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Alt und Jung

Hörst du schon 
oder liest du noch?

Einer meiner Dozenten erzählt uns mindestens einmal pro Woche, es gebe Untersuchungen, die belegten, dass die jüngeren Generationen immer mehr Probleme damit hätten, ganze Texte am Stück zu lesen. Die Aufmerksamkeitsspanne sei einfach nicht mehr gross genug.

Luca Brawand alias Landro

Luca Brawand 
alias Landro

Entsprechend dieser Aussagen dürfte der Altersdurchschnitt der Leserinnen und Leser dieser Kolumne nicht allzu tief sein. Zumindest ab der Hälfte des Textes, denn bis dorthin sollten die jungen Schnaufer mit der Aufmerksamkeitsspanne einer halben Instagram-Story noch kommen.

Möglicherweise werden sie jedoch gar nie darauf stossen, es sei denn, sie finden die Kolumne im Internet. Wer nimmt denn heute noch eine Zeitung in die Hand? Ich selbst lese eigentlich sehr gerne. Sei es nun die Zeitung oder ein gutes Buch. Die News lese ich täglich, natürlich online, versteht sich. Ein Buch aber habe ich immer noch gerne physisch in der Hand, dafür lese ich ein solches fast nur noch in den Ferien. Dann habe ich Zeit, Lust und Energie, um mich einem Roman zu widmen. Während des Semesters hingegen bin ich froh, wenn ich am Abend Netflix oder YouTube öffnen kann und mein Gehirn nur noch verarbeiten muss, anstatt aktiv einen Text zu lesen. Und das sage ich als jemand, der behauptet, gerne zu lesen. Heisst das jetzt, dass meine Aufmerksamkeitsspanne zunichte ist? Oder dass ich vielleicht, entgegen meiner Behauptung, gar nicht wirklich gerne lese?

Wahrscheinlich weder noch. Möglicherweise liegt es lediglich daran, dass Videos zu konsumieren einfach deutlich gemütlicher ist. Bei weniger routinierten Lesern gibt es immer wieder den Moment der Überwindung, in der man das Buch zur Hand nehmen muss, anstatt auf die App mit dem roten «N» zu drücken. Deshalb ist der Grund für meine Reduktion an Lesestunden wohl auch nicht einfach, dass ich nicht gerne lesen würde. Es gibt heute schlicht viel mehr Alternativen. Wäre ich vor 40 Jahren aufgewachsen, hätte ich wahrscheinlich deutlich mehr Bücher gelesen. Schliesslich hätte ich nicht mit zwei Fingerbewegungen vier verschiedene Late-Night-Shows der letzten Woche auf dem Bildschirm gehabt. Es liegt also weniger an der fehlenden Aufmerksamkeit, sondern vielmehr an der zunehmenden Ablenkung. Man denke schon nur an das Lernen bei Schülerinnen und Studenten in der Zeit von Smartphones. Da kann eine kleine Pause durchaus einmal in die Visionierung einer Doku über südafrikanische Erdmännchen ausarten. Aber ganz ehrlich, wer lernt schon, wenn die neue Game-of-Thrones-Staffel rausgekommen ist? Diese Serie basiert sogar auf Büchern, man könnte sie also sogar lesen. Da käme wieder der Punkt der Überwindung ins Spiel. Hier haben viele Leute die scheinbar optimale Lösung gefunden: Hörbücher. Einfach «Play» drücken, und irgendein Sprecher erzählt einem die Geschichte ganz von allein. Das Gefühl, ein Buch zu lesen, geht jedoch verloren, genau wie das gute Gefühl, das einsetzt, sobald man es beendet hat. Hörbücher fühlen sich für mich fast ein wenig wie schummeln an. Obwohl man den genau gleichen Inhalt erzählt bekommt, scheint ein Teil des Erlebnisses wegzufallen, so als würde man einen Film stumm, aber mit Untertitel schauen.

Dafür gibt es ein anderes Format als tolle Alternative: Podcasts. Obwohl es diese natürlich nicht erst seit gestern gibt, bin ich erst in letzter Zeit richtig auf den Geschmack gekommen. Man braucht kein Video zu schauen wie bei YouTube, keiner Geschichte zu folgen wie bei Büchern und hat trotzdem eine breite Auswahl an Themen und Personen. Mittlerweile gibt es zu jedem erdenklichen Thema einen Podcast. Lustige Podcasts, kritische Podcasts, nachdenkliche Podcasts, inspirierende Podcasts. Denken Sie an irgendetwas, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Genau darüber gibt es höchstwahrscheinlich einen Podcast. Beim Hören merkt man erst richtig, wie lange man freiwillig irgendwelchen Personen interessiert zuhören kann.

Ob es denn nun ein Politik-cast, ein Fun-cast oder ein Interview-cast ist, bleibt Ihnen ganz allein überlassen. Dazu kann man gleichzeitig Bus fahren, kochen, putzen oder gar nichts tun, und beim richtigen Podcast macht das alles sogar Spass. Und wenn man dann mit allem fertig ist, darf es auch gerne wieder einmal ein Buch sein. Ob man nun eine grosse Aufmerksamkeitsspanne hat oder nicht, wenn Sie diesen Text bis hier hin gelesen haben, ist das auf jeden Fall schon einmal ein guter Anfang.

Info: Der 21-jährige Bieler Luca Brawand hat als Musiker Landro letztes Jahr sein Debütalbum veröffentlicht. Er studiert zudem Medien und Kommunikation.


kontext@bielertagblatt.ch

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