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«Die Auffassungsgabe nimmt stetig ab»

Nach dem tragischen Vorfall, bei dem ein Geisterfahrer auf der A6 mehrere Unfälle verursachte und starb, stellt sich die Frage: Sind die Fahreignungskontrollen für Senioren streng genug? Ja, findet Allgemeinmediziner Hans-Rudolf Messerli.

Symbolbild: Keystone

Interview: Sheila Matti

Hans-Rudolf Messerli, Sie praktizieren seit 34 Jahren. Wie oft mussten Sie jemanden als fahrungeeignet beurteilen?

Hans-Rudolf Messerli: Eigentlich nur selten. Ich erlebe es viel häufiger, dass Senioren den Führerschein freiwillig abgeben. Oft geschieht dies im Rahmen eines Bagatellunfalls, sozusagen dem Wink mit dem Zaunpfahl: Das zeigt ihnen dann, dass ihre Fähigkeiten einfach nicht mehr reichen.

Aber es gibt auch jene, die uneinsichtig sind.

Ja, auch das kommt vor. Bei Personen mit einer demenziellen Erkrankung etwa ist es schwieriger. Sie können die Situation oft nicht mehr richtig einschätzen. Es gab auch schon Fälle, bei denen die Leute wütend wurden, als ich sie als ungeeignet beurteilt habe. Dann versucht man aber im Gespräch einen Konsens zu finden. Immerhin handelt es sich um eine amtliche Untersuchung, bei der sich jeder an die gleichen Vorgaben halten muss.

Weshalb ist das Thema so emotional?

Das ist schwierig zu sagen. Vielleicht ist es das Gefühl, dass einem etwas weggenommen wird. Die meisten möchten einfach selber entscheiden. Ich kann mich an eine 90-jährige Frau erinnern, die nach einer Streifkollision mit der Polizei zu mir geschickt wurde. Rein aus medizinischer Sicht konnte ich aber keinen Grund feststellen, weshalb sie nicht mehr hätte fahren dürfen, weshalb ich dem Strassenverkehrsamt eine Kontrollfahrt vorgeschlagen habe. Diese hat die Frau ohne Probleme bestanden – nur um danach ihren Führerschein freiwillig abzugeben. Sie wollte einfach selber entscheiden.

Vom Geisterfahrer von vergangenem Samstag weiss man mittlerweile, dass er anscheinend schlecht sehen konnte. Was sind die häufigsten Gründe, weshalb Senioren nicht mehr fahren können?

Die Sehfähigkeit ist sicher der wichtigste Faktor, oft kommen auch Augenerkrankungen hinzu. Dies ist auch der Punkt, der das Strassenverkehrsamt am meisten interessiert: Wie gut sieht die Person? Dazu gehört nicht nur die Sehschärfe, sondern etwa auch das Gesichtsfeld, also ob man auch wahrnimmt, was sowohl im Zentrum als auch am Rand passiert. Weiter gibt es auch psychische Erkrankungen wie etwa eine Demenz, die zur Uneignung führen. Ausserdem wird auch der Blutdruck oder der Blutzucker der Personen gemessen. Das Vorgehen ist klar geregelt.

Die Beurteilung dauert selten länger als 30 Minuten. Reicht diese Zeit aus?

Bei Ärzten ist Zeit immer Mangelware. Ich denke aber schon, dass wir allen gerecht werden. In dieser geringen Zeit erfahren wir schon sehr viel: Kommt der Patient pünktlich? Ist er ordentlich gekleidet? Verhält er sich im Gespräch adäquat? Versteht er unsere Aufforderungen und kann sie entsprechend umsetzen? Läuft er normal? All das sind Informationen, die wir mitnehmen. Aber natürlich handelt es sich nur um eine Beurteilung. Deshalb können wir immer noch ein weiteres Gutachten anordnen, etwa vom Augenarzt oder der Memoklinik.

Laut Gesetz müssen Seniorinnen und Senioren ab dem 75. Lebensjahr alle zwei Jahre zur Kontrolle. Reicht das aus?

Natürlich kann sich der gesundheitliche Zustand einer Person innerhalb von zwei Jahren drastisch verändern, grundsätzlich finde ich alle zwei Jahre aber angemessen. Immerhin gibt es meines Wissens im angrenzenden Ausland keine vergleichbaren Untersuchungen, und dort häufen sich die Unfälle ja auch nicht. Deshalb fand ich es auch verträglich, als 2019 das Kontrollalter von 70 auf 75 angehoben wurde. Ich glaube nicht, dass das Unfallpotenzial in diesen fünf Jahren extrem zunimmt.

Was halten Sie von der Idee, das Autofahren ab einem gewissen Alter komplett zu verbieten?

Das ist eine politische Frage, zu der ich mich kaum äussern kann. Als Arzt kann ich schlecht strenger sein, wenn jemand für sein Alter gut «zwäg» ist. Aber aus medizinischer Sicht muss man sich natürlich bewusst sein, dass die Auffassungsgabe im Alter stetig abnimmt. Auch ein gesunder 80-Jähriger fährt nicht gleich gut wie ein 30-Jähriger. Ob die Politik da aber Restriktionen einführen will, muss sie selbst entscheiden.

Es kommt immer wieder vor, dass ältere Leute durch das Raster fallen und etwa wie am Samstag als Geisterfahrer unterwegs sind. Wieso funktioniert das System nicht?

Vielleicht litt der Fahrer unter einer akuten Verschlechterung oder war sonst eingeschränkt. Diesen spezifischen Fall kann und möchte ich nicht beurteilen. Ich selbst halte unser System aber für solide. Natürlich: Die ärztliche Beurteilung ist immer nur eine Momentaufnahme. Aber auch mit strikteren Kontrollen könnte man das Risiko wohl nicht auf null senken. Letzten Endes appelliere ich an die Selbstverantwortung der Menschen: Wer merkt, dass er nicht mehr gut fährt, sollte sich beurteilen lassen oder den Führerschein abgeben.

Was für Warnzeichen gibt es, an denen man sich als Privatperson orientieren kann?

Als Faustregel gilt: Wer den Alltag noch selbstständig bewältigen kann, ist meistens auch noch fahrfähig. Wobei die Betonung auf meistens liegt. Wenn man den Haushalt meistern kann und etwa die Zahlungen selbstständig erledigt, ist man eher auf der sicheren Seite. Wer dabei Hilfe benötigt, sollte auch beim Autofahren genauer hinschauen.

Und was kann ich als Familienangehöriger tun, wenn ich merke, dass die Fahreignung einer Person langsam abnimmt?

Es kommt oft vor, dass Leute auf den Rat eines Familienmitglieds zu mir zur Beurteilung kommen. Das ist natürlich begrüssenswert – vorausgesetzt natürlich, es kommt dadurch nicht zu Streitereien (lacht). Was ich Angehörigen auch gerne empfehle, sind Fahrkurse zur Auffrischung: Diese eigenen sich gut als Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenk. Sicher besser als eine Flasche Wein.

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Zur Person

Hans-Rudolf Messerli (66) leitet seit 34 Jahren eine Praxis für Allgemeinmedizin in Burgdorf. Ebenso lange amtet er als Vertrauensarzt für das kantonale Strassenverkehrsamt – ein Posten, den er von seinem Vorgänger übernommen hat. Bis zu fünf Mal pro Woche beurteilt Messerli Personen nach deren Fahrtüchtigkeit. Neben älteren Personen sind dies insbesondere auch Berufschauffeure wie etwa Lastwagenfahrer. Früher arbeitete er zudem als Anstaltsarzt in der Strafanstalt Thorberg. Im kommenden Jahr wird Messerli pensioniert. sm

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