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Bilinguismus

«Grüessech, chöit dir Dütsch?»

In Freiburg leben rund 20 Prozent Deutschsprachige. Seit Jahrzehnten kämpfen sie für eine stärkere Zweisprachigkeit. Während die Stadtregierung sich bislang gegen die Einführung von Deutsch als zweite Amtssprache sträubt, leben die Unterstädter den Bilinguismus auf ihre eigene Art – sie bolzen.

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von Andrea Butorin


Fribourg/Freiburg: Von Biel aus ist die Stadt an der Saane in 63 Minuten Zugfahrt zu erreichen. Biel-Zürich dauert 70 Minuten. Doch geht es um Ausgang, Shopping oder Kultur, scheint Zürich für Seeländer um Meilen näher zu liegen. Dabei wäre Freiburg eigentlich die perfekte Partnerstadt für Biel, gelten die beiden Städte doch als die einzigen zweisprachigen Städte der Schweiz. Wobei Biel meist als «echt bilingue» oder zumindest als «bilinguer als Freiburg» beschrieben wird.
Biel wurde 1952 offiziell für zweisprachig erklärt. Anders Freiburg: «Obwohl die Zähringerstadt seit ihrer Gründung im Jahr 1157 stets zweisprachig war, ist ihr amtlicher Name nach wie vor ‹Ville de Fribourg›. Denn die Freiburger Behörden haben bisher Freiburg nicht formell zweisprachig erklärt», schreibt Rainer Schneuwly in seinem brandneuen Buch «Wie Freiburg und Biel mit der Zweisprachigkeit umgehen» (siehe Interview ab Seite 28). Vielmehr pflege die Stadt eine «pragmatische Zweisprachigkeit». Was bedeutet das und wie zweisprachig ist Freiburg wirklich?
In 63 Minuten gibt es Antworten auf diese Frage.
 

«Essayez-moi» – «Probier’s einfach»
Fribourg/Freiburg: Ein erstes Politikum begegnet einem gleich am Bahnhof. 50 Jahre dauerte es, bis dieser im Jahr 2012 nach dem erstmals geäusserten Begehren der Deutschfreiburger in beiden Sprachen angeschrieben wurde. Wer vorher nach Freiburg wollte, kam stets in Fribourg an.
Auf dem Bahnhofplatz singt ein Strassenmusiker direkt unter der Bustafel «Fribourg/Freiburg Place de la Gare» auf Englisch, eine Stele von Freiburg Tourismus sagt Touristen zwei- (aber nicht drei)sprachig, wo’s langgeht, und violette Mietvelos locken Kundschaft an: «Essayez-moi», steht auf einem, «Probier’s einfach» auf dem anderen.
Wer vom Bahnhof aus die Stadt erkundet, steigt kontinuierlich in die Altstadt hinab. Mit Fokus auf die Sprachen fällt sowohl Zweisprachiges als auch Einsprachiges auf: Der Geigenbauer und die Zahnklinik werben auf Deutsch und Französisch, während der touristische Wegweiser «Musée suisse de la machine à coudre» deutschsprachige Fans von Nähmaschinen aussen vor lässt. Und warum ist die «Rue de Romont» nur auf Französisch angeschrieben, die «Rue de Lausanne» dagegen auch mit «Lausannegasse»?
 

«Nirgends im Vergleich zu Biel»
Um Freiburgs Zweisprachigkeit besser zu verstehen, wird es Zeit, Insider beizuziehen. Diese sind bei «Radio Freiburg» zu finden. Wie «Canal 3» existiert der Sender einmal auf Deutsch, einmal auf Französisch. Im März dieses Jahres zog die Redaktion in den neuen Mediaparc um. Dieser befindet sich in ... wie hiess das noch gleich? Gute Gelegenheit für einen Sprachtest. «Grüessech, redet Dir Dütsch?» – «Ein bisschen», sagt der Angestellte von Transports publics fribourgeois (TPF) und erklärt auf Hochdeutsch, dass Bus Nummer 5 zur Endstation Nuithonie in Villars-sur-Glâne und damit zum Mediaparc fährt.
«Grüessech, chöit Dir Dütsch?» Der Busfahrer mit portugiesischem Namen schüttelt beim Sprachtest Nummer 2 bloss den Kopf. «Hochdeutsch?» – «Non, que français». Ebenfalls nur welsch scheinen die Abfallsünder zu sein: «Les bus ne sont pas des poubelles!», teilt TPF mittels Plakat mit. Das benachbarte Plakat wendet sich an potenzielle Übersetzer: «L’ALLEMAND, comme j’ai toujours voulu l’apprendre!»
Bei «Radio Freiburg» angekommen, hat Moderatorin Anna Binz gerade Zeit für einen Kaffee. «Anna, ist Freiburg eine zweisprachige Stadt?» – «Nein», sagt die dunkelhaarige Deutschfreiburgerin, «im Vergleich zu Biel sind wir nirgends.» Doch obwohl die Zweisprachigkeit institutionell nicht verankert ist, sei sie in vielen Bereichen mittlerweile umgesetzt. Früher hätten die französischsprachigen Medienmitteilungen «Radio Freiburg» Schwierigkeiten bereitet, inzwischen gebe die Stadt Communiqués in beiden Sprachen heraus.

Anna Binz. Bild: ab


Die 31-Jährige stammt aus Schmitten im Sensebezirk. Ihr erster Kontakt mit den welschen Freiburgern verlief eher harzig: Binz kam nach Freiburg ans deutschsprachige Collège, also ans Gymnasium: «Da lernte ich Französisch und musste es auch anwenden, nur schon, um mir das Mittagessen zu kaufen.» Es sei frustrierend gewesen, eine Abfuhr zu kriegen oder korrigiert zu werden, bloss weil sie den Satz nicht perfekt ausgesprochen habe.
Heute, findet sie, beherrsche sie Französisch immer noch nicht «mega gut», aber die Motivation sei gross, die Sprache zu lernen. So spielt sie zum Beispiel als einzige Deutschsprachige in einem welschen Volleyballteam.
«Vous parlez allemand?», pflege sie in einem Geschäft zu fragen. Besonders in Erinnerung bleibt ihr ein Besuch im Swisscom-Shop: «Als ich versuchte, mit der Beraterin deutsch zu sprechen, brach sie in Tränen aus.»
Insbesondere seitens Welschfreiburgern vom Land verspüre sie mangels Kenntnissen Ablehnung und Angst vor der deutschen Sprache. «Im Kanton Freiburg ist der Röstigraben sehr präsent», sagt sie. Bei solchen Begegnungen empfinde sie sich als privilegiert. Deshalb sei sie in sprachpolitischen Fragen weniger emotional, anders als viele in ihrem Umfeld: «Ich finde schon, dass die Stadt bei der Zweisprachigkeit vorwärtsmachen sollte. Aber gleichzeitig bin ich auch froh, dass ich gezwungen werde, Französisch zu lernen.»
 

«Ein echter Stadtfreiburger»
Ehe sie wieder zur Arbeit muss, empfiehlt sie ihren Kollegen, Moderationsleiter Marc Henninger, als Gesprächspartner. Der sei ein «echter Stadtfreiburger, ein Unterstädter» und sehe das alles bestimmt anders.
Abgesehen vom Flair der bilinguen Unterstadt sei Freiburg nicht zweisprachig, findet allerdings auch Henninger. Grund: «Die Welschen haben kein Interesse daran, Deutsch zu lernen.» Er ist der Meinung, dass die französischsprachigen Freiburger national betrachtet an einem Minderwertigkeitskomplex litten, weshalb sie kein Interesse hätten, in der Stadt auf die Bedürfnisse der Minderheit einzugehen.

Marc Henninger. Bild: ab
Der 32-Jährige sass für die SP im Generalrat, dem Stadtfreiburger Parlament. Die Zweisprachigkeit ist da immer ein grosses Thema. Und das schon seit Langem:
•Der steinige Weg zum zweisprachig angeschriebenen Bahnhof wurde bereits erwähnt. Der Widerstand gegen diesen Wunsch war hartnäckig, obwohl die Ortstafeln auf den Hauptstrassen bereits seit den 70er-Jahren zweisprachig angeschrieben waren.
•Ein Politikum waren auch die Strassennamen. Ab 1837 wurden die deutschsprachigen Strassennamen in der Stadt durch französischsprachige ersetzt. Als in den 80er-Jahren vier Generalräte forderten, einige Strassen und Plätze aufgrund der touristischen Bedeutung zweisprachig zu beschriften, wurden nach ausgearbeiteten Kriterien einer Arbeitsgruppe und nach regen Diskussionen letztlich 22 Strassen und Plätze neu beschriftet – darunter auch die Rue de Lausanne.
•Seit Jahren befindet sich die Ausarbeitung eines zweisprachigen Stadtlogos auf der Pendenzenliste der Stadtregierung (siehe Interview rechts).
•Letzten Herbst fällte die Stadtregierung einen Entscheid bezüglich der Anerkennung der Zweisprchigkeit:Ein Vorstoss forderte die Prüfung der Frage, was es für die Stadt bedeuten würde, wenn sie sich offiziell zweisprachig erklären würde. Diese liess vom Institut für Mehrsprachigkeit ein Gutachten erstellen und entschied sich daraufhin gegen die Einführung von Deutsch als zweite Amtssprache. Dies aus Kostengründen und aufgrund der fehlenden kantonalen Gesetzesgrundlage. Auch die diskutierte Fusion mit acht (französischsprachigen) Agglomerationsgemeinden zu einem Grossfreiburg wurde als Argument ins Feld geführt.
Im Gespräch mit Rainer Schneuwly sagte Stadtpräsident Thierry Steiert zudem, wenn Freiburg von sich aus die Zweisprachigkeit erklären würde, weckte das alte Geister und drohte ein Sprachenkrieg, da in der Stadt immer noch die Angst vor der Germanisierung herrsche. Diese Angst wurde in den letzten Jahrzehnten bei Sprachdebatten immer wieder ins Feld geführt – obwohl der Anteil Deutschsprachiger in den letzten Jahrzehnten abgenommen hat (siehe «Fakten zur Zweisprachigkeit»).
Marc Henninger findet: «Es fehlt der Wille. Wir leben ein Nebeneinander statt ein Miteinander.» Übrigens trage auch die Sicht der Restschweiz auf Freiburg nicht gerade das Ihre bei, die Zweisprachigkeit anzuerkennen oder zu stärken: «Ich rege mich immer auf, wenn ‹Schweizer Radio und Fernsehen› von ‹Fribourg› statt von ‹Freiburg› spricht», sagt Henninger. Der Hockeyclub heisse auf Deutsch «Freiburg-Gottéron», da gebe es nichts zu Diskutieren.
 

«Mon vatre a schlagué le chatz»
Trotz des Ärgers:Marc Henningers privater Kosmos sieht ganz anders aus. Er ist als Kind deutschsprachiger Eltern in der Unterstadt, der Basse-Ville, geboren. Die Schulen besuchte er auf Deutsch, Französisch lernte er auf der Strasse. Sein Freundeskreis ist mehrsprachig. Radio moderieren könnte er auf Französisch aber nicht, meint er. Dafür spreche er zu sehr Slang – zu sehr «Bolz». Bolz ist die Sprache der Unterstadt, die einst als Armenquartier von Freiburg galt. Hier siedelten sich im 19. Jahrhundert deutschsprachige Sensler an. Weil der Wohnraum eng war, fand das Leben grösstenteils auf der Strasse statt, und die Sprachen begannen sich zu vermischen.
«I gange ga pattiniere», sagt Marc Henninger, wenn er Eislaufen geht. Klappt etwas nicht, schimpft er «nom de bleu!»
Um einen Eindruck von seiner Welt zu gewinnen, schlägt Marc Henninger einen Abstecher in die Unterstadt vor. Das zweisprachige Flair erspüre man beispielsweise im «Au Tirlibaum», der Stammbeiz vieler junger Einheimischer.
Auf in die Basse-Ville also. Das «Tirlibaum» befindet sich am Klein-Sankt-Johann-Platz. An diesem warmen Vormittag gehört das Lokal nicht den jungen Szenegängern, sondern den Senioren.

Minet, Bébér, Schorschi und Chiffon stossen an. Bild: mak


Vier Pensionäre sitzen vor einer Stange und parlieren auf französisch über dies und jenes. «Bonjour, grüessech, sprechen Sie Bolz?» – «Sie interessieren sich für Bolz?Da müssen Sie am Freitag in den ‹Engel› kommen. Da lebt das Bolz», antwortet der eine auf Deutsch. Er sei der Schorschi, Georges getauft, und genau auf der Sprachgrenze geboren worden. Früher, da hätten ennet der Bernbrücke, eben da, wo die «Auberge de l’ange» steht, die Deutschsprachigen gewohnt. Und nach der Mittleren Brücke, in Neuveville, die Welschen. Diese Trennung sei von den Pfarreien beeinflusst worden. «Wisst ihr noch, wie sich Deutsch und Welsch zwischendurch geklopft haben?», fragt Schorschi seine Freunde, die er seit Kindheitstagen kennt. Dumm sei dann bloss gewesen, wenn man im folgenden Schuljahr plötzlich ins «Feindesland» zur Schule musste, ergänzt er lachend.
Mit seinen drei welschen Freunden Minet («wie die Katze», Chiffon («der mit den zwei linken Händen») und Bébér (alias Albert) sitze er jeweils montags und dienstags hier im «Tirlibaum», mittwochs und freitags im «Engel» und samstags in der «Sonne». Und donnerstags?«Da dürfen die Frauen ins Apéro.»


Vom Bolz, stellt sich heraus, gibt es zwei Varianten, vielleicht auch hunderte, so viele nämlich, wie es Sprecher gibt: Die Welschen sprechen Bolze, ein mit deutschsprachigen Wörtern gespicktes Französisch, und das Deutschschweizer Bolz entlehnt sich welscher Worte.
«Mon vatre a schlagué le chatz avec un steck», zitiert Minet den Paradesatz für Bolze, den ähnlich wie «ä Ligu Lehm» unweigerlich als Beispiel für Mattenenglisch genannt wird.
Schorschi erinnert sich an ein Lied aus seiner Kindheit:

En descandant le Hügeli,  
le Wägeli c’est cassé   
Dr Voorderredli mits en deux,    
dr Guidon abenand


Er habe schon diverse ältere Leute gefragt, wie das Lied weitergeht, doch niemand könne sich erinnern.
Bolz sei mehr als bloss Folklore. «Bolz spricht man, das kann man nicht lernen», findet Schorschi. Man bediene sich derjenigen Worte, die einem gerade in den Sinn kämen und die einfacher sind. «Nehmen wir das Wort ‹Bindeschnur›. Das sagt hier unten kein Mensch. Das ist eine ‹Ficelle›. ‹Bindeschnur› ist höchstens etwas für die da oben», sagt er und zeigt mit dem Kopf in Richtung Osten, ins Sensegebiet. «Bolz ist eine Faulenzersprache.»
Wer mehr wissen wolle, solle einfach vorbeikommen, am besten während der Bolzer Fasnacht oder des monatlichen Flohmarkts:«Da ist ganz schön was los.»
 

«Lieber Französisch als Hochdeutsch»
Szenenwechsel: Bei der «Ancienne Gare», dem zum Hipster-Treffpunkt umgebauten alten Bahnhof, ist ausschliesslich Französisch zu vernehmen, bis Christina Tschopp eintrifft. Wie Anna Binz stammt sie aus Schmitten und kam nach Freiburg ins Collège, wo sie die «Franz-Basics» lernte. «Wie viele andere habe ich mich anfangs gegen das Französische eher gesträubt und mich als Teil einer Minderheit wahrgenommen.»
Den «Knopf aufgetan» habe sie, als sie am bilinguen Kunstgeschichte-Lehrgang studierte. Und wegen der Liebe:Christinas Freund ist französischsprachig. Er stammt aus Châtel-Saint-Denis, einer Freiburger Gemeinde nahe der waadtländischen Riviera;«stockfranzösisch», sagt Christina Tschopp. Die Ablehnung gegenüber dem Deutschen sei ebenso-gross wie im Sensebezirk gegenüber dem Französischen. Das habe sich seit ihrer Schulzeit nicht verändert: Christina lässt sich derzeit zur Lehrerin ausbilden und unterrichtet in Plaffeien. «Dort finden alle Kinder Französisch scheisse.»

Christina Tschopp. Bild: ab


Am Anfang sei die bilingue Beziehung nicht immer lustig gewesen. Man müsse mehr Geduld aufbringen, es sei ermüdend oder führe zu Missverständnissen. Heute fühle sie sich sehr wohl mit der französischen Sprache. Schwieriger sei es für ihren Freund, für den Deutsch und insbesondere der Dialekt eine Herausforderung darstellt: «Er findet es unangenehm, dass eine Gruppe wegen ihm französisch sprechen muss. Er weiss aber auch, dass viele lieber Französisch als Hochdeutsch sprechen.»
Nun sei er daran, Dialekt zu lernen. Doch welchen Dialekt lernt, wer in Freiburg einen Schweizerdeutsch-Kurs besucht? Eine Anfrage an die Migros-Klubschule blieb unbeantwortet. Bei der Volkshochschule heisst es: Bern- oder Zürichdeutsch – für Seislerdeutsch gebe es keine Lehrbücher.
«Christina, wie zweisprachig ist Freiburg?» «Die Stadt ist eher französisch geprägt», sagt sie. Das stelle sie besonders an den Wochenenden fest, nachdem die deutschsprachigen Studierenden heimgereist seien. Gleichzeitig verspüre sie in den Geschäften eine Verbesserung, was die Deutschkenntnisse angeht. Punkto Zweisprachigkeit werde sich die Stadt in den nächsten Jahren kaum gross verändern, glaubt sie. «Ich fürchte, die Unterstadt könnte mit der Zeit verwelschen.»
Doch vielleicht ist es gerade das dort gepflegte Bolz, das helfen kann, das bilingue Selbstverständnis von der Unterstadt aus in die restliche Stadt zu tragen – solange es von Menschen wie Schorschi oder Marc Henninger gepflegt wird.


Quellen:Rainer Schneuwly:Bilingue. Wie Freiburg und Biel mit der Zweisprachigkeit umgehen, 2019. Bernhard Altermatt:Die Institutionelle Zweisprachigkeit der Stadt Fribourg-Freiburg:Geschichte, Zustand und Entwicklungstendenzen, 2005.

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Fakten zur Freiburger Zweisprachigkeit


- Seit der Stadtgründung im Jahr 1157 wurde in Freiburg Deutsch und Französisch gesprochen (anders als in Biel,  das bei der Stadtgründung deutschsprachig war).
- Als der Kanton 1481 der Eidgenossenschaft beitrat, geriet Französisch ins Hintertreffen.
- Ab 1700 kam es zur kulturellen Wende, und nach dem Einmarsch der Franzosen 1798 wurde Französisch einzige Amtssprache.
- Kantonal wechselt die Amtssprache noch hin und her. Bis 1990 gilt: «Der französische Text ist der Urtext», ab 1991 sind beide Sprachen gleichwertig.
- Bis in die 70er-Jahre sprachen rund 30 Prozent der Bevölkerung Deutsch.
- Heute liegt der Anteil der Deutschsprachigen bei 16,3 Prozent. Werden die Anderssprachigen aussen vor gelassen, liegt das Verhältnis von Französisch- und Deutschsprachigen bei 78,3 respektive 21,7 Prozent.
- In der Stadtregierung sitzen drei Französischsprachige, eine Deutschsprachige und mit Stadtpräsident Thierry Steiert ein Bilinguer.
- Sieben Prozent von insgesamt 800 Stadtangestellten sind deutschsprachig.
- Die Stadt verfügt über kein eigenes Übersetzungsbüro, sondern vergibt jedes Jahr Aufträge im Wert von rund 50000 Franken
- In der Stadt Freiburg ist das Interesse an Immersionsunterricht gross. Laut dem Staatsrat soll bis 2021 an allen Orientierungsschulen des Kantons zweisprachiger Unterricht eingeführt werden.

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Bekannte Freiburger Persönlichkeiten


Alain Berset, Bundesrat
Slawa Bykow, Hockeylegende
Charles Clerc, TV-Moderator
Dominique de Buman, Nationalrat und Alt-Stadtpräsident
Joseph Deiss, Alt-Bundesrat
René Fasel, Präsident der Internationalen Eishockey-Föderation
Gustav, Musiker
Urs Schwaller, Ständerat
Jo Siffert, Rennfahrer
Jean Tinguely, Künstler

 

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«Es ging eine Weile, bis ich merkte: Ich kann hier ja deutsch reden!»


Mehrsprachigkeitsexperte Bernhard Altermatt ist überzeugt, dass die Stadt Freiburg in naher Zukunft offiziell zweisprachig wird.

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Bernhard Altermatt, als ich über die Zweisprachigkeit von Freiburg zu recherchieren begann, hat man mir Sie als Gesprächspartner empfohlen; Sie seien ein Aktivist. Finden Sie das ein passendes Attribut?
Bernhard Altermatt: Wenn man im Stadtparlament sitzt, ist man automatisch aktiver und macht Vorschläge, um die Zweisprachigkeit zu fördern. Weiter bin ich im Verein Kultur Natur Deutschfreiburg und präsidiere das Forum Partnersprachen Freiburg, ein zweisprachiger Verein, der gegründet wurde, um den Bilinguismus zu fördern. Sprachpolitisch bin ich sicher aktiv. Vor allem auch aus historischem Interesse.

Ist Freiburg eine zweisprachige Stadt oder nicht?
Ja, eindeutig. Unter fast allen Aspekten. Der Kanton Freiburg sagt: Die Stadt ist zweisprachig. In der Verfassung steht: La capitale est Fribourg – die Hauptstadt ist Freiburg. Das Kantonsgericht musste mehrmals Urteile zu dieser Frage fällen und kam zum Schluss: Sie ist es. Im Reglement des Stadtparlaments sind beide Sprachen gleichberechtigt vertreten. Die städtischen Schulen wurden schon immer durchgehend in beiden Sprachen geführt. Und die Verwaltung gibt sich zunehmend mehr Mühe, die Zweisprachigkeit zu berücksichtigen. Es gibt aber noch Spielraum für Verbesserungen.

Ausgerechnet das Stadthaus ist bloss einsprachig angeschrieben. Da steht «Maison de Ville», und auch die Informationen sind lediglich auf Französisch verfügbar – ein Symbol für die bislang ausstehende Selbstdeklaration als zweisprachige Stadt.
Die Inschrift ist schon alt; auch beim Bundeshaus gibt es Räume, die nur auf Deutsch angeschrieben sind. Man ist daran, das zu ändern. Jedenfalls sind in Freiburg die meisten Aspekte einer institutionellen Zweisprachigkeit erfüllt. Ein Beispiel aus der politischen Sprachpraxis: Im Parlament werden beide Sprachen gesprochen, aber Französisch natürlich häufiger. In Biel wird es umgekehrt sein. Ein interessanter Unterschied zu Biel und Bern ist übrigens, dass hier sowohl auf städtischer als auch auf kantonaler Ebene die zweite Parlamentssprache Hochdeutsch ist, nicht Dialekt.

Sprechen Sie im Generalrat konsequent deutsch?
Nein, ich wechsle konsequent ab.

Wie viele Ihrer französischsprachigen Kollegen verstehen Sie nicht, wenn Sie deutsch reden?
Es wird eine Handvoll geben, die wenig Deutsch verstehen.

Gibt es Parteien, die eher Welsche oder eher Deutschsprachige anziehen?
Nein. Die Parteien sind hier gemischt, nicht wie in Biel in Sprachgruppen aufgeteilt. Das ist einfacher, bedeutet aber auch, dass die Deutschschweizer immer in der Minderheit sind und sich stärker anpassen müssen.

Wie bewegen Sie sich sprachlich in der Stadt? Sprechen Sie in jedem Geschäft oder Café deutsch?
Ja. Ausser wenn ich schon weiss, dass ich an diesem Ort nicht verstanden werde.

Wie läuft das konkret ab?
Ich betrete den Laden, sage «Grüessech» und bringe mein Anliegen hervor. Antwortet das Gegenüber französisch, wechsle ich auf Hochdeutsch, und wenn es gar nicht geht, spreche ich französisch.

Sie fechten also täglich einen Mini-Sprachkampf aus. Die meisten Deutschfreiburger, mit denen ich gesprochen habe, kommunizieren in der Stadt von vornherein auf Französisch. Haben Sie immer schon konsequent deutsch gesprochen?
Nein, es ging eine Weile, bis ich merkte: Ich kann hier ja deutsch reden! Erstaunlich viele sprechen deutsch. Wer nach ein paar negativen Erfahrungen aufgibt, merkt das gar nicht. Versucht man es jedoch weiter, stellt man plötzlich fest, dass die Frau an der Kasse ja eine Deutschschweizerin ist.

Stossen Sie beim Deutschsprechen auf Ablehnung?
Es gibt schon Menschen, die sich unwohl fühlen, weil sie nicht genug deutsch sprechen. Aber solange sie mich verstehen ... Ich verstehe sie ja, wenn sie mir französisch antworten.

Welchen Dialekt sprechen Sie eigentlich? Meine Ohren vermissen die typisch freiburgische Färbung.
Vermutlich eine Mischung aus Bern-, Solothurn- und Freiburgerdeutsch, je nachdem, mit wem ich spreche. Ich bin in Bern geboren, als Kind von Solothurner Eltern, und dann in der Stadt Freiburg aufgewachsen.

Wie haben Sie Freiburgs Zweisprachigkeit als Kind und Jugendlicher wahrgenommen?
Als Kind habe ich mir natürlich noch keine Gedanken über das Zusammenleben gemacht. Später fand ich immer, es funktioniere recht gut. Das ist aber eine Frage der Generationen: Während bei  älteren Menschen noch gewisse Aversionen vorhanden sein können, werden Sie  kaum jemanden unter 45 finden, der damit noch grössere Probleme hat.

Und das, obwohl praktisch jede Debatte zur Zweisprachigkeit langwierig und durchaus auch gehässig verläuft? Die ewigen Diskussionen, bis der Bahnhof in beiden Sprachen angeschrieben wurde, die Frage, ob die Haltestellen im städtischen Netz übersetzt werden sollen ...
Sensible politische und symbolische Debatten gab und gibt es natürlich immer. Das ist bei Fragen von Kultur, Identität und Zusammenleben normal. Aber nur weil der Bahnhof nicht zweisprachig angeschrieben war, hatte im Alltag niemand Probleme mit den Welschen.

Auch das fehlende zweisprachige Stadtlogo ist so eine Geschichte. Sie haben einen Vorstoss dazu gemacht. Was ist der Stand der Dinge?
Der frühere Stadtpräsident wollte 2013 ein neues, einsprachiges Stadtlogo einführen. Der Vorschlag wurde im Parlament einstimmig zurückgewiesen. Daraufhin hiess es, es werde ein neues Logo ausgearbeitet, was bis heute nicht geschehen ist. Unterdessen ist der neue Syndic, wie hier der «Stapi» heisst, auch schon seit mehreren Jahren im Amt. Deshalb habe ich diese Frage nochmals aufs Tapet gebracht. In der Antwort verwies die Regierung auf die diskutierte Fusion mit acht umliegenden Gemeinden. Man will jetzt zuerst einmal die Fusion abwarten, bevor man die Corporate Identity der Stadt revidiert.

Wieso müsste man das? Die Stadt würde ja sicher weiterhin Freiburg heissen.
Wenn es zur Fusion kommt, wird sicher der gesamte öffentliche Auftritt erneuert. Das kostet rasch viel Geld,  von der Ideenentwicklung bis das Logo auf dem letzten Gemeindefahrzeug drauf ist. Das ist einerseits verständlich und andererseits eine faule Ausrede. Denn wenn die Stadtregierung das neue Logo heute wollte, dann wäre morgen bereits der Auftrag dafür auf dem Tisch.

Fürchten Sie diese Fusion? Der Anteil Deutschsprachiger, der derzeit bei ungefähr 20 Prozent liegt, würde gemäss den «Freiburger Nachrichten» um drei bis vier Prozentpunkte zurückgehen.
Nein, das beunruhigt mich überhaupt nicht. Die Stadt Freiburg würde mit der Fusion zur grössten deutschsprachigen Gemeinde im Kanton mit bis zu 10 000 Deutschsprachigen. Eine solche Gemeinde kann gar nicht anders als zweisprachig sein.

Man könnte aber auch sagen, dass Freiburg mit der Fusion Fakten schaffen möchte und deshalb den Anteil an Französischsprachigen vergrössern will.
Das habe ich noch von niemandem gehört. Aber vielleicht gibt es Deutschschweizer, die denken, es gebe Welsche, die das sagen.

Empfinden Sie Biel als Vorbild für Freiburgs Weg zu mehr Zweisprachigkeit?
Der Blick von Freiburg nach Biel ist immer da. Man schaut, wie es funktioniert, was dort besser läuft und was bei uns. Vieles hängt von den einzelnen Personen ab. Stadtpäsident Hans Stöckli hielt es mit der Zweisprachigkeit anders als seine Vorgänger, und Erich Fehr macht es wieder anders. In den alten Patrizierkantonen Freiburg, Bern und Solothurn sind die Regierungen traditionell sehr mächtig. Wenn starke Persönlichkeiten auf Gemeindeebene am Ruder sind, die mutig sind und bereit, vorwärts zu gehen, dann kommt auch etwas zustande.

Es braucht also die richtige Person im Stadtpräsidium, um die Zweisprachigkeit endlich offiziell anzuerkennen.
Thierry Steiert ist perfekt bilingue und schon mal viel besser als seine Vorgänger. Aber die städtische Schuldirektorin musste man zum Beispiel während fünf Jahren richtiggehend mit Vorstössen bombardieren, damit die Einführung von zweisprachigen Klassen endlich in Angriff genommen wird. Hätte sie vor fünf Jahren gesagt, sie wolle das einführen, dann wäre das schon längst passiert.

Wird Ihr Kind dereinst eine solche Klasse besuchen?
Ich hoffe es, das wäre toll. Im Idealfall wären alle Schulklassen bilingue, im ganzen Kanton. Aber wir haben zwei getrennte Schulsysteme, die kann man nicht plötzlich abschaffen. Freiwilligkeit ist in solchen Fragen immer sehr wichtig, sei es bei Lehrern, Eltern oder Beamten.

Wie sieht Freiburg in zehn Jahren aus?
Es wird eine grössere Stadt sein, fusioniert und gestärkt als zweisprachige Kantonshauptstadt mit zweisprachigem Logo.

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Zur Person
Bernhard Altermatt ist 42 Jahre alt, verheiratet und Vater von einem Kind (jährig)
Er arbeitet an der FernUni Schweiz und an der Universität Freiburg als Historiker mit Schwerpunkt Schweizer Geschichte und Mehrsprachigkeit.
Er sitzt als Präsident der CVP/glp-Fraktion im Generalrat (Parlament). In den letzten Jahren hat der CVP-Politiker immer wieder Vorstösse zur Zweisprachigkeit eingereicht.
Er ist Präsident des Forums Partnersprachen Freiburg und Vorstandsmitglied bei Kultur Natur Deutschfreiburg.
 

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