Sie sind hier

Abo

Alt und Jung

Zum Glück ist die Welt so kompliziert

«Die Wahrheit ist simpel. Alles Komplizierte ist eine fette Lüge». Diesen Satz warf mir der Influencer und Komiker Gabirano vor Kurzem via mein Smartphone-Display an den Kopf.

Luca Brawand alias Landro

Diese Aussage ist definitiv nicht die fragwürdigste aus seinem zwölfminütigen Video auf Instagram, dafür müsste man sprich- und wortwörtlich tiefer unter die Gürtellinie greifen, jedoch meiner Meinung nach diejenige, die diese Art von Denken am besten und auf eine selbstentwaffnende Weise auf den Punkt bringt. Realität ist gleichzeitig aber auch, dass Gabirano auf Instagram 131000 Follower hat. Das SRF wiederum veröffentlichte diesen Monat einen Dokumentarfilm mit dem Titel «Warum ist die Schweiz so reich?». Gleich zu Beginn des Films fällt der Satz: «Die Welt ist zu komplex für einfache Antworten.»


Wir leben im 21. Jahrhundert in einer Welt der unsichtbaren Gefahren. Wenn vor 50000 Jahren ein Säbelzahntiger vor der Höhle stand, war das zwar nicht besonders angenehm, man wusste jedoch, womit man es zu tun hatte. Heute aber leben wir in unserer behüteten westlichen Welt grösstenteils abseits von Dingen wie Krieg und Elend (und Säbelzahntigern). Wir bewegen uns im Internet, kommunizieren über Smartphones und werden bedroht von einer Pandemie und dem Klimawandel. Diese Dinge kann man aber alle nicht wirklich sehen und anfassen. Darin liegt nun auch der wesentliche Unterschied zum Säbelzahntiger: Wenn ein Raubtier vor einem steht, kann man das nicht abstreiten. Unsichtbare Dinge jedoch schon. Das bietet natürlich viel Nährboden für Falschinformationen, was zu einem naiven «Ach, so schlimm ist das sicher nicht» bis zu waschechten Verschwörungstheorien führen kann. Gerade in Bezug auf die Pandemie wuchern Verschwörungstheorien wie wild und der Klimawandel ist zwar mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen, wird von gewissen Seiten aber immer noch oft und gerne relativiert.


Die «unsichtbaren Gefahren» funktionieren aber auch andersherum. Nehmen wir beispielsweise das Thema 5G: Hier negieren die empörten Leute nicht eine reale Gefahr, sondern sie erfinden eine. In diesem Fall die «bösen Strahlen», die wir nicht sehen können. Der Grossteil der Wissenschaft ist sich aber einig, dass aktuell keine Evidenz besteht, wonach 5G eine gesundheitsschädliche Wirkung hat. Natürlich hätte auch ich nichts gegen eine Langzeitstudie, jedoch würden wir noch heute in Kutschen fahren, bräuchte es für jede technologische Innovation eine 20-jährige Feldphase. Aber seien es nun Räucherstäbchen-Sorgen wie 5G oder eine weltweite Pandemie, eines haben alle diese unsichtbaren Gefahren gemeinsam: Sie sind zu komplex für die meisten von uns. Ich persönlich bin nämlich weder Virologe noch Klimaforscheroder Professor für Informatik an der ETH – ich weiss nicht, wie es bei Ihnen aussieht. Folglich sind auch wir darauf angewiesen, gewissen Institutionen Vertrauen schenken zu können. Wir müssen also an die Institutionen glauben und nicht an das Wissen per se. Denn funktioniert beispielsweise eine Universität einwandfrei, können wir darauf vertrauen, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse durch genügend Kontrollinstanzen, Prüfverfahren und akademische Richtlinien liefen, bevor sie der Öffentlichkeit als Tatsache präsentiert werden. Wir müssen also weder selbst Klimaforscher oder Klimaforscherin sein noch der Person hinter der Studie glauben – wir müssen der Wissenschaft vertrauen.


Das Problem ist, Verschwörungstheoretiker wie Gabirano glauben an alles und nichts. An die Wissenschaft augenscheinlich nicht, den Medien nur wenn sie einem positiv gesinnt sind und der Regierung schon gar nicht. Dafür glauben sie daran, dass wir alle von einer geheimen und verschwörerischen Elite gelenkt werden. Also eine weitere unsichtbare «Gefahr». Wenn man sich dann die vielen positiven und zustimmenden Kommentare unter solchen Beiträgen ansieht, gibt einem das schon zu denken. Es scheint heute also wichtiger zu sein denn je, sich auf Fakten zu verlassen, sich von keinem Gewusel den Kopf verdrehen zu lassen und mit Leuten zu sprechen, die das doch tun. Letztlich bleibt zu hoffen, dass das Internet auch in diesem Fall ein verzerrtes Bild der Realität abgibt und die Lage nicht so ernst ist, wie sie scheint. Denn das ominöse Video von Gabirano hat zwar rund 60000 Aufrufe – die SRF Doku jedoch über 330000. In solchen Momenten gewinne ich wieder kurz den Glauben an die Menschheit und denke mir: Zum Glück ist die Welt so kompliziert.


Info: Der 24-jährige Bieler Luca Brawand ist Musiker und hat einen Bachelor in Kommunikationswissenschaft und Medienforschung. 2018 hat er seinDebütalbum herausgegeben. LetztenDezember folgte die EP «Lonely Hearts Club Band».

Stichwörter: Alt und Jung, Luca Brawand

Nachrichten zu Fokus »