe aufrief. Gegenüber dieser Zeitung zeigte er sich überzeugt, dass die Statthalterin einen politischen Entscheid gefällt habe.

Pierre-André Comte, Generalsekretär des Mouvement autonomiste jurassien (MAJ), behauptete gar, sie habe auf Anweisung der bernischen Regierung entschieden.

Comte bezeichnete den Entscheid als eine «Schande für die Demokratie». Zuber kündigte eine grosse Demonstration des separatistischen Lagers an, die am Freitag stattfinden wird.

Stadtpräsident Winistoerfer zeigte sich an einem Point de Presse im Rathaus des Städtchens enttäuscht über den Entscheid. «Ich bin verletzt und traurig für unsere Gemeinde und unser Land», erklärte er. Er könne nicht verstehen, dass ein vom Volk gefällter Entscheid gekippt werde. Zu den Vorwürfen der Statthalterin, er selber habe vor der Abstimmung parteiische Stellungnahmen abgegeben und die Weisung der Zurückhaltung missachtet, sagt Winistoerfer: «Ich habe nur die Berner Lügen korrigiert.»

Die Regierung des Kantons Jura teilte in ihrem Communiqué «die grosse Enttäuschung all jener, die einen Transfer Moutiers zum Kanton Jura fordern». Sie werde aber weiterhin an Moutiers Übertritt ins «jurassische Haus» mitarbeiten. Die bernjurassische Statthalterin bringe auf ihren 88 Seiten Begründung keine Belege für ein Fehlverhalten von Moutiers Gemeindebehörden vor. Man möge «eine gewisse Ungeschicklichkeit in deren Interventionen feststellen», diese hätten aber kaum das Ergebnis ändern können, findet die jurassische Regierung. Wie das separatistische Lager in Moutier wirft auch sie der Statthalterin vor, sie habe sich «von politischen Erwägungen» leiten lassen.


«Wir feiern im Stillen»
Ganz anders war die Gemütslage gestern natürlich beim Sieger des Tages, Patrick Roethlisberger. Der FDP-Lokalpolitiker und Kopf des probernischen Komitees Moutier Prévôté hatte mit seinem Lager die nun gutgeheissenen Beschwerden eingereicht. Roethlisberger hielt sich zurück: «Ja, wir sind glücklich und haben gewonnen, aber wir feiern nur im Stillen.» Es sei schade, dass es wegen der Unregelmässigkeiten bei der Abstimmung zur Wahrung der Demokratie überhaupt so weit kommen musste.

In seinem Communiqué spricht das probernische Komitee von einem «Fiasko für die autonomistischen Leader» und ruft dazu auf, bei Moutiers anstehenden Gemeindewahlen vom 25. November keine «durch eine Ideologie geblendete Kandidaten» zu wählen.

Die Behauptung der Separatisten, die Statthalterin habe einen politischen Entscheid gefällt, hält Roethlisberger für unehrlich: «Frau Niederhauser hat einen juristisch-administrativen Entscheid gefällt. Hätte sie im Sinn der Separatisten entschieden, hätten sie ihr keine politischen Motive unterstellt.» Nicht als Sieger fühlt sich nach dem Entscheid Pierre Alain Schnegg, Präsident der Jura-Delegation des Berner Regierungsrats. Dass es trotz zahlreicher Vorkehrungen am 18. Juni 2017 «Unregelmässigkeiten und undemokratisches Verhalten» gegeben habe, sei unerfreulich, erklärt Schnegg im Namen der Berner Kantonsregierung. Vorwürfe, wonach die Statthalterin einen politischen Entscheid gefällt habe oder gar von der Berner Regierung beeinflusst worden sei, weist Schnegg dezidiert zurück: «Der Regierungsrat respektiert die Gewaltenteilung. Ebenso die Möglichkeit, den Entscheid der Statthalterin anzufechten.» Schnegg beteuert, er habe mit der Statthalterin nie in Zusammenhang mit dem Entscheid telefoniert.

Der Regierungsrat werde vorderhand nicht über einen Wechsel von Moutier zum Kanton Jura verhandeln, das habe man mit dem Jura so vereinbart, sagt Schnegg. Gleichzeitig appelliert der Regierungsrat an alle Beteiligten, Ruhe zu bewahren. Mit der jurassischen Regierung will er «den Dialog im Sinne der freundeidgenössischen Grundsätze fortsetzen».

Von den Behörden von Moutier erwartet der Kanton Bern, dass sie die öffentliche Ordnung sicherstellen und ihren Anteil zur Beruhigung der Lage leisten. Schnegg räumt ein, dass das Klima im gespaltenen Städtchen Moutier belastet ist, sieht aber dafür nicht die Statthalterin, sondern politische Provokateure in der Verantwortung.

Aufgebracht, aber nicht ausgeflippt: Separatisten versammelten sich gestern vor dem Café de l'Ours in Moutier.


Sommarugas Appell
Bundesrätin Simonetta Sommaruga (SP), als Justizministerin oberste Beobachterin des Jura-Konflikts, hoffte, dass die Aufhebung des Urnengangs von 2017 in der Region «mit Fassung aufgenommen wird». Die Bundesrätin rief in einer Mitteilung zur Ruhe auf. Sie betont, dass der Entscheid nicht endgültig sei. Er sei erst in erster Instanz erfolgt und könne angefochten werden. Sommaruga erklärt auch, noch in diesem Monat zusammen mit der bernischen und der jurassischen Kantonsregierung den Entscheid der Statthalterin vertieft prüfen zu wollen. Dies im Rahmen der nächsten sogenannten Tripartiten Konferenz, also einem Treffen von Bund mit Vertretern der beiden Kantone.

In Moutier blieb es trotz emotional aufgeladener Stimmung am Abend friedlich. Kämpferisch waren nur die Parolen und Unabhängigkeitshymnen, die im Café de l’Ours angestimmt wurden. An jeder Kreuzung waren gestern zwei Berner Ordnungskräfte postiert. An der grossen Kundgebung, zu der die Separatisten für den Freitagabend aufgerufen haben, wird die Polizei wohl noch präsenter sein.


*******************


Vor Laufental-Abspaltung war Abstimmung ungültig
Die gestrige Annullierung der Moutier-Abstimmung vom 18. Juni 2017 erregt Aufsehen. Es ist aber nicht das erste Mal, dass im Jura eine umstrittene Abstimmung annulliert wird. Am 11. September 1983 mussten die Bewohner des auf Basel ausgerichteten Laufentals an der Urne entscheiden, ob sie bei Bern verbleiben oder sich dem Kanton Baselland anschliessen wollten. Nötig geworden war die Abstimmung, weil das bernische Laufental durch die Gründung des Kantons Jura 1979 zu einer vom übrigen Berner Kantonsgebiet abgeschnittenen Exklave geworden war.

Fast 57 Prozent der Bewohner stimmten in jenem Herbst für einen Verbleib bei Bern. Kaum ein Jahr später platzte die Berner Finanzaffäre, und es kam ans Licht, dass der Kanton Bern die «Aktion bernisches Laufental» aus einer schwarzen Kasse widerrechtlich unterstützt hatte. Das Bundesgericht annullierte darauf die Abstimmung und ordnete ihre Wiederholung an. Am 12. November 1989 entschieden sich die Laufentaler dann mit einem hauchdünnen Mehr von 307 Stimmen bei fast 9000 abgegebenen Stimmen für einen Wechsel zu Baselland. Die Berntreuen von Moutier können sich also an die Hoffnung klammern, dass eine wiederholte Abstimmung nicht zwangsläufig gleich ausgeht wie die erste. Und hoffen darf man nach Laufentaler Vorbild womöglich auch darauf, dass sich rund um Moutier der Konflikt eines Tages doch noch endgültig beilegen lässt. Denn inzwischen sind im Laufental die Gräben zwischen Berntreuen und Pro-Baselbietern, welche einst ganze Dörfer, Firmen und Familien entzweit hatten, grösstenteils zugeschüttet. Was nicht heisst, dass es die beiden Lager nicht mehr gibt. Aber sie haben gelernt, miteinander umzugehen. svb



*******************


Moutiers Behörden haben Propaganda betrieben

Die Regierungsstatthalterin des Berner Jura begründet ihren spektakulären Entscheid unter anderem mit «Problemen des Abstimmungstourismus» bei den projurassischen Abstimmungssiegern von 2017.

Ihr Entscheid ist spektakulär: Stéphanie Niederhauser. Bild: Keystone

Die bernjurassische Regierungsstatthalterin Stéphanie Niederhauser (FDP) dürfte für die Begründung ihres Entscheides, die Abstimmung vom 18. Juni 2017 in Moutier für ungültig zu erklären, jedes Wort einzeln gewogen haben.

Niederhauser verweist darauf, dass das Bundesgericht in seiner jüngsten Rechtsprechung «Verstösse gegen die Pflichten von Behörden in Bezug auf Objektivität, Transparent und Verhältnismässigkeit schwerwiegend berücksichtigt» habe.

Das Gericht habe gar Annullierungsentscheide gefällt. Die Statthalterin spielt damit auf einen Bundesgerichtsentscheid vom 7. Mai dieses Jahres an, der auch in Moutier zu reden gab. Das oberste Schweizer Gericht annullierte da die Fusionsabstimmung von drei Vorortsgemeinden mit der Stadt Neuenburg. Es hiess die Beschwerde von drei Bürgern der Gemeinde Peseux gut, die kritisierten, dass in ihrer Gemeinde Fusionsgegner direkt vor dem Abstimmungslokal mit einem Stand präsent waren.


Winistoerfers Brief
Die Statthalterin hat in diesem Sinn nun auch parteiische Stellungnahmen in Moutier, etwa in einem Schreiben des jurafreundlichen Stadtpräsidenten Marcel Winistoerfer (CVP) an die Eltern der Schülerinnen und Schüler, geahndet. Stéphanie Niederhauser führte in ihrem Communiqué überdies «Probleme des Abstimmungstourismus, fiktive Wohnsitze und schwerwiegende Mängel bei der Organisation der Abstimmung vom 18. Juni 2017» als Gründe für ihren Annullierungsentscheid an. Ohne diese Mängel hätte die Abstimmung anders ausfallen können, schreibt Niederhauser. Explizit erwähnt sie Unsauberkeiten im Stimmregister. Die Gemeinde Moutier hatte dieses erst am Tag vor der Abstimmung den Wahlkontrolleuren des Bundesamts für Justiz herausgerückt.

So konnten die Vertreter des Bundes zwar noch sicherstellen, dass nur einen Stimmausweis hatte, wer im Register war. Ob aber alle im Verzeichnis aufgeführten Bürger damals legal in Moutier Wohnsitz hatten, konnte nicht mehr überprüft werden, erklärt Jean-Christophe Geiser, Jura-Delegierter im Bundesamt für Justiz. Abstimmungstourismus ist nicht generell verboten. Wer seine Papiere verlegt, muss sich einfach an die Regel halten, dass er in Gemeindeangelegenheiten erst drei Monate nach der Wohnsitznahme abstimmen darf. Eine Gemeinde ist verpflichtet, zu überprüfen, ob Zuzüger auch wirklich im Ort wohnen. Das projurassische Lager von Moutier hat nun die Möglichkeit, den Entscheid vor dem bernischen Verwaltungsgericht und anschliessend vor dem Bundesgericht anzufechten. Diesen Rechtsweg bestätigt Jean-Christophe Geiser.


Weiterzug nach Strassburg?
Das Komitee «Moutier Ville jurassienne» hat im Vorfeld einen Weiterzug an die höheren Gerichte angekündigt. Gestern legte sich dessen Sprecher Valentin Zuber noch nicht fest, man müsse erst die ausführliche Begründung der Statthalterin analysieren. Auch Stadtpräsident Marcel Winistoerfer will mit dem Gemeinderat erst im Laufe der Woche entscheiden, ob man an die nächsthöheren Gerichtsinstanzen gelangt. Fakt ist: Rufen die Separatisten am Ende gar den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg an, wird es bis zu einem rechtskräftigen Entscheid noch Jahre dauern.

Das projurassische Lager könnte auch auf einen Weiterzug verzichten und sich gleich auf eine erneute Abstimmung in Moutier konzentrieren. Wer wann eine Wiederholung anordnen kann, war allerdings gestern laut dem Berner Regierungsrat Pierre Alain Schnegg (SVP) offen.

Sicher ist, dass nicht das Berner Verwaltungsgericht für eine Neuansetzung der Abstimmung zuständig ist, wie eine Nachfrage ergab. Da es sich um eine kommunale Abstimmung handelt, dürfte die Verantwortung in erster Linie bei der Gemeinde Moutier liegen. (svb)

Ziehen die projurassischen Separatisten den Entscheid bis Strassburg weiter, wird es noch Jahre dauern, bis über Moutiers Kantonszugehörigkeit Klarheit herrscht. Stefan von Bergen

Verfrühter Jubel der Pro-Jurassier: Der Wechsel der Stadt Moutier zum Kanton Jura ist annuliert. Bild: Keystone


*******************


«Dramatisch ist 
das nicht»

Biel habe sich im Abstimmungskampf im Herbst 2017 in «aktiver Neutralität» geübt, wie Stadtpräsident Erich Fehr (SP) sagt. Es war aber immer klar: Einen Kantonswechsel Moutiers will in Biel niemand. Dass es nun zu einer Wiederholung der Abstimmung kommen könnte, findet Fehr trotzdem bedauerlich.

Erich Fehr, Stadtpräsident Biel


Erich Fehr, die Jurafrage nimmt auf juristischer Ebene eine Zusatzrunde. Ist das im Sinne der Stadt Biel?
Erich Fehr: Biel hat in der ganzen Jurafrage und auch im Vorfeld der Moutier-Abstimmung immer die Position der aktiven Neutralität vertreten. Davon weichen wir auch nach dem Entscheid der Regierungsstatthalterin nicht ab. Wichtig scheint mir, etwa im Vergleich zu Katalonien, dass es sich hier um einen 25-jährigen Prozess handelt, der verschiedene Abstimmungskaskaden vorsah und logischerweise auch immer die Möglichkeit einer Beschwerde beinhaltet hat. Jetzt hat die zuständige Instanz entschieden, das Abstimmungsresultat zu annullieren, was wiederum an die nächsthöhere Instanz weitergezogen werden kann.


Für die Zusammenarbeit mit dem Berner Jura, die Biel intensivieren will, dürfte diese Entwicklung nicht förderlich sein.
Der Entscheid ist insofern bedauerlich, weil damit die Gegend nicht wirklich zur Ruhe kommt und man in den neuen Strukturen nicht so vorwärtsmachen kann, wie das wünschenswert wäre. Dramatisch für die Zusammenarbeit mit dem Berner Jura ist das aber nicht. Letzten Mittwoch haben wir in Diesse die neue Regionalorganisation Jura bernois.Bienne gegründet, ein Pendant zum Verein Seeland.biel/bienne. Sie wird die Arbeit am 1. Januar 2019 aufnehmen. Damit haben wir eine gute Plattform für die Zusammenarbeit der Gemeinden, bei der übrigens auch Moutier Mitglied ist. Wir wissen aber aus der Vergangenheit, dass die ungeklärte Moutier-Frage immer wieder für Unruhen verantwortlich war und die Zusammenarbeit belastet hat. Das kann wieder passieren, mit der neuen Struktur sollte das Risiko aber kleiner sein.


Die Haltung der Bieler Regierung im Abstimmungskampf war klar ersichtlich: Man würde es begrüssen, wenn Moutier beim Kanton Bern bleibt. Ist das Ergebnis denn jetzt nicht eine zweite Chance?
Das ist nicht zutreffend, ich habe es im Stadtrat einmal so gesagt: Niemand wünscht sich, dass Moutier den Kanton wechselt. Aber über all dem thront das Recht der Selbstbestimmung im Rahmen eines demokratischen Prozesses. Der hat hier stattgefunden und den gilt es zu akzeptieren. Es ist klar: Eine Abstimmung wiederholen zu müssen, ist nie gut. Besser ist immer, wenn das Volk gesprochen hat und man feststellen kann, dass der Abstimmungskampf und das Verfahren korrekt waren. So gesehen ist dieser Entscheid überhaupt keine gute Nachricht, gehört aber zum Rechtsstaat.

Interview: lsg

Nachrichten zu Seeland »