Sie sind hier

Abo

Flüchtlinge

Sanelas Bosnien-Konflikt

Während des Bosnienkrieges ist Sanela Lepirica mit ihrer Familie nach Täuffelen geflüchtet. Heute, zurück in Nordbosnien, 
hilft sie nun selbst Flüchtlingen – obwohl sie nur wenig Hoffnung für die eigene Zukunft hat.

  • 1/4 Sanela und Mustafa Lepirica bei einem Rot-Kreuz-Einsatz. Bild: zvg
  • 2/4 Sanela Lepirica sagt: «Wenn ich den Flüchtlingen erzähle, dass ich selber einmal ein Flüchtling war, schauen sie mich mit grossen Augen an.» Bild: zvg
  • 3/4 Die Familie in Täuffelen: Sanela Lepirica, ein Nachbar, ihre Mutter Ajša und Bruder Edin. Bild: zvg
  • 4/4 Die Flüchtlinge, die zum Polizeipunkt bei Ključ gebracht werden, erwartet dort null Infrastruktur. So schliefen einige auf dem gefrorenen Boden. Bild: zvg
zurück

Andrea Butorin

Im Moment funktioniert sie nur noch. Und wundert sich manchmal, wie sie das alles schafft: Sanela Lepirica ist Ehefrau, Mutter eines zwölfjährigen Jungen, Grundschullehrerin und hat seit drei Monaten eine zusätzliche Lebensaufgabe, bei der sie nie so viel geben kann, wie gebraucht würde. Sie engagiert sich für die Flüchtlinge, die in ihrem Dorf im Nordosten von Bosnien gestrandet sind. Menschen, die wegen des Krieges oder der wirtschaftlichen Situation aus ihrem Heimatland geflüchtet sind und nun im bosnischen Nirgendwo warten und hoffen.

Nachdem Ungarn und Bulgarien 2017 die Grenzen hermetisch zu schliessen begannen, wichen Flüchtlinge und Schlepper auf die südliche Balkanroute aus. Die führt via Türkei, Griechenland, Albanien und Montenegro unweigerlich nach Bosnien.

Eigentlich möchten diese Menschen alle weiterziehen, via Kroatien oder Slowenien in die EU einreisen, doch dieses Vorhaben scheitert oft, wegen der rigiden Grenzbeamten oder aufgrund der unwirtlichen Landschaft, die Grenzübertritte schwierig bis unmöglich macht. «I go to the game», sagen Flüchtlinge, die versuchen, irgendwo über die Grenze zu gelangen – als wäre es nur ein Spiel. Von denen, die es versucht haben und gescheitert sind, einmal oder dutzende Male, hört Sanela Lepirica Schlimmes: Die kroatischen Grenzwächter würden die Leute, die sie aufgreifen, schlagen und ihnen alles abnehmen: Handys, Kleider, Schlafsäcke, Geld. Auf der Flucht seien schon Menschen gestorben, und vor drei Wochen sei in einem Camp ein 16-jähriger Junge gestorben, weil dessen Krankheits-Symptome nicht ernst genommen worden seien.

«Eine Hölle, ein Niemandsland»
Täglich sind es mehr, die in Bosnien ankommen oder stranden. Das Land ist damit hoffnungslos überfordert. Besonders schlimm ist die Lage im Kanton Una-Sana im Nordosten des Landes, der grösstenteils an Kroatien angrenzt. Sanela Lepirica lebt dort in einem Dorf bei Ključ, direkt an der Grenze zur Republika Srpska, dem mehrheitlich von Serben bewohnen Gebiet innerhalb von Bosnien und Herzegowina. Erste Anlaufstelle der Flüchtlinge ist in Una-Sana die Kantonshauptstadt Bihać. Dort leben in drei grossen Camps bereits 3200 Flüchtlinge in prekären Zuständen. Nun heisst es, das Boot im Kanton sei voll; die Devise lautet: «3200 und keiner mehr.»

Aus diesem Grund werden die Flüchtlinge, die via Republika Srpska nach Una-Sana einreisen wollen, seit drei Monaten an einem extra dafür eingerichteten Polizeipunkt in Sanela Lepiricas Wohnort gestoppt. «Busse, Taxis oder Autos werden angehalten, und die Menschen müssen aussteigen», sagt sie. «Man will, dass die Leute zurückkehren, aber es ist überhaupt nichts organisiert.» Infrastruktur ist überhaupt keine vorhanden, und Zelte aufzubauen erlaubt die Kantonsregierung nicht.

Mangels Alternative schlafen die Ankömmlinge auf dem Boden, der jetzt im Winter teils gefroren ist. Kürzlich konnte Sanela Lepirica einen Unterstand organisieren, doch weil dieser zur Seite hin offen ist, bietet er zu wenig Schutz vor Kälte und Wind.

Manche Flüchtlinge hätten seit einem Monat nicht mehr duschen können. Krankheiten wie die Krätze verbreiten sich. «Es ist eine schreckliche Situation, eine Hölle, ein Niemandsland», sagt Sanela Lepricia. Und an diesem Tor zur Hölle steht sie und empfängt die Menschen, manchmal allein und manchmal unterstützt von ihrem Vater Mustafa, der sich als Pensionär beim Roten Kreuz ein Zubrot verdient, während sich Sanela Lepirica als Freiwillige engagiert.

«Heute sind nur drei gekommen», sagt sie im telefonisch geführten Gespräch in nahezu perfektem Deutsch. «Aber es waren auch schon 100 an einem Tag.» Insgesamt seien in den letzten drei Monaten 1300 Flüchtlinge bei ihnen angekommen. Sanela Lepirica versorgt die Leute und versucht, sie so rasch wie möglich nach Sarajewo zu schicken, obwohl sie weiss, dass auch dort keine Infrastruktur vorhanden ist. Sie fürchtet, dass die Situation im Frühling noch viel schlimmer werden wird, wenn die Menschen, die nun in Serbien in Camps «überwintern», «zum Spiel» aufbrechen würden.

Ihr Anspruch ist es, allen Gestrandeten drei Mahlzeiten pro Tag ausgeben zu können. Doch nicht nur Essen ist gefragt: Schlafsäcke, Decken, warme Kleider, Schuhe, Toilettenartikel, Erste-Hilfe-Utensilien: Für das Material hat sie ein kleines Lager. «Und mein ganzes Auto ist immer voller Sachen.» Allesamt Spenden, die sie vom Roten Kreuz oder von anderen internationalen Hilfsorganisationen erhalten hat. Weitere Spenden würden dringend benötigt.

Für die Flüchtlinge ist Sanela Lepirica nicht nur Essensspenderin und Notfall-Sanitäterin, sondern sie ist auch einfach da und hört den Menschen zu. «Wenn ich ihnen erzähle, dass ich selbst einmal ein Flüchtling war, schauen sie mich mit grossen Augen an.»

Im Bosnienkrieg an die Front geraten
Es war der Bosnienkrieg, der Sanela Lepiricas behüteter Kindheit jäh ein Ende bereitete. Sie wurde 1981 geboren, ein Jahr nach Titos Tod, und lebte mit ihren Eltern, dem jüngeren Bruder und den Grosseltern in einem Haus in Ključ. Die Mutter war Verkäuferin, der Vater Polizist. «Tito hat das Zusammenleben der unterschiedlichen Kulturen gut gemeistert», bilanziert sie. Alle hätten frei leben können, und ihre muslimische Familie habe sie gelehrt, dass alle Menschen gleich und frei seien. Man habe mit kroatischen oder serbischen Nachbarn ein gutes Verhältnis gepflegt und beispielsweise gemeinsam Weihnachten gefeiert.

Ab 1990 seien nationalistische Strömungen aufgekommen. Aufgrund seiner Position habe der Vater 1992 früher als andere mitbekommen, dass etwas nicht stimmt. Den Muslimen im Polizeicorps sei gesagt worden, dass ab sofort nur noch serbische Polizisten erwünscht seien. Mustafa Lepirica fackelte nicht lange und schickte seine Familie in einem Bus nach Österreich. Allerdings nicht rasch genug. «Plötzlich geriet unser Bus-Konvoi an die Front, wo schon geschossen wurde», erzählt Sanela Lepirica. Drei Tage lang seien sie daraufhin auf Umwegen durch das Land geirrt, der Fahrer habe nie geschlafen, und die Passagiere hatten weder genügend zu essen noch die Möglichkeit, sich zu waschen. Nach dieser Odyssee erreichten sie Slowenien.

In der Zwischenzeit hatte sich einer der beiden Onkel eingeschaltet, die bereits in der Schweiz lebten und arbeiteten. Er riet der Familie, in die Schweiz statt nach Österreich zu fahren. «Wir wussten gar nicht, dass die Schweiz Flüchtlinge aufnimmt, und sind deshalb schwarz eingereist», sagt Sanela Lepirica. Drei Monate lang versteckten sie sich beim Onkel in Zürich, ehe dieser herausfand, dass die Familie in ein Auffanglager gehen kann. Nach einigen Tagen in Kreuzlingen kamen Lepiricas in ein Flüchtlingslager bei Bern. Dieses war von einem Zaun umgeben, die Bewohner durften lediglich eine Stunde pro Woche rausgehen. «Aber das war nicht schlimm», beeilt sich Sanela Lepirica zu sagen, «uns ging es gut.»

Die nächste Station der drei Lepiricas war ein grosses altes Haus im bernjurassischen Sorvilier, in dem Flüchtlinge aus allen möglichen Ländern lebten. Die Kinder kamen in die Schule. Weil sie noch kein Wort Französisch sprach, wurde Sanela in die 4. Klasse geschickt, obwohl sie zuhause schon die 5. Klasse beendet hatte. Vieles habe sie schon gekonnt, und wegen ihres grossen Ehrgeizes habe sie innert weniger Monate Französisch gelernt. «Das war eine komische Zeit», sagt sie heute. Sie habe nicht mehr viele Erinnerungen, sei aber mit der Situation mit Sicherheit überfordert gewesen.

In Täuffelen erhielt die Familie ein Haus
Zuhause ging derweil die Hölle los. Die Region um Ključ galt wegen der ethnischen Durchmischung als besonders gefährlich. Der Vater und die Grosseltern lebten noch daheim, und jede Nacht seien die Serben gekommen und hätten den Bewohnern Angst eingejagt, gedroht, sie umzubringen. Es blieb nicht beim Drohen: Im Dorf Biljana nahe Ključ wurden an einem Tag 260 Menschen umgebracht, darunter ein drei Monate altes Kind.

Mustafa Lepirica wurde als Polizist besonders in die Mangel genommen, er wurde der Kriegsteilnahme verdächtigt. «Aber ein Freund hat ihn retten können», sagt Sanela Lepirica. Sein Bruder sei daraufhin aus der Schweiz nach Bosnien gereist, um ihn in die Schweiz zu holen.

Als die Familie wieder zusammen war, wurde ihr in Täuffelen ein Häuschen zugeteilt: Damals war am Ofenhaus am Dorfrain, das heute noch gelegentlich zum Brotbacken verwendet wird, ein kleines Haus angebaut. Es gehörte der Gemeinde. Unterdessen ist dieses Haus abgerissen worden, nur das Ofenhaus steht noch. «Das Haus war zwar klein, aber auch süss, und meine Mutter freute sich besonders über den Garten», sagt Sanela Lepirica.

Das Leben sei in Täuffelen leichter geworden. Von der Gemeinde hätten sie viel Unterstützung erhalten. Zwar hätten die Eltern nicht arbeiten dürfen, aber Ajša Lepirica habe die Erlaubnis eingeholt, den Nachbarn bei der Kirschenernte zu helfen, und auch bei der Firma Dreyer in Gerolfingen habe sie stundenweise aushelfen dürfen – mit entsprechender Kürzung des Unterstützungsgeldes.

Sanela Lepirica sprach bereits ein wenig Deutsch, aber trotzdem sei es schwer gewesen, nochmals von ganz vorne anzufangen. In der Schule fiel sie als aussergewöhnlich ehrgeizig auf, sodass der Klassenlehrer sie für den Übertritt in die Sekundarschule empfahl. Mit vielen früheren Schulkollegen sowie mit ihren damals zwei besten Freundinnen hat sie heute noch via Facebook Kontakt. Besonders gern erinnert sie sich an Ausflüge an den Bielersee oder an den Ausflug «an ein grosses Stadtfest im Sommer in Biel» mit ihren Freundinnen.

Eine hoffnungsvolle Zeit brach an
Was, wenn der Krieg vorbei ist – bleiben oder zurückkehren? Während Ajša Lepirica gern in der Schweiz geblieben wäre, war für ihren Mann klar, dass er heimkehren will. Die Kinder waren unschlüssig. In Bosnien waren die Verwandten und früheren Freunde, doch in der Schweiz gab es die Chance, studieren zu können. «Ich wäre gern Journalistin oder Meeresbiologin geworden», sagt Sanela Lepirica.

1996, ein Jahr nach dem Abkommen von Dayton, das den Frieden in Bosnien und Herzegowina besiegelte, reiste die Familie zurück. Trotz des Friedens war die Situation noch längst nicht entspannt. Nebst der grossen Zerstörung, den vielen Toten – auch Lepiricas beklagten Opfer in ihrer Verwandtschaft – und im ganzen Land verstreuten Minen seien die Kriegsrückkehrer in den ersten paar Jahren noch voller Adrenalin gewesen. «Viele trugen damals noch Waffen auf sich, und man durfte in der Stadt nicht in jedes Café gehen», sagt Sanela Lepirica.

Ein besonders bewegender Moment sei es gewesen, zum ersten Mal das zerstörte Haus in Ključ wiederzusehen. Drei Jahre lang habe der Vater es mit Hilfe von Freunden und Nachbarn wieder aufgebaut, bis dahin lebte die Familie in einer Wohnung in der Stadt. Dann sei eine hoffnungsvolle Zeit angebrochen. Man glaubte an den Aufschwung des Landes. Sanela Lepirica wiederholte in Bosnien die
8. Klasse, ging ans Gymnasium und machte danach das Lehrerdiplom. Eigentlich wollte sie weiterstudieren, doch das Geld reichte nicht. «Den Master hole ich noch nach!», ist sie überzeugt.

«Alle reden dauernd vom Krieg»
Ihre Eltern haben einen kleinen Laden eröffnet, der zehn Jahre lang gut rentierte. Aber dann sei es immer schwieriger geworden. Heute liege die Wirtschaft am Boden, die Politiker seien allesamt korrupt und das grösste Problem sei der grassierende Nationalismus. Das Land sei gespalten, Bosniaken, Serben und Kroaten leben grösstenteils getrennt voneinander. Und: «Alle reden dauernd vom Krieg. Auch mein Mann, der während des Krieges im Land geblieben ist und viel Schlimmes erlebt hat, fürchtet, dass es wieder losgeht.»

Die Löhne sind sehr tief. Sanela Lepirica erhält als Grundschullehrerin etwa 400 Euro, während ihre Eltern als Pensionäre von je 200 Euro leben müssen, was ohne Vaters Zusatzverdienst beim Roten Kreuz kaum möglich wäre. Tausende Menschen wandern deshalb nach Europa aus; Schätzungen zufolge jährlich um die 40 000 Personen. Die Leute gehen nicht als Flüchtlinge, sondern als angeheuerte Arbeiter mit den nötigen Sprachkenntnissen und einem Arbeitsvertrag im Sack.

Sanela Lepirica steckt im Dilemma: «Einerseits will ich hierbleiben, etwas aufbauen, aber wir haben hier einfach keine Zukunft.» Ihre Bekannten würden nicht verstehen, dass sie mit ihren Deutschkenntnissen nicht schon längst in Deutschland lebe. Das ändert sich vielleicht: «Nächstes Jahr werde ich arbeitslos», sagt sie nüchtern. Bereits sei aufgrund der vielen Auswanderungen eine Schule geschlossen worden, 2020 sei diejenige an der Reihe, an der sie unterrichte. Eine neue Stelle würde sie dann höchstens in einer Stadt finden, in Bihać vielleicht, das 100 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt liegt.

Sanela Lepirica weiss weder, was aus Bosnien wird, noch, wie ihre Familie weiterleben wird. «Wie soll ich meine Zukunft planen, wenn alle dauernd vom Krieg reden und ich nicht weiss, wo mein Sohn künftig noch in die Schule gehen kann?» Und so lebten sie wie alle bloss von Monat zu Monat.

Die EU habe das Land seit dem Kriegsende stark unterstützt. Und doch sehe man bis heute viele Kriegsspuren an Häusern oder Strassen, auch Minen sind immer noch eine Gefahr im Land. «Alles hätte so schön sein können, doch die Korruption hat alles zerstört.»

«Man sollte mit Sarajewo schauen ...»
Für die Flüchtlinge hat sie deshalb Verständnis: «In Algerien gibt es zum Beispiel keinen Krieg. Aber die emigrieren ja aus demselben Grund wie unsere Leute, bloss machen sie es illegal.» Dass sie sich heute so stark engagiert, liegt an ihrer Dankbarkeit für die einst erlebte Hilfe. Generell erhielten die Flüchtlinge und ihre freiwilligen Helfer vor allem aus der bosnischen Diaspora grosse Unterstützung. Dass viele andere Leute den Flüchtlingen gegenüber kritisch eingestellt sind, versteht Lepirica: «In Bihać sieht man heute auf der Strasse mehr Flüchtlinge als Einheimische, das kann schon Angst machen.» Darüber, wie die Länder mit den Flüchtlingen umgehen sollten, hat sie eine klare Haltung: «Ich würde nur diejenigen reinlassen, die arbeiten und sich integrieren.» Die übrigen würde sie zurückschicken, «aber nicht in die Kriegszone!»

Durch ihr Engagement ist Sanela Lepirica immer vernetzter geworden. Sie pflegt Kontakte mit diversen Hilfsorganisationen, die vor Ort sind, auch mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM), dem grössten Player vor Ort, der die offiziellen Camps betreibt. Als nächstes will sie mit ihrem Vater nach Bihać fahren, um mit dem für den Kanton zuständigen Kommissar zu sprechen, der die 3200-Grenze-Regel beschlossen hat, sowie mit dem dortigen Roten Kreuz. «Auch mit Sarajewo sollte man schauen ...», sinniert sie.

Derweil kämpft sie täglich weiter, für einen menschenwürdigen Umgang mit den Flüchtlingen. Aus Hoffnung und wegen ihrer Überzeugung, dass alle Menschen gleich sind und ein Mindestmass an Unterstützung verdient haben, ist sie zur Aktivistin geworden.

Nachrichten zu Fokus »