Niklaus Baschung
Umrunden das Kap der guten Hoffnung. Die Wellen rollen im Zwei-Sekunden-Takt auf uns zu und brechen mit einer weissen Schaumkrone über den Bus hinweg. Die Reisetabletten sind eine grossartige Erfindung. Sie versetzen Körper und Geist in einen schlummernden Dämmerzustand, vermischen Traum und Wirklichkeit.
Der Buschauffeur muntert über den Bordlautsprecher mit dem Hinweis auf, dass wir nun zu den ältesten Bikinimädchen der Weltgeschichte fahren, fast 2000 Jahre alt. Ob diese Ankündigung für die Reisegruppe – Durchschnittsalter 65, mehrheitlich Frauen – einen grossen Trost bedeutet?
Wahrscheinlich wurde etwa zur selben Zeit wie die römischen Mosaikbilder auch diese Autobahn gebaut. Sie schlängelt sich wegen des unsicheren Untergrunds auf Stelzen quer durch die sizilianische Landschaft. Zusammengestellt aus einzelnen Betonplatten mit Fugenspalten, die im Lauf der Jahrhunderte grösser und unebener geworden sind, verwandelt sie den Bus in ein schwankendes Schlachtschiff. Hoffentlich fällt kein Mitpassagier, keine Mitpassagierin durch eine dieser Spalten, sonst haben wir wieder Mühe mit dem Zählen.
Denn gestern, am ersten Reisetag nach dem Besuch der wunderschönen vergoldeten Kathedrale, waren wir plötzlich drei Personen zu wenig. Die lokale Reiseführerin zählte uns mehrmals ab: unter der strahlenden Sonne, im Schatten, auf dem Rückweg zum Bus. Wir trugen wegen Corona die meiste Zeit Masken, kannten uns also selber nicht. Eine Mitreisende vermutete, «dass wir gar nicht so viele sind, wie wir sind». Der Buschauffeur klärte dann auf, dass drei Personen erst am Abend zur Reisegruppe stossen werden und nummerierte uns vor und im Bus noch zweimal durch. Nun waren wir plötzlich eine Person zu viel. Ein Wunder! Ich vermute seither stark, dass wir mehr sind, als wir sind.
In der römischen Villa, die zum Unesco-Kulturerbe gehört, sind auf 3500 Quadratmeter grossen Fussbodenmosaiken Wagenlenker im Gymnastikraum abgebildet, Elefanten, die verschifft werden, fischende Putten im Speisezimmer, Zyklopen im Vestibül, Hirschjagden, Panther, Nashörner, Gazellen. In Einerkolonnen werden die zahlreichen Besuchsgruppen auf Laufstegen hintereinander durch die Anlage geschleust. Am zweiten Reisetag kenne ich die Mitglieder der eigenen Reisegruppe immer noch kaum. Laufe nun als Letzter mit. Da fragt hinter mir ein Tourist einer anderen Gruppe: «Wo si jetzt diä cheibä Bikini-Meitschi?» Auch das noch: ein Schweizer. Abgelenkt versuche ich, eine Vermischung der Gruppen zu verhindern, und nehme diese knapp bekleideten römischen Sportlerinnen kaum wahr.
Dafür sind wir vor der Rückreise ins Hotel nach dreifachem Durchzählen doch tatsächlich so viele Personen, wie wir bei der Abfahrt gewesen sind. Und das allein ist eine fünfstündige Busreise hin und zurück auf hoher See mehr als wert.