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Lima

Sind wir nicht alle 
Schisshasen?

Fernweh-Autor Donat Blum will nach Peru reisen, was zu einer Panikattacke führt. In Lima kriegt er sogar Angst vor der Angst. 
Das einzige was hilft, ist das Reden darüber – was gerade in Covid-Zeiten so wichtig ist.

Ein Haus in Lima. Was hilft, wenn um einen herum alles in sich zusammenzubrechen droht? Standort: Lima, Bild: Donat Blum
  • Dossier

Donat Blum

Manchmal schreckt der eine der Menschen, auf den ich mich nah beziehe, mitten in der Nacht auf. Er steht auf, trinkt etwas und versucht sich wieder zu beruhigen. Liege ich neben ihm, kuschelt er sich an mich und wache ich auf, erzählt er mir, was ihn aus dem Schlaf gerissen hat. Und bevor ich verstanden habe, warum ihm diese Gedanken den Schlaf rauben oder bevor es uns gelingt, seine Ängste zu rationalisieren, höre ich ihn schon wieder regelmässig atmen. Liege ich nicht neben ihm im Bett, reicht meist eine lange Nachricht an mich, in der er die Ängste auflistet, damit er wieder einschlafen kann.

In unserer bald zwölfjährigen Beziehung war es immer so. Er war derjenige mit den Ängsten, die er bei mir deponieren konnte, weil sie mir kaum was anhaben konnten. Ehrlicherweise, weil ich nie so ganz verstand, warum er diese sehr konkreten aber doch meist ziemlich kleinen Probleme als derart bedrohlich empfand, dass er nicht schlafen konnte.

Meistens waren es Arbeitssachen, die ihn umtrieben. Arbeitsplätze, die er nicht zu besetzen wusste. Konflikte, die ihn verunsicherten. Die Rente, die im Alter nicht ausreichen könnte. Oder er hatte vor dem zu Bett gehen zu viele schlechte Nachrichten gelesen – über Omikron beispielsweise, was auch einer der Auslöser meiner allerersten Panikattacke war. Ich habe an dieser Stelle schon mal erwähnt, dass ich aufgrund eines angeborenen Lungendefekts einer höheren Risikogruppe angehöre. Dass ich das hier nun wiederhole, ist vermutlich der Scham über meine Angst geschuldet. Aber warum schäme ich mich für etwas, das seit bald zwei Jahren in hohem Masse unsere Gesellschaft prägt?

 

Wie hundert Steine auf dem Magen

Über Ängste spricht man nicht. Keiner will ein «Schisshaas» sein oder «Hasenfuss», wie mich mein Grossvater als Kind schimpfte, als ich auf Skiern einen ziemlich flachen Hang nicht runter fahren wollte. Mittels 
Verdrängung kam ich ziemlich gut durch die ersten eineinhalb Jahre der Pandemie. Ich lenkte mich ab, gründete ein Online-Literaturfestival, das mich ein Dreivierteljahr beschäftigt hielt, produzierte zwei weitere Ausgaben der Literaturzeitschrift, die ich herausgebe, schrieb diesen und jenen Text und kam sogar zwei, drei Monate dazu, an meinem nächsten Roman zu arbeiten.

Das funktionierte einwandfrei, bis ich Anfang November Tickets für Peru buchte, um Zeit mit einer Nahbeziehung zu verbringen, die hier, wo ich diese Zeilen schreibe, lebt, und an meinem Roman weiterzuarbeiten, der teilweise hier spielt.

Beim Buchen der Tickets hatte noch die Vorfreude dominiert. Wenige Tage später dann Omikron. Die Schreckensnachrichten übertrumpften sich täglich und all meine Pläne standen ein weiteres Mal auf dem Spiel. Die eigentliche Panikattacke nahm ihren Anfang aber erst, als ich in einem anderen Zimmer als üblich schlief, weil meine Nahbeziehung mein Zimmer am nächsten Morgen bereits in der Früh als Homeoffice brauchen würde. In jenem anderen Zimmer dröhnte vor dem Fenster die U-Bahn alle 
10 bis 15 Minuten aus dem Untergrund auf die Hochbahn und gefühlt mitten durch meinen Körper.

Ich schreckte schweissgebadet aus dem Schlaf. Auf meinem Magen lagen 100 Steine. Meine Gedanken spulten und wiederholten ein Angstszenario nach dem anderen. Was alles geschehen könnte, wenn Omikron auch in Peru so stark zuschlagen würde wie in Südafrika: die Impfung, die bei Omikron vielleicht nicht mehr wirken würde und mich auf die Intensivstation brachte, die völlig überlastet war; meine Lunge, die kollabierte, wie sie es unter zu hoher Belastung auch schon getan hatte. Und das ausgefeilteste Schreckensszenario, das auf einem Instagram-Video vom Vorabend beruhte: Ich in einem Krankenbett, allein in einem fremden Land, wie die schwangere Frau, der man das Kind gerade noch rechtzeitig aus dem Bauch geholt hatte, zwecks Beatmung an Schläuchen hängend, vielleicht sogar im Koma, während sich meine Liebsten via Zoom von mir verabschieden mussten, weil sie zu weit entfernt waren oder nicht ans Bett gelassen wurden.

Ein derart physisches Empfinden von Angst, das alle Gedanken in die schlimmste Richtung lenkte, war für mich neu und wirkte unüberwindbar. Irgendwann schaffte ich es dann trotzdem, mich aufzuraffen und zu meiner Nahbeziehung ins andere Zimmer zu schleichen. Ich kuschelte mich an ihn und schlief, wenn auch unruhig, ein. Die Panikattacke war damit aber noch nicht erledigt.

 

Den Kopf aus der Schlinge ziehen

Das Fieseste an der Angst ist die Angst vor der Angst. Das erfuhr ich in den folgenden Tagen. Ich schlief immer schlechter, wachte auf und fragte mich als Erstes: Denke ich gerade an jenes Krankenbett, ans Sterben in Peru via Zoom? An die Unmöglichkeit, meine peruanische Nahbeziehung je wieder zu treffen? Kommt jetzt wieder die Panik? Und malte selbstverständlich genau mit diesen Gedanken die Schreckensszenarien weiter aus und driftete in die Angst ab. Kleinste Dinge schienen plötzlich unüberwindbar: Beispielsweise das Ziehen eines mit Literaturzeitschriften, die ich in die Schweiz bringen sollte, vollgepackten grossen Rollkoffers über die frisch gesplitteten Strassen. 
Irgendwie gelang es mir trotzdem, mich 
jeweils noch im letzten Moment aus der Schlinge zu ziehen. Bis sich diese schliesslich ganz zuzog:

Meine peruanische Nahbeziehung hatte sich im Intimbereich verletzt und sich nach langem Hin und Her durchgerungen, trotz fehlender Versicherung in ein Krankenhaus zu gehen und sich untersuchen zu lassen. 
Er kam nicht weiter als zu dessen Rezeption. Statt ihn zu einem Arzt oder einer Ärztin vorzulassen, machten sich die Empfangsleute vor allen Wartenden homophob über ihn lustig, bis er am Boden zerstört, ohne ärztliche Hilfe, nach Hause zurückkehrte.

Am Telefon konnte ich ihn noch trösten und ermutigen. Als er auflegte und ich mit einer Freundin telefonierte, um meine Gedanken, Gefühle und Sorgen zu ordnen, brach ich zusammen. Wenn nicht einmal er als Peruaner Zugang zur Gesundheitsversorgung kriegte, wie dann ich? Wenig später sass ich bei meiner Schwester am Tisch und heulte nur noch: wegen der Homophobie, die einen meiner liebsten Menschen an Leib und Leben bedrohte, wegen Covid, das mir schon wieder alle Pläne und Hoffnungen zunichte machte. Wegen der Angst, die ich nach 36 Jahren vom einen Tag auf den anderen nicht mehr zu beherrschen wusste. Wegen des Rollsplits, der den Weitertransport meines Koffers verunmöglichte.

Stück für Stück räumte meine Schwester für mich die Sorgen aus dem Weg. «Du bleibst jetzt ein paar Tage hier bei mir und ich sage alle Termine für dich ab.» Es gelang ihr relativ bald, mich wieder aufzupäppeln. Einzig die Angst vor der Angst blieb. Was, wenn ich in Peru Covid kriegen sollte und der Verlauf an und für sich gar nicht so schlimm wäre, ich aber der Panik wegen die Nerven verliere? Ich war kurz davor meine Reise nach Peru abzusagen. Allerdings hatte ich mir als Jugendlicher mal vorgenommen, meine Entscheide nicht von Angst bestimmen zu lassen. Also flog ich. «Mit FFP2-Masken kann ich mich schützen!», «Ich bin dreimal geimpft!», redete ich mir gut zu.

 

Geschwollener Rachen und Fieber

In Lima vergingen keine drei Tage, da lag ich mit einem geschwollenen Rachen, argen Hals- und Ohrenschmerzen und 39 Grad 
Fieber im Bett. Ich musste an meinen Sekundarlehrer denken, der mir einige Jahre nach Schulabschluss erzählte, dass er ja nie so 
reisen würde, wie ich das tat, weil er viel zu sehr Angst hätte, im Ausland krank zu werden. Damals lachte ich hinter seinem Rücken über ihn. Nun, im Moment der Krankheit und nach zwei Jahren Pandemie, konnte ich nichts besser verstehen als seine Sorgen. Neben der Infektion waren sie es, die sich durch meinen Körper frassen, bis ich würgend über dem Klo hing, um diese Steine endlich wieder aus dem Magen zu kriegen.

Natürlich half das nichts. Dafür die durch das Schreiben dieser Kolumne gewonnene Distanz und meine Nahbeziehungen, die sich via Zoom mit mir verbanden – während ich Fieber sowie den Sauerstoffgehalt im Blut mass – und mir täglich halfen, mit dem Zureden von Zuversicht die Angst zu überwinden und einen Covid-Selbsttest zu machen, der, wie später auch ein PCR-Test, 
negativ ausfiel.

Was half, war das allseitige Anerkennen der Angst und das Darüber-Reden.

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