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Titelgeschichte

Das geheime Leben 
des Kunstmalers 
Johann Schmucki

Für Elisabeth Stotzer war ihr Vater, der Pieterler Johann Schmucki, zeit seines Lebens ein Kunstmaler und Restaurator. Als sie nach seinem Tod seinen Nachlass sichtete, stiess sie auf jede Menge Überraschungen.

Die Kunst hatte ihn schon immer fasziniert, entschieden hat er sich aber zuerst für ein Theologiestudium: Johann Schmucki, hier 24-jährig. Bild: zvg

Monique Unterrassner/ab

Diesen Moment wird die heute 84 Jahre alte Elisabeth Stotzer nie vergessen: Nach dem Tod ihres Vaters Johann Schmucki, einem Kunstmaler und Restaurator aus Pieterlen, machte sie sich gemeinsam mit ihrem Ehemann Martin ans Sichten und Räumen des Nachlasses. «Mein Vater war ein leidenschaftlicher Sammler gewesen, und wir wussten, dass uns eine Sisyphusarbeit erwartete.»

Sie stöberten in Kisten voller Bücher aus den Bereichen Theologie, Kunsthistorik, Botanik, Zoologie oder Geschichte. Sie stiessen auch auf seine Tagebücher, die über 900 selbst verfasste Gedichte enthielten. Doch die eigentliche Überraschung bildete eine Unmenge von Briefen von und an Elsa Helbling.

«Ich war perplex. Was hatte das zu bedeuten?», sagt Elisabeth Stotzer. Zwar war ihr Elsa seit ihrer Kindheit als Freundin des Hauses bekannt. Doch der Briefwechsel, der 1924 begann und über vier Jahrzehnte dauern sollte, offenbarte Brisantes. «Für mich lüftete sich ein Schleier», so Stotzer. Ihr Vater war nämlich nicht immer Kunstmaler und Restaurator gewesen, sondern – wie sie jetzt erfuhr – ursprünglich katholischer Priester. Einer allerdings, dem das Interesse am weiblichen Geschlecht allzu stark in die Quere kam.

 

Ungewöhnliche Liebesgeschichte

Die Briefe in Tagebuchform waren Zeugnisse der ungewöhnlichen Liebesgeschichte von Priester Johann Schmucki und der Pianistin Elsa Helbling.

Der letzte an Elsa adressierte Brief war 1966 datiert. Er schloss:

«Um diese aufrechte, gefasste, mutige innere Haltung bete ich für Dich alle Tage, und ich vergesse es nie. Ich möchte mit meinem Sinnen und Beten eine schützende, warme, tröstende Hülle um Dich bilden und habe Dich lieb wie eh und je. Dein Johann.»

Dieser Brief erreichte Elsa nicht mehr; sie war kurz zuvor verstorben.

Elisabeth wollte mehr erfahren. Wer war ihr so geliebter Vater, der die Familie nach dem Abendessen zu einer Lesestunde erwartete und seinen sieben Kindern unter anderem aus dem Buch «Nils Holgersson» von Selma Lagerlöf vorlas und sie in seinen Bann zog? Der sich in der Religion so gut auskannte und doch nie mit den Kindern das Abendgebet sprach, sondern das jeden Abend der Mutter überliess?

Es dauerte mehrere Jahre, bis Elisabeth Stotzer sämtliche Briefe entziffert, gelesen und verarbeitet hatte. Am Schluss füllte der Briefwechsel 20 Bundesordner und inspirierte die Tochter, die Lebensgeschichte ihres Vaters zu einem Buch zu verarbeiten.

 

Er hinterfragte die Sünde

Johann Schmucki wurde 1896 als Bauernsohn im sankt-gallischen Kaltbrunn am Rande der Linthebene geboren. Mit drei jüngeren Schwestern wuchs er in einem streng religiösen Elternhaus in bescheidenen Verhältnissen auf. Bereits als Kind fühlte er sich innig mit der Natur verbunden. Wenn er im Stall mit seinem Vater die Geburt eines Kälbchens erlebte, war das für ihn ein natürliches Wunder. Was er aber nicht verstand, war, warum man nicht zusehen durfte, wenn die Mutter seine kleine Schwester stillte. Sein Vater meinte, dass man ein Schwein sei, wenn man etwas Unbekleidetes anschaue. Wie sollte der Junge das verstehen? In der Stube hing doch der Gekreuzigte an der Wand, und man sah seinen nackten Leib. Wieso war das keine Sünde? Hatte also Gott Unkeusches geschaffen?

Dass der junge Johann ein aufgewecktes Kind war, blieb auch dem Ortspfarrer nicht verborgen. Auf dessen Anregung trat Johann als 13-Jähriger ins Gymnasium Stans ein. Die ersten Schuljahre verband er mit Zwängen und Einschränkungen. Er vermisste die freie Natur.

Beim Zeichnen von Blumen und allem Schönen, was die Natur für ihn bereithielt, fand er Trost. Das war seine Freiheit, die er als Einzelgänger leben konnte. Tief im Herzen wollte er Künstler werden. Doch nach der Matura entschloss sich der Jüngling zu einem Theologiestudium in Chur. Seine Beweggründe hat er wie folgt formuliert: «Ich entschloss mich für Theologie, weil mir der Dienst Gottes die Lebensangelegenheit war.» Nach der Priesterweihe hegte er mit 25 Jahren den Wunsch, Kunst zu studieren. Der Bischof von St. Gallen erteilte ihm die Erlaubnis, in München Vorlesungen in Kunstgeschichte zu besuchen.

 

Die Begegnung mit Elsa Helbling

In München wohnte der junge Priester im herzöglichen Georgianum, das ausländischen Priestern offenstand, die von ihrem Bischof zum Studium nach München geschickt wurden. Dort stand er unter religiöser Aufsicht, atmete aber den freien Geist der Weimarer Republik. In seinem Tagebuch findet sich folgender Eintrag:

 

«Heute habe ich zum ersten Mal Aktstudien gemacht am lebenden Modell. Aber es ist mehr als ein Aktstudium daraus geworden, ein seelisches Erlebnis tiefster Art. Ich habe nicht nur ein Weib vor mir gesehen in der mannigfachsten Stellung und Bewegung, sondern ich habe in seine Weibes-Seele hinein geschaut mit einem ehrfürchtigen Erstaunen.»

Sein entspanntes Verhältnis zum Körperlichen beweist auch folgende von ihm überlieferte Aussage:

 

«Gott hat den Menschen als Leib und Seele geschaffen, und es kann nicht der Sinn der Religion sein, den Leib zu negieren.»

Nach sechs Semestern in München zog Schmucki für den Abschluss seines Studiums nach Würzburg. Nach Studienreisen in Italien und Frankreich begann er, an seiner Doktorarbeit zu schreiben. Während eines Heimaturlaubs lernte der Doktorand die Pianistin Elsa Helbling kennen. Letztere suchte den jungen Priester auf, um über Glaubensprobleme zu diskutieren. Die Sympathie muss auf Gegenseitigkeit beruht haben; denn sogleich nahm ein intensiver Briefwechsel zwischen den beiden seinen Anfang.

In ihrem ersten Brief an Johann schrieb Elsa:

 

«Sehr geehrter Herr Schmucki, Es ist heute Allerseelentag, da bin ich an Ihrer Stelle am Grab Ihrer Mutter gestanden. Es ist zwar anmassend, dies zu sagen, aber Sie wissen schon wie ich es meine, Sie können sich ja so fein in etwas hineinfühlen. Ich hätte Ihnen schon lange geschrieben, in Gedanken unterhalte ich mich sehr, sehr oft mit Ihnen bei den verschiedensten Gelegenheiten, beim Lesen, beim Üben und dann auch bei häuslichen Beschäftigungen.»

Auch Johann sehnte sich offensichtlich nach Elsas Nähe. Seine Antwort an sie kam postwendend.

 

«Teure Elsa, Ja, wenn Sie da wären, wenn Sie neben mir sitzen würden, wenn ich meine Hand in der Ihrigen bergen und ganz warm in die Nähe Ihrer guten, lieben teilnehmenden Seele spüren könnte! Dann würde es schon gut sein.»

Beim nächsten Heimurlaub kamen sich Elsa und Johann näher. Aphrodite, die Liebesgöttin, hielt vorerst schützend ihre Hand über die Liebenden. Anfänglich durfte Johann die Verehrte noch in ihrem Elternhaus besuchen und ihr beim Spiel auf dem Flügel zuhören. Auch Spaziergänge waren erlaubt.

Elsas Vater sah dem Ganzen mit Argusaugen zu, bis er seiner Tochter jeglichen Kontakt mit dem Priester untersagte. Doch die Liebenden trafen sich heimlich. Sie besuchten in Zürich Konzerte und übernachteten in einem Hotel.

 

Die Gerüchteküche brodelt

Lange blieb die Beziehung von Johann Schmucki und Elsa Helbling jedoch nicht geheim. Eines Tages wurden die beiden von zwei jungen Burschen im Wald überrascht, als Schmucki, nur im Adamskostüm, die nackte Elsa fotografierte. Die Gerüchteküche begann zu brodeln, und der Vorfall kam auch dem Bischof von St. Gallen zu Ohren. Dass Hochwürden Schmucki beteuerte, die Nacktaufnahmen für sein künstlerisches Schaffen zu benötigen und dass nichts Verbotenes vorgefallen sei, vermochte nicht zu überzeugen.

Es blieb vorläufig noch bei einer Strafanzeige wegen öffentlichen Ärgernisses. Doch diese Gnade währte nicht lange. Am Gymnasium Bethlehem in Immensee, wo er zu dieser Zeit als Lehrer für Ästhetik, Deutsch und Zeichnen tätig war, und jede freie Stunde zum Malen ausnützte, missfiel der Schulleitung sein offener, freundschaftlicher Umgang mit den Schülern. Es war zu gewagt, mit den Gymnasiasten, die die römische Lehrautorität ja kaum infrage stellten, über das Unfehlbarkeits-Dogma zu diskutieren.

Nach vier Jahren kam es zum jähen Bruch. Der Entzug des Lehrerpatents liess sich nicht mehr vermeiden. Die gegensätzlichen Meinungen – hier die Erziehung junger Leute zu selbstständig denkenden Menschen, dort die Heranbildung treuer Gefolgsleute Roms – waren unvereinbar. Seine Künstlerseele hegte Zweifel an den strengen Regeln der katholischen Kirche. Der einst so Strenggläubige lehnte sich immer mehr gegen die sturen Glaubensdogmen seiner Kirche auf. Er schreibt an Elsa:

 

«Ich muss einmal als wirklicher Künstler leben und schaffen können, ich muss, ob in Übereinstimmung oder im Widerspruch mit den kirchlichen Obern, ich muss, es ist nur noch eine Frage der Zeit und der Umstände. Sehr lange halte ich diese Bindung nicht mehr aus.»

 

Skandal erschüttert Bistum

Als Geschenk des Himmels erwies sich die Anstellung als Hilfskaplan in Bürglen/Kaiserstuhl im Kanton Obwalden. Seine Aufgabe war, die katholischen Schwestern in Deutsch- und Zeichenunterricht zu unterstützen. Mit der einheimischen Bevölkerung pflegte er ein gutes Verhältnis, was dazu führte, dass er innerhalb eines Jahres fast die ganze Dorfbevölkerung porträtiert hatte.

Was so gut begonnen hatte, endete abrupt mit dem Gerücht, eine gewisse Frau erwarte ein Kind von ihm. Schmucki war indes überzeugt, dass das nicht stimmen konnte. Doch wenn eine Frau sagte, sie sei von einem Priester schwanger, war der Skandal unvermeidlich.

Nach nur einem Jahr in Bürglen wurde ihm das Ausüben sämtlicher kirchlicher Handlungen untersagt. Er war zu diesem Zeitpunkt 34 Jahre jung. Schmucki schreibt:

 

«Nachdem meine Rechtgläubigkeit in Zweifel gezogen war, gab es für mich keine Aussicht mehr auf eine Anstellung kirchlicherseits. Ich hatte wirtschaftlich keinen Boden mehr unter den Füssen, wusste nicht, was ich unternehmen, wo ich mich niederlassen könnte. Nur dass ich malen müsse, wusste ich.»

Seine Briefe an Elsa belegen seine innere Zerrissenheit. Er schreibt ihr:

 

«Der Abschied von den lieben, treuen
Leuten hier ist schmerzlich. Aber vor mir ist es hell.»

 

Eine neue Liebe und Familie

Was Schmucki mit diesen Sätzen meinte, zeigte sich in den folgenden Jahren: Mit der Krankenschwester Gertrud Niederhauser aus Reutenen im Emmental kam eine Frau in sein Leben, die ihm den Wunsch nach einer Familie erfüllen konnte. Das Paar brachte sieben Kinder zur Welt. Die Drittgeborene Elisabeth Stotzer erinnert sich: «Meine Eltern hatten in Pieterlen ein geräumiges Haus erbaut, waren weltoffene Menschen und pflegten oft Gäste zu bewirten.»

Auch Elsa hatte jemand Neues kennengelernt und kam Familie Schmucki als Freundin des Hauses gelegentlich besuchen. «Ihr Briefwechsel mit meinem Vater war für meine Mutter nie ein Problem», berichtet Elisabeth Stotzer, die heute mit ihrem Mann in Büren lebt. Die Brieffreundschaft hielten die beiden bis zu Elsas Tod aufrecht. Am Ende war sie doch ledig geblieben.

Nach dem Eintauchen in die Vergangenheit ihres Vaters fragte sich Elisabeth Stotzer oft, wie es für ihn wohl gewesen sein muss, nach einem unbekümmerten und gesicherten Leben plötzlich nicht mehr auf Rosen gebettet zu sein. «Bei uns war das Geld immer knapp bemessen, und ohne die Arbeit meiner Mutter, die nebst ihrer Arbeit als Gemeindeschwester Pensionäre beherbergte, wären wir nicht über die Runden gekommen», sagt sie.

Die finanzielle Situation verbesserte sich, als das Familienoberhaupt seine beeindruckenden Kenntnisse in Kunstgeschichte umsetzen konnte und aus Kreisen der Denkmalpflege diverse Aufträge für Restaurationsarbeiten erhielt.

Als 1963 in Büren der Kirchenturm während einer Gewitternacht einstürzte, vertraute ihm der Denkmalschutz die Restauration der aus dem 12. Jahrhundert stammenden Kirche an.

Johann Schmucki verstarb mit 89 Jahren in seinem Seeländer Zuhause. Das Irdische konnte er zufrieden verlassen. Er notierte:

 

«Ich habe Grund genug, zufrieden zu sein mit dem, was geworden ist aus dem Bauernbub, der im ‹Hältli› geboren ist; auch über die krummen Wege, die mich zum Ziel geführt haben.»

Erst nach seinem Tod begriff seine Tochter, weshalb er seine Bilder mit einer brennenden Kerze signierte. «Ich sah die Kerze als Symbol für das ewige Licht», meint sie sinnend. «Der eigentliche Altardienst war ihm von der Kirche entzogen worden. Er aber predigte fröhlich weiter, Jahrzehnte hindurch in seiner Sprache; mit Farbe und Pinsel und mit seiner unmissverständlichen Signatur.»

 

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