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BT-Schreibwettbewerb

Schwarzwild

von Andrea Tanner

Bild: Peter Samuel Jaggi
  • Dossier
«Wie, alle tot?» Die Gegensprechanlage meines in die Jahre gekommenen Ford Kugas rauschte bedrohlich und verschluckte die Hälfte der schwer gesprochen Worte, bis die Verbindung vollständig abriss und die unverkennbare Stimme von Ed Sheeran durch den Auto-Lautsprecher drang. Mein Navigationsgerät wies mich auf eine mit Ampeln ausgestattete Abzweigung hin. Ich bog in die Seestrasse ein und folgte dem Weg, vorbei an herrschaftlichen Villen bis zur Mörigenbucht. Die Schranke vor dem Parkplatz stand offen. Bis auf einen Jeep Cherokee war der ganze Platz leer. Im Licht meiner Scheinwerfer waberten dicke Nebelfetzen über den Schotterboden und die angrenzenden Felder. Den Bielersee konnte ich nur schemenhaft durch die Finsternis am Ende der Bucht erahnen. Im Hafen schaukelten einige Boote im sanften Rhythmus der Wellen hin und her. Es herrschte eine düstere Stimmung, die meine vage Vorahnung, warum ich in aller Herrgottsfrühe an einem Sonntagmorgen durch einen Anruf meiner Abteilung aus dem Schlaf gerissen wurde, untermalte. 
 
Wie aus dem Nichts tauchte aus der Dunkelheit der Lichtkegel einer Taschenlampe auf und gleich darauf die Umrisse einer kräftigen, grossgewachsenen Person. «Haben Sie mich eben angerufen?», bellte ich in die morgendliche Stille hinein. «Ich bin Jan Grosjean vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen.»
 
«Ja, ich bin Curdin Dumeng, der Wildhüter. Hallo.» Er streckte mir seine kräftige Hand entgegen. «Wenn Sie wollen, einfach Curdin.» Ich nickte und spürte eine leichte Anspannung in mir hochsteigen.
 
«Gehen wir, sie liegen gleich da drüben.» Curdin zeigte flüchtig mit der Hand in Richtung See. Ich schnappte mir meine Umhängetasche vom Rücksitz meines Wagens und folgte ihm wortlos durch das nasse, kniehohe Gras in die Dunkelheit. Nach wenigen Schritten führte er mich auf einen schmalen Trampelpfad umgeben von hochwüchsigem Schilf. Der Pfad wurde mit jedem Meter unwegsamer, bis sich plötzlich eine kreisförmige Lichtung vor uns auftat. Im fahlen Licht der Morgendämmerung bot sich mir ein grässlicher Anblick. Auf der Lichtung vor mir lagen mehr als ein Dutzend leblose Wildschweinkörper. Weibliche Tiere, Keiler und ein Muttertier mit Frischlingen. Einige lagen als Gruppe dicht beisammen, ein paar wenige alleine am Rande des Schilfkreises. Es wirkte, als hätten sie vergebens versucht, den Ort des Grauens zu verlassen. Während ich die ganze Szenerie erst auf mich wirken lassen musste, trieb mir die Bise die Kälte ins Gesicht. Ich wünschte mir, wenigstens meine Mütze eingepackt zu haben und ein paar wärmende Handschuhe. Ganz allmählich verstärkte sich das Licht und die Umgebung nahm sattere Konturen an. Der Morgen erwachte, still und leise. 
 
«Wann haben Sie die Wildschweine gefunden?» Meine Stimme klang trotz meiner aufsteigenden Unruhe gefasst. Ich ging in die Hocke und beugte mich über eines der toten Tiere. Aus meiner Tasche kramte ich ein paar Einweghandschuhe und zog sie mir über meine eiskalten Finger. Die Ohren des Tieres zeigten blaue Verfärbungen, ebenso die weiteren Extremitäten. Die Zunge hing schlaff aus dem Mund, eingefasst von weissem Schaum, der eine schleimige Lache gebildet hatte auf dem sumpfigen, kalten Untergrund. «Ich habe die Tiere vor ungefähr zwei Stunden hier entdeckt», hörte ich Curdin jetzt sagen. «Die Tiere, wir nennen sie auch Schwarzwild, werden regelmässig überwacht und die Bestände geprüft. Es gibt noch eine weitere Herde Richtung Hagneck-Kanal. Die Tiere sind hier seit Jahren im Naturschutzgebiet heimisch.» Er legte eine Pause ein. «Könnten sie vergiftet worden sein?» Curdin sah mich fragend an. Ich beugte mich über ein weiteres totes Tier. 
 
«Ich glaube kaum, dass wir es hier mit einer Vergiftung zu tun haben. Ganz ausschliessen lässt es sich aber nicht. Haben Sie einen begründeten Verdacht?» Er schüttelte den Kopf. «Es ist kein Geheimnis, dass die ansässigen Landwirte nicht allzu gut auf die Tiere zu sprechen sind. Wir suchen immer wieder den Dialog und bieten ihnen Lösungsvorschläge an. Am Ende können wir aber nie alle zufriedenstellen.» Wieder machte er eine Pause, bevor er weitersprach. «Wenn es also keine Vergiftung ist, was zur Hölle dann?» Wir sahen uns stillschweigend an. 
 
«Wann haben Sie die Tiere das letzte Mal lebend gesehen?» Ich richtete mich auf und spürte schmerzhaft meine von der Kälte steif gewordenen Beine. Es war bitterkalt für einen Märzmorgen. Ich wollte gerade meine Frage wiederholen, aber Curdin kam mir zuvor.
«Gegen halb drei Uhr in der Früh.» Er hielt inne. «Da waren alle noch quietschfidel.» Curdin schob seine Taschenlampe in die Jackentasche. «Wie gesagt, etwa alle zwei bis drei Wochen kontrolliere ich die Gruppe in der Nacht. Die Herde hat sich beim hinteren Feld aufgehalten, da wo noch keine Schutzzäune stehen. Es war alles unauffällig.»  
 
«Das heisst», ich sah auf meine Armbanduhr, «dass die Wildschweine zwischen halb drei und vier Uhr am Morgen gestorben sind. Sie haben nach dem Fund sofort bei der Zentrale angerufen, richtig?» Curdin nickte nur. «Ich vermute, wir haben hier einen akuten Verlauf der ASP. Es muss die ganze Gruppe innerhalb kurzer Zeit erwischt haben.» Curdin starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
 
«Sie denken, die Wildschweine sind der Afrikanischen Schweinepest zum Opfer gefallen?» Er lachte spöttisch, worauf er ungläubig den Kopf schüttelte.
 
«Ja, davon gehe ich aus.» Ich nestelte, genervt über die Reaktion Curdins, nach meinem Telefon in der Jackentasche und wünschte mir gleichzeitig nicht derjenige zu sein, der diesen verdammten Pikett-Dienst ausgerechnet dieses Wochenende innehatte. Ich musste schnellstmöglich die Zentrale in Bern verständigen. Das hier, war mir jetzt schon bewusst, würde einen Riesenwirbel auslösen, falls sich meine Vermutung bestätigen sollte.
 
«Sie haben die Schweine nicht berührt, nehme ich an?» Curdin zog genervt die Augenbrauen hoch. «Nein, ich bin ja kein Idiot!» Ich bedachte ihn mit einem strengen Blick, den er nicht erwidern wollte, stattdessen liess er ertappt seine Hände in den Hosentaschen verschwinden. 
 
Nach knapp zehn Minuten hatte ich mein Telefonat mit Bern beendet. Curdin stand noch immer unverändert an Ort und Stelle und schien in Gedanken. «Die in Bern werden nun schnellstmöglich den Bestandestierarzt zur Seuchenabklärung aufbieten. Das kann eine Stunde dauern. Besteht die Chance, das wir hier irgendwo einen Kaffee bekommen?» Curdin krempelte seinen Jackenärmel nach hinten und schaute auf seine Armbanduhr. «Ja, vielleicht im Bistro vorne. Wenn wir Glück haben, ist Judith oder Christoph da.»
 
Mit einem dampfend heissen Kaffee hockten wir auf den Stufen der Veranda und starrten stillschweigend in die Bucht hinaus. Selten hatte sich ein Kaffee so gut angefühlt wie dieser hier. Der zähe Morgennebel über dem See und der Bucht hatte sich verzogen und den Blick aufs Wasser freigegeben. Im Hintergrund ragte eindrucksvoll die Jurakette in die Höhe, noch eng umhüllt von einer tristen Wolkendecke. 
 
Curdin erhob sich, er sah auffällig blass aus. «Irgendwie bekommt mir der Kaffee heute Morgen nicht.» Er schwankte leicht und stützte sich an einem der Tische ab. «Alles in Ordnung?» Er nickte. Im selben Moment flatterten seine Augenlider, er verlor die Kontrolle über seinen Körper und kippte vornüber auf die Holzveranda. 
 
«Curdin!» Ich schoss hoch. «Scheisse noch einmal!» Ich kniete mich neben ihn und wollte ihn umdrehen, als ich meine Hände intuitiv wieder zurückzog. «Scheisse, scheisse, scheisse!» Ich stürzte zu meiner Tasche und zog mir in Windeseile neue Einweghandschuhe an und stülpte mir eine Gesichtsmaske über Mund und Nase. Aufmerksam geworden durch den lauten Aufprall Curdins, stand nun auch der Bistrobesitzer hilflos vor mir. «Rufen Sie den Rettungsdienst! Schnell!» Ich hatte kaum zu Ende gesprochen, hörte ich ihn bereits die Nummer wählen.
 
«Curdin, hören Sie mich?» Ich drehte ihn in eine stabile Seitenlage und fühlte nach dem Puls. Da war kein Puls. Nichts. Aus seinem Mund lief weisser Schaum. Rabiat drehte ich ihn auf den Rücken und fing mit der Wiederbelebung an. Meine Gedanken rasten vor Erregung, während ich kraftvoll und im Takt meine Hände auf seinen Brustkorb drückte. Weit entfernt hörte ich die Sirenen des Rettungswagens über den See hallen. Ich reanimierte weiter, im Bewusstsein, dass der Kampf um Leben und Tod bereits verloren war.
 
Die beiden Rettungssanitäter deckten Curdin mit einem weissen Laken zu. Ich stand nur wenige Meter daneben und trank meinen dritten Kaffee an diesem hässlichen Sonntagmorgen. Zwei Polizisten redeten mit Christoph, dem Bistrobesitzer, und nahmen alles zu Protokoll. Was nicht viel sein dürfte. Endlich passierte ein schwarzer Audi die Schranke des Parkplatzes. Ich stellte die Tasse auf einen mit Blumen geschmückten Bistrotisch und steuerte mit schnellen Schritten auf den Wagen zu. «Hey! Warum zum Teufel hat das solange gedauert?» Die junge Frau bedachte mich mit einem frostigen Blick. «Sie sind?» «Jan Grosjean, Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen.»
 
«Mir wurde am Telefon nicht mitgeteilt, dass es sich hier um einen Notfall handelt. Ist es das denn? Ein Notfall?» Ich spürte, wie ich kurz davor war, meine Beherrschung zu verlieren. «Hören Sie, wir haben da hinten im Schilf etwa ein Dutzend toter Wildschweine, und da vorne liegt ein toter Wildhüter auf der Bistroveranda.» Ich gab mir Mühe, nicht hysterisch zu klingen. «Ich denke also, unter den gegebenen Umständen, ist es tatsächlich ein Notfall!» Sie sah mich unbeeindruckt an. «Was hat der tote Wildhüter mit den Wildschweinen gemeinsam?» Ich fuhr mir verzweifelt durch die Haare. «Das wissen wir noch nicht. Ich … ich hatte die Vermutung, dass wir hier einen Ausbruch von ASP haben.» Ihre Augenbrauen hoben sich interessiert. «Jetzt bin ich mir aber nicht mehr so sicher.» 
 
«Na gut», ihre Gesichtszüge wurden sanfter, «fünf Minuten und ich bin startklar.» Ohne weiter auf mich einzugehen, streifte sie sich mit routinierten Handgriffen den Schutzanzug über und steckte ihre Füsse in ein paar olivgrüne Gummistiefel. Sie griff nach einem schwarzen, ziemlich vollgepackten Rucksack. «Gehen wir! Ich bin übrigens Yasmin Graf.» Sie schenkte mir ein einnehmendes Lächeln.
 
Nach einer guten halben Stunde, in der Yasmin konzentriert einige Proben entnahm, brach sie ihr Schweigen. «Ich denke, Sie liegen wirklich richtig mit der Annahme, dass es sich um die Afrikanische Schweinepest handeln dürfte. Die äusseren Merkmale sprechen ohne Zweifel dafür.» Sie legte ihre Stirn in Falten. «Sobald die Proben ausgewertet sind und ich die Laborwerte zur Verfügung habe, werden wir mehr wissen.»
 
«Ist eine Übertragung vom Tier auf den Menschen denkbar?» Sie schüttelte den Kopf. «Eine Zoonose bei einem ASP-Virus ist mir nicht bekannt. Er gilt als absolut ungefährlich für den Menschen.»
 
«Was, wenn nicht?» Sie sah mich skeptisch an. «Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass der tote Wildhüter an demselben Virus wie die Wildschweine gestorben ist?» Sie wirkte belustigt über meine Vermutung. Ich zuckte mit den Schultern, fühlte mich mit einem Schlag erschöpft und hundemüde.
 
«Das kann unmöglich sein.» Sie schüttelte energisch mit dem Kopf. Dabei löste sich eine Strähne aus ihrem streng zusammengebundenen Dutt. «Als…», ich atmete scharf ein, «als Curdin, der Wildhüter, am Boden lag, lief ihm weisser Schaum aus dem Mund. Derselbe Schaum wie bei den Wildschweinen, die hier mausetot vor unseren Füssen liegen!» Yasmin packte ihre entnommenen Proben in den Rucksack. «Wissen Sie, ob er ohne Schutzvorkehrung eines der Wildschweine berührt hat?» 
 
«Er hat es mir gegenüber verneint. Nicht glaubwürdig genug für meinen Geschmack», setzte ich nach. «Das kann ich nicht beurteilen. Trotzdem, eine Übertragung ist praktisch ausgeschlossen und wurde noch nie beobachtet. Sehr wahrscheinlich ist alles ein tragischer Zufall.» 
 
«Hören Sie, ich bin jetzt hier fertig und ich schlage Ihnen vor, Sie gehen auch nach Hause und geniessen den Rest von ihrem angebrochenen Sonntag.» Sie wandte sich zum Gehen, drehte sich jedoch noch einmal zu mir um. «Falls Sie recht haben», sie schloss kurz ihre Augen, um sie gleich wieder zu öffnen, «haben wir die Büchse der Pandora geöffnet.» Ohne ein weiteres Wort liess sie mich auf der Lichtung stehen. 
 
Nach einer weiteren Stunde, die ich damit zugebracht hatte, der Polizei meine Version der Ereignisse zu erzählen, war ich froh, endlich nach Hause fahren zu dürfen. Die genauen Umstände, die zum Tod von Curdin geführt hatten, wären jetzt Sache der Rechtsmedizin. 
Als ich mich endlich in meinen Ford Kuga setzte, war es bereits Mittag und mein Magen knurrte laut und fordernd. Als ich mit meinem Wagen die Seestrasse empor fuhr, riss die Wolkendecke auf, Sonnenstrahlen kämpften sich hungrig durch das Grau des Himmels und zauberten glitzernden, weissen Raureif auf die Bäume und Sträucher, die meinen Weg säumten.
 
Da war dieser laute, schrille Klingelton. Ich tastete benommen nach meinem Mobiltelefon auf dem Nachtisch. Das Display zeigte, dass mein Chef mich suchte. «Ja», meine Stimme hörte sich rau und kratzig an wie jeden Morgen. «Jan, ich habe soeben die Nachricht erhalten, dass die Tierärztin, die wir mit dem Fall beauftragt haben, tot ist.» Mein Wecker zeigte mir, dass es kurz nach sechs Uhr morgens war. «Jan? Bist du noch da? Die Putzfrau hat sie vor einer halben Stunde tot im Labor aufgefunden. Jan, was zum Teufel geht hier vor?» Mit dem Telefon am Ohr ging ich Richtung Fenster und lehnte mich an die kühle Wand. Benommen starrte ich auf die Lichter der Stadt. Der Verkehr rollte erst spärlich durch die Strassen von Bern. Die Stadt erwachte langsam aus ihrem Nachtschlaf und mit ihr die Menschen, die ihrem gewohnten Alltagstrott nachgingen. «Ich weiss es nicht. Ich weiss auch nicht, aus welchem Grund das alles passiert», sagte ich mit brüchiger Stimme ins Telefon. Nach einer Ewigkeit, in der wir beide schwiegen, hörte ich am anderen Ende der Leitung erneut die Stimme meines Chefs, die sich nun gefasster und ruhiger anhörte. «Es handelt sich um einen Ausbruch, stimmt’s?» 
 
Info: Andrea Tanner ist 38 und wohnt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern inWalperswil. Sie ist gelernte Restaurantfachfrau EFZ, hat die Handelsschule in Bern absolviert und nach dem Abschluss in den KV-Bereich gewechselt. Zurzeit ist sie Hausfrau. Das Schreiben ist für sie Hobby und Leidenschaft zugleich.
 

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