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Einen Theaterabend lang in die Haut eines Kriegsflüchtlings schlüpfen

Das örtliche Tourismusbüro lanciert ein Stück zum «Concentrationslager Büren», in dem während des Zweiten Weltkriegs polnische Soldaten interniert waren. Beim Szenenspiel «Es stolzes Wärch» unter freiem Himmel schaut das Publikum nicht bequem sitzend zu, sondern geht im wahrsten Sinn des Wortes mit.

Proben-ENdspurt: Sandra Sieber erhält von Autorin und Regisseurin Iris Minder letzte Anweisungen. Sie ist die einzige Berufsschauspielerin, alle übrigen Darstellerinnen und Darsteller sind Laien. Stefan Leimer
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Silvia Stähli-Schönthaler/Beat Kuhn

«Wir machen heute Abend eine Probe à l’italienne, das heisst, wir spielen einzelne Sequenzen nur kurz durch», sagt Iris Minder, die mit ihrem Regiebuch im Bürener Forsthaus steht. Draussen regnet es in Strömen, an eine «normale» Theaterprobe mit den elf Schauspielern und Schauspielerinnen ist an diesem Tag nicht zu denken. Denn die Form der Inszenierung ist ungewöhnlich: Der ganze Forsthaus-Platz und der Waldeingang dienen als Kulisse für «Es stolzes Wärch». Tourismus Büren hat das Theaterstück zum Internierungslager im Gebiet Häftli initiiert, inszeniert hat es die Grenchner Regisseurin, die auch den Text verfasst hat. Première ist diesen Freitag, fünf der Vorstellungen sind bereits ausverkauft (siehe Infobox).

Bereits zum dritten Mal

«Wir freuen uns, bereits zum dritten Mal eine solche Veranstaltung durchzuführen», sagt Andrea Todaro von Tourismus Büren. Das Seeländer Stedtli sei ein geschichtsträchtiger Ort, «daher ist es uns wichtig, den Menschen von und rund um Büren die Geschehnisse von einst ins Gedächtnis zu rufen».

Ab Ende 1940 wurden im «Concentrationslager Büren», so der offizielle Name, Soldaten einer polnischen Division interniert. Sie waren in der Nacht vom 19. auf den 20. Juni als Teil des 45. französischen Armeekorps in die Schweiz übergetreten (siehe Text unten). Am 22. Juni hatte Frankreich kapituliert. Nach gut einem Jahr wurden die Polen auf das ganze Land verteilt, nachdem es immer wieder Spannungen mit der Lagerleitung gegeben hatte. Für bis zu 6000 Personen ausgelegt, war das «Polenlager», wie man es heute meistens nennt, das grösste Lager für Internierte und später Kriegsflüchtlinge, wie zum Beispiel Juden, das es in der Schweiz je gegeben hat.

Bevölkerung zeigte viel Herz

In dem «Szenenspiel», als welches das Stück bezeichnet wird, ist der Zuschauer Teil der Aufführung. Er kommt gemeinsam mit polnischen Soldaten und Flüchtlingen an die Grenze und «muss erleben, wie er von Grenzwächtern harsch zurückgewiesen, nicht hereingelassen wird», so Iris Minder. Das Publikum erfährt auch etwas über die damaligen Erlasse für den Umgang mit den Polen und wird mit Situationen konfrontiert, wie sie den Internierten widerfuhren. Zum Thema werden auch Vorurteile der Behörden. Der Grossteil der Bevölkerung aus Büren sei den Internierten hingegen sehr herzlich begegnet und habe sich ihnen gegenüber auch grosszügig gezeigt, sagt Minder.

Ausserdem lernt der Zuschauer die Geschichte von zwei Zeitzeugen kennen: Einerseits jene der Schweizerin Marianne Szram-Chiffele, die sich in einen Polen verliebte, andererseits jene des internierten Polen Mietek Przewrocki. Die lebendig und berührend gespielten Szenen werden ergänzt durch das Vorlesen von Originaltexten aus jener Zeit. «Es wird aber auch getanzt, geliebt und gesungen», verrät die Autorin. Am Schluss wird den Zuschauern eine typisch polnische Suppe mit Brot serviert.

Neue Stedtliführung zum Thema

Tourismus Büren hat das Angebot bei den Stedtliführungen weiter ausgebaut. So kann neu eine rund einstündige Präsentation rund um das Polenlager gebucht werden. «Von den Gebäuden auf dem Land des ehemaligen Concentrationslagers ist leider nicht viel Sehenswertes übrig geblieben», bedauert Nadine Hunziker. So wird sie zusammen mit Georgio Loderer eine Power-Point-Präsentation zu dem Lager durchführen.

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Zwischen strenger Behandlung durch die Armee  und den Sympathien der Bevölkerung

René Estoppey

Vor Kriegsbeginn, 1938 und 1939, erfolgten lange diplomatische Verhandlungen zwischen England und Frankreich auf der einen Seite und Deutschland auf der anderen Seite. Doch Hitler setzte seinen Dominationswillen gegen die Appeasement-Politik der Westmächte durch. Die Welt stand am Abgrund.

Am 1. September 1939 überfiel Deutschland ohne Warnung Polen. In einem Blitzkrieg überrannten die deutschen Panzer die polnischen Linien, aus der Luft unterstützt durch Stukas, die gefürchteten Sturzkampfbomber. Trotz heldenhaftem Widerstand war nach kurzer Zeit etwa die Hälfte der polnischen Territorien erobert. Am 17. September fielen die mit Hitler verbündeten Sowjetrussen den Polen in den Rücken und besetzten die andere Hälfte. Eine Zeit der grausamen Besetzung begann, welche fast fünf Jahre dauern sollte.

Viele junge Polen verliessen ihr Land. Zusammen mit bereits in Frankreich lebenden Landsleuten formierten sich dort militärische Einheiten, die in die alliierten Verbände eingegliedert wurden. Polnische Truppen kämpften erstmals in Frankreich und England, später an allen Kriegsschauplätzen. Erwähnenswert sind ihre Einsätze in Nordafrika (Tobruk) und Italien (Monte Cassino). Sie waren bekannt für ihre grosse Tapferkeit und kämpften bis zum Sieg über Nazideutschland.

Ganze Division wurde interniert

Am 10. Mai 1940 starteten die Deutschen den Krieg gegen Frankreich. An der rechten Flanke wurde durch einen Angriff auf die schwachen neutralen Staaten Holland und Belgien das französische Verteidigungswerk, die Maginot-Linie, umgangen. Nach nur einem Monat befand sich die französische Armee in voller Auflösung, und bereits am 17. Juni ersuchte Marschall Pétain den Feind um einen Waffenstillstand.

In dieser Situation kapitulierte das 45. französische Armeekorps, das sich im Raum französischer Jura/Belfort befand. Die Schweiz gab dessen Ersuchen statt, im Internierten-Status in die Schweiz überzutreten. Ein Rückzug, ja, fast eine Flucht zur Schweizer Grenze begann. Die französischen Truppen kamen ziemlich ungeordnet. Darunter befand sich auch eine Brigade von Spahis, marokkanischen Kolonialtruppen. Des Weiteren die 2. polnische Division, die den Rückzug deckte. An der Grenze defilierten die Polen noch in voller Ordnung vor ihrem General, bevor sie die Waffen niederlegen mussten. Insgesamt etwa 45 000 Mann, davon 13 000 Polen, traten in die Schweiz über, wo sie gemäss internationalem Recht den Status von «Militärinternierten» erhielten.

Soldaten schliefen in Schulzimmern

All diese Mengen von Menschen, Pferden, Fuhrwerken und Autos mussten so schnell wie möglich aus der Gegend um Saignelégier ins Schweizer Hinterland dislozieren. Es galt, unserer Armee Bewegungsfreiheit in ihren Grenzstellungen zu sichern. Es führen nur wenige Passagen vom Jura ins Mittelland, und so ergoss sich ein endloser Strom von Internierten durchs Taubenloch nach Biel. Ein Tohuwabohu! Im Stadtpark wurde biwakiert, Schulhäuser wurden besetzt. In einem Klassenzimmer schliefen bis zu 30 Mann auf Stroh. Über den Zentralplatz fuhren französische Panzer, angeschrieben mit «Vive la Suisse». Überall französische Soldaten, marokkanische Spahis und die disziplinierten Polen. Ein malerischer Anblick.

Wir älteren Pfadfinder von der Abteilung Orion verliessen sofort die Schule und meldeten uns wie bereits anlässlich der Generalmobilmachung beim Platzkommando. Eingesetzt waren wir bei der Unterbringung und als ortskundige Kolonnenführer. Wir fanden das Vertrauen der Polen, die uns baten, Karten zu beschaffen. Sie wollten weiter, mit dem Ziel England, um dort den Kampf gegen die Nazis fortzusetzen.

Überforderter Lagerkommandant

Nach einigen Tagen beruhigte sich die Lage. Die Franzosen wurden zumeist in den Dörfern des Seelandes einquartiert. Nach weniger als einem Jahr konnten sie die Schweiz verlassen und nach Hause zurückkehren.

Die Polen erwartete dagegen ein ungewisses Schicksal. Kurzfristig wurde im Gebiet Häftli bei Büren ein Barackendorf errichtet, das «Polenlager». Alles ging sehr schnell, und der erste Schweizer Lagerkommandant war der Lage mentalitätsmässig nicht gewachsen. Für die Bewacher wurde ein Schiessbefehl erlassen, und es ereigneten sich einige tragische Zwischenfälle. Es brauchte die Intervention von General Guisan, um im Lager Ordnung zu schaffen. Die Internierten hatten ihre Rechte und waren in keiner Hinsicht Gefangene. Ihre Würde war zu respektieren, zudem genossen sie die Sympathien der Bevölkerung.

Landesweit für Arbeiten eingesetzt

Im Hinblick auf die ungewisse Kriegsdauer wurde nun ein Plan erstellt. Verteilt über die ganze Schweiz wurden einzelne Polendetachemente in relativer Freiheit für Landarbeiten eingesetzt. Priorität hatte der «Plan Wahlen» mit Massnahmen zur Sicherung der landwirtschaftlichen Versorgung. Die Soldaten wurden aber auch für Hilfe auf Bauernhöfen, für Rodungen und Meliorationen sowie im Strassenbau eingesetzt. Eine gewaltige Arbeitsleistung wurde vollbracht, die von der offiziellen Schweiz wie der Bevölkerung anerkannt ist. Überall ergab sich eine gute Beziehung zu den Einheimischen.

Berlin protestierte gegen Privilegien

Ein anderes, weniger bekanntes Kapitel ist das Bildungswesen. Etwa 900 Polen konnten in Freiheit an Hochschulen einen normalen Studiengang absolvieren, konkret an der ETH Zürich sowie an den Universitäten Zürich, Freiburg und St. Gallen. Daneben gab es auch Unterricht auf Sekundarschul-Niveau und Ausbildung an Fachhochschulen.

Dazu einige persönliche Erlebnisse: Als ich im Herbst 1942 mein Studium an der ETH begann, sassen zu meinem Erstaunen internierte Polen im Hörsaal. Sie waren in Winterthur stationiert und konnten tagsüber wie wir Schweizer ihren Studien nachgehen. Es waren gute, motivierte Studenten, und es wurden viele Freundschaften geschlossen.

Ein Höhepunkt waren die von den Polen veranstalteten Konzerte in der Zürcher Tonhalle. Soldatenchöre traten auf sowie als Solist ein sehr guter Pianist namens Kagan, der Chopin vortrug. Selbstverständlich waren alle in Militäruniform. Stürmischer Beifall war den Polen sicher. Die deutsche Regierung protestierte gegen diese Privilegien für die Internierten, doch die Schweiz blieb standhaft.

Nach Jahren des Hoffens und Bangens war im Mai 1945 der Krieg in Europa zu Ende. In die Euphorie des Sieges mischte sich Trauer um all die Opfer. Und für die Polen war die Zukunft ihres Landes unter stalinistischer Herrschaft ungewiss. Nach Kriegsende blieben manche in der Schweiz. Andere emigrierten nach England, in die USA und andere Staaten. Ein kleinerer Teil wagte es, in die Heimat zurückzukehren, die nun hinter dem Eisernen Vorhang lag und das sowjetische Joch erdulden musste. 1989 erfolgte die Wende, das stolze Polen ist wieder frei.

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