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Das Alpenpanorama ohne Alpen

Dieser Sonntag Mitte Februar ist ein Frühlingstag, obwohl der Kalender etwas anderes behauptet. Unter dem gleissenden Sonnenlicht entwickelt sich Dunst, der die Alpen hinter einem weissen Vorhang versteckt.

Bild: Niklaus Baschung

Keine Fernsicht, da können wir ja gleich eine Wanderung durch die Schlucht unternehmen. Ins Google-Suchfenster tippe ich «Twannbachschlucht Öffnungszeiten» ein. Unterhalb der Beschreibung «Ruhige Schlucht mit natürlichen Becken, kleinen Wasserfällen, moosigen Felsen und in den Stein gehauenen Wegen» heisst es auf der Internetseite farblich hervorgehoben: «Rund um die Uhr geöffnet.» Das ist Kundenservice.

Weil das Kassenhäuschen unten beim Schluchteingang nicht bedient ist, werfen wir je zwei Franken in den Schlitz der Kassenbox, biegen um die Ecke und ... stehen vor einer eisernen Kette, die zusammen mit einem Verbotsschild den Zutritt in die Schlucht verwehrt.

Das darf doch nicht wahr sein.

Kann sein, dass der Hinweis im Internet zu den Öffnungszeiten nicht aktualisiert wurde. Aber wir haben bezahlt und damit doch das Recht auf eine Dienstleistung, nämlich der Wanderung durch die Schlucht. So gefährlich wird es nicht sein, der Bach führt kaum Wasser. Als erwachsener Mensch benötige ich auch keine Bevormundung, welche eventuellen Risiken ich eingehen will. Hinter uns auf der Brücke, die über den Bach führt, lungern unschlüssig ein paar Leute herum, als warteten sie nur auf die Person, die als erste über die eiserne Kette steigt ... Wie verhalten wir uns jetzt?

Ein Dilemma. Wie manchmal nachts im Strassenverkehr vor einer Verkehrsampel. Die Ampel an der Kreuzung steht auf Rot, aber links und rechts und auch gegenüber warten keine anderen Autos, ihre Scheinwerfer wären sonst gut zu sehen. Es gibt keinen vernünftigen Grund jetzt nicht weiterzufahren, ausser, dass es verboten ist. Oder gar bestraft wird, weil die Weiterfahrt von einem Blitzer erfasst werden könnte.

Eine Geduldsprobe. Während Autofahrende sich in dieser Situation ihrem Schicksal ergeben, sausen einzelne Biker und Bikerinnen in derselben Lage ohne zu zögern über die Kreuzung. Denn der Radar kann ihnen nichts anhaben. Als Verkehrsteilnehmer und 
-teilnehmerinnen funktionieren Menschen relativ simpel: Vorschriften gelten, wenn ihre Nichteinhaltung sanktioniert werden kann.

In der Welt der Fussgänger und Fussgängerinnen ist das Rotlicht an der Ampel deshalb schon längst keine Vorschrift mehr, sondern ein gutgemeinter Vorschlag. Vor allem wenn von links oder rechts kein Auto naht. Seit ein paar Jahren nehme ich mir die Freiheit, auch wenn es blöd aussieht und alle andern den Zebrastreifen bereits überquert haben, das Rotlicht zu respektieren. Zugegeben, das wirkt kindisch, aber es gibt mir das gute Gefühl dem Anpassungsdruck widerstanden zu haben. Bin allergisch dagegen. Habe in der Kindheit eine Überdosis davon bekommen.

Deshalb steige ich am Sonntag auch nicht in die Twannbachschlucht ein, nur weil ein paar Wanderer und Wanderinnen darauf zu warten scheinen. Nein, ich wandere Richtung Schernelz und später Ligerz, mache Fotos von diesem herrlichen, fantastischen Alpenpanorama – einfach ohne Alpen. Daheim werde ich die Bilder einigen Bekannten übermitteln mit dem Tipp: Was du dir selber vorstellen kannst, ist fast noch schöner als die Wirklichkeit.

Info: Von Niklaus Baschung sind alle 
drei bisher erschienen Kolumnenbücher wieder erhältlich. Mehr zum Autor und seinem Schaffen finden Sie unter 
www.niklaus-baschung.ch

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