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Luca Brawand

Luca Brawand

Bei durchschnittlich viereinhalb Punkten stünde ich bereits auf der Kippe und bei vier wäre dies meine letzte Kolumne. Obschon dies einige Leserinnen und Leser möglicherweise frohlocken lassen würde, ist es beim genaueren Hinsehen vielleicht doch nicht so eine gute Idee – und trotzdem in vielen Jobs bereits Realität.

Wir leben in einer Welt der Bewertungen: Das Restaurant wählen wir mithilfe von Google aus, auf Social Media messen wir uns an Followers und Likes, der Elektronikfachhändler möchte nach der Bestellung noch ein Feedback und auf Dating-Plattformen bestimmt man innert Bruchteilen einer Sekunde mit einem Fingerwisch darüber, ob einem jemand gefällt oder nicht. Es ist also gewissermassen ein Teufelskreis: Zum einen verflucht man das ständige Bewerten, auf der anderen Seite verlässt man sich aber selbst auf die Sterne und Punktzahlen bei der eigenen Entscheidungsfindung. In diesen Momenten stellt sich bei mir oft die Frage: Wer bewertet all diese Dinge überhaupt?

Ich persönlich kann mich nämlich nicht daran erinnern, bereits einmal freiwillig oder gar aus Spass an der Sache etwas im Internet bewertet zu haben. Das gleiche gilt für das Schreiben von Kommentaren auf Sozialen Netzwerken. Die allermeisten Leute kommentieren auf Social Media nämlich nur selten und sind in der Regel eher stille Beobachter. So sind es oft Personen mit sehr starken Meinungen oder einem ausgeprägten Mitteilungsbedürfnis, die im Internet am lautesten schreien, was wiederum das Abbild der Gesellschaft als Ganzes verzerrt. Das heisst konkret, ein Hotel wird auf Google Maps vor allem von Leuten bewertet, die es entweder entsetzlich oder hinreissend fanden. Alle anderen machen sich gar nicht erst die Mühe.

Trotzdem muss auch ich mir selbstkritisch eingestehen, dass mich diese Bewertungen teilweise beeinflussen. Solange ich jedoch am Ende immer noch selbst über meine Wahl entscheiden kann, passt das für mich. Der wirklich kritische Punkt der Bewertungen kommt ins Spiel, sobald die Bewertungen einen negativen Einfluss auf das Leben einzelner Personen haben.

Im chinesischen «Social Scoring»-System ist dies bereits Realität. Für gesellschaftlich «gutes» Verhalten gibt es Punkte auf das Konto, bei «schlechtem» Handeln werden welche abgezogen. Wer zu oft den Hundekot liegen lässt oder in einen Streit mit den Nachbarn gerät, läuft Gefahr, langfristig keine Flug- oder Zugtickets mehr kaufen zu dürfen.

Was wie eine Dystopie aus dem Kino klingt, ist in China Tatsache.

Während wir dieses System oftmals aufs Schwerste verurteilen, schleichen sich bei uns im Westen jedoch Prozesse ein, die diesem sehr ähnlich sind. Ein Beispiel dafür ist Uber: Nach jeder Fahrt mit dem Taxidienst muss man die Fahrerin oder den Fahrer mit ein bis fünf Sternen bewerten. Ist die Bewertung zu schlecht, verlieren die Fahrer ihre Berechtigung auf der App und somit ihren Job. Die Bewertung hat also einen direkten Einfluss auf ihr Leben.

Wie tief muss denn die durchschnittliche Bewertung bei Uber sein, damit man gesperrt wird? Vielleicht ein oder zwei Sterne? Nein, tatsächlich reicht es, wenn der Durchschnitt unter 4,6 liegt. Uber erwartet dementsprechend, dass man jedes Mal, wen man zufrieden ist, fünf Sterne vergibt. Aber sind wir ehrlich, es ist keineswegs intuitiv, bei Zufriedenheit jedes Mal die Bestnote vergeben zu müssen. Würde ich irgendwo vier von fünf Sternen geben, hätte ich persönlich das Gefühl, eine gute Note erteilt zu haben – und nicht den Job von jemandem zu gefährden.

Es gibt aber natürlich auch den umgekehrten Weg. Wenn die Leute schon so bewertungsgläubig sind, kann das natürlich auch zum eigenen Vorteil genutzt werden. Der britische «Vice»-Journalist Oobah Butler hat es beispielsweise einmal mit Fertiggerichten und ohne Gäste zum beliebtesten Restaurant in London geschafft. Alles was er dafür brauchte, waren ein paar schöne Fotos und viele positive Fake-Kommentare auf Trip-Advisor. Das Resultat war eine Flut an Anfragen und Reservationen für das imaginäre Restaurant sowie der erste Platz auf der Bestenliste für Londoner Restaurants. Und das alles mit der Macht von Bewertungen.

Bei Bewertungen muss man also in vielerlei Hinsicht vorsichtig sein. Zum einen sollte man ihnen nicht blind folgen, denn man weiss nie, wer das genau bewertet hat. Zum anderen sollte man, wie das Beispiel von Uber zeigt, bewusst mit Bewertungen umgehen und sich klar machen, wann möglicherweise gar das berufliche Schicksal einer Person davon abhängt.

Zu guter Letzt täten wir vielleicht gar nicht so schlecht daran, für einmal nicht alles bewerten zu müssen, sei es nun im Internet oder im echten Leben. Denn manchmal gibt es Dinge im Leben, die sind nicht besser oder schlechter als andere.

Sondern einfach nur anders.

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