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Standpunkt

Es geht um Solidarität

Wir sollen weiterhin arbeiten, auch im Grossraumbüro. Wir dürfen weiterhin reisen, auch im überfüllten Pendlerzug. Wir können weiterhin einkaufen gehen, auch zur Wochenend-Shopping-Stosszeit am Samstagnachmittag.

Symbolbild: Keystone

Tobias Graden, 
Teamleiter Kultur und Wirtschaft

Wir konnten selbst die letzten Tage noch Veranstaltungen besuchen, sofern die Teilnehmerzahl nicht zu gross war, auch wenn diese in einem stickigen Club mit engem Körperkontakt stattfanden. Kurzum: Von der «besonderen Lage», die derzeit herrscht, ist im Alltag gar nicht allzu viel zu spüren, und die allermeisten von uns haben sich bislang weder mit dem Coronavirus angesteckt noch sind wir in Quarantäne geschickt worden.

Und da sollen wir keine Fussball- oder Eishockeyspiele besuchen dürfen, keine Hallenstadionkonzerte oder grosse Messen? Das ist auf den ersten Blick schwer nachvollziehbar, zumal es tendenziell jüngere Menschen sind, die solche Veranstaltungen besuchen – und bei diesen nimmt eine Corona-Erkrankung zumeist einen milden Verlauf. Besonders in der Veranstalterbranche und Kulturszene ist darum die Kritik an den Verboten gross. Das ist grundsätzlich verständlich – die temporären Einnahmenausfälle sind brutal, und die Forderung nach allfälliger Unterstützung ist legitim. Aber die Art der Diskussion und die Qualität der Argumente ist gerade in diesen Kreisen bisweilen bedenklich.

So ist sich die SMPA, der Verband der Konzert-, Show- und Festivalveranstalter nicht zu blöde, in ihrer Mitteilung zu behaupten, das Virus sei «gemäss Angaben unserer Behörden nicht gefährlicher als eine saisonale Grippe» und führt als Beleg dafür ein einziges Interview eines Kantonsarztes im «Zofinger Tagblatt» an. Die Stellungnahme wird von der Kulturszene in sozialen Medien aberhundertfach geteilt. Darum, liebe Kulturleute und Veranstaltende und sonstige Besserwisser, die Ihr das offenbar noch nicht mitgekriegt habt, hier drei wichtige Punkte zum Mitschreiben:

1. Im Gegensatz zur normalen Grippe gibt es gegen das Coronavirus noch keinen Impfstoff; die Möglichkeit, sich (und andere) eigenverantwortlich davor zu schützen, ist also beschränkt.

2. Das Coronavirus ist deutlich ansteckender als das normale Grippevirus.

3. Die Sterberate ist beim Coronavirus deutlich höher als beim normalen Grippevirus.

Die Kombination dieser drei Faktoren sorgt dafür, dass es sich eben gerade NICHT um eine Krankheit wie die normale Grippe handelt. Das ist keine Prophezeiung sinistrer Weltuntergangspropheten, sondern gegenwärtiger wissenschaftlicher Konsens auf Basis des derzeit verfügbaren Wissens. Wer diesen mit Verweis auf einzelne abweichende Stimmen in Frage stellt, argumentiert mit der gleichen Logik wie die Leugner des menschengemachten Klimawandels, in deren Nähe sich die meisten Kulturschaffenden wohl nur ungern wiederfinden dürften.

Auch ist die Kommunikation bisweilen übertrieben alarmistisch. So schreibt Sonart, der Verband der freischaffenden Musikerinnen und Musiker über deren momentane Situation: «Gagenausfälle in dieser entscheidenden Phase (während der Konzerte gegeben werden, Anm. d. Red.) können sie rasch an den Rand der Existenznot führen.» Auch hier: Der zeitweilige Verlust von Geld ist gerade in der gewiss nicht überbezahlten Musikbranche überhaupt nicht lustig. Bedenken darf man gleichwohl, dass mutmasslich der geringere Teil der Musikschaffenden sich nur gerade auf das Konzertieren als einziges Standbein stützt. Vor allem aber auch, dass es zu einem guten Teil die öffentliche Hand und Stiftungen sind, die mittels direkter und indirekter Subventionen und Unterstützung den Kulturschaffenden die wirtschaftliche Existenz überhaupt erst ermöglichen.

Am stossendsten schliesslich ist das verständnislose Wehklagen des Ausgehpublikums, das sich für eine Zeitlang um seine Zerstreuungsmöglichkeiten betrogen sieht. Es hat nichts mit Whataboutism zu tun, wenn man hier zu etwas mehr Demut aufruft – und zu Solidarität. Wer jung ist, hat selber kaum Gravierendes zu befürchten bei einer Ansteckung. Wer sich deswegen um die verhängten Massnahmen und Empfehlungen foutiert, beschleunigt und verstärkt die Verbreitung des Virus‘. Die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems wird dadurch grösser, ebenso steigt die Wahrscheinlichkeit von Todesopfern in den Risikogruppen. Darum: Wer sein Freizeitvergnügen höher gewichtet als den Schutz der Mitmenschen, ist schlicht ein hedonistischer Egoist.

tgraden@bielertagblatt.ch

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