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Das klingt fast wie ein Wunder

Am Tag, als er spontan Tulpen für Luise kauft, ist er zuvor am Eingang eines Restaurants vorbeigefahren. Ein Plakat davor verkündet: "Wegen Berset geschlossen." Das Coronavirus ist hier offenbar in einer neuen Mutation aufgetreten.

Niklaus Baschung. Bild: bt/a

Am Tag, als er spontan Tulpen für Luise kauft, ist er zuvor am Eingang eines Restaurants vorbeigefahren. Ein Plakat davor verkündet: "Wegen Berset geschlossen" Das Coronavirus ist hier offenbar in einer neuen Mutation aufgetreten. Die Türklinken, die Tischservietten, die Kochtöpfe - alles mit Bundesrat Alain Berset infiziert, wahrscheinlich bereits mit Ablegern in den Gehirnzellen der Restaurantbetreiber.

«Ich wünsche dir, dass du deine beiden Grosskinder bald wieder in die Arme schliessen kannst», schreibt er auf die Karte, die er dann zusammen mit einem bunten Strauss Tulpen vor ihre Haustür legt. Luise, so hat er von gemeinsamen Bekannten erfahren, hat eine Angst entwickelt, ihre Enkel zu berühren. All diese Berichte über Menschenansammlungen und Demos, deren Teilnehmer und Teilnehmerinnen sich über die empfohlenen Hygiene- und Verhaltensregeln lächerlich machen, haben ihre Unsicherheit verstärkt.

Noch vor einem Jahr hatte sie zweimal in der Woche zur Entlastung ihrer Tochter die beiden Enkel betreut. Das hat ihr grosse Freude bereitet. Gut 30 Jahre lang arbeitete sie als Physiotherapeutin. Kurz nach der Pensionierung starb ihr Mann. Nun wird Luise im Mai 72 Jahre alt und kann ihre Enkel nicht mehr berühren. Im letzten Frühling, während des ersten Lockdowns, hatte sie Verständnis dafür, dass Kontakte mit den Kindern eine Zeitlang nicht mehr möglich waren. Seit Begegnungen zwischen Enkeln und Grosseltern wieder erlaubt sind, hat sie zu grosse Angst davor. Als ehemalige Physiotherapeutin muss sie in der Therapie wieder neu lernen, Menschen anzufassen.

Wenn das Schlimmste in dieser Coronapandemie einmal ausgestanden ist, dann müsste für Menschen wie Luise ein Denkmal errichtet werden. Sie tauchen in keiner Statistik auf, sie werden in keinem Artikel erwähnt, kein Politiker, keine Politikerin interessiert sich für sie, kein Lobbyist kann mit ihnen Geld verdienen, in keine der unzähligen Fernseh-Talkrunden werden sie eingeladen. Aber sie sind diejenigen Menschen, die die Gesellschaft während dieser Coronakrise unauffällig zusammenhalten.

In der Öffentlichkeit auf allen Kanälen tummeln sich derweil Schreihälse, Besserwisserinnen, Egomanen, Diffamierer, Maskenverweigerinnen, Verschwörer. Nutzniesser und Nutzniesserinnen der Notlage ihrer Mitmenschen während dieser Pandemie ziehen Aufmerksamkeit auf sich, werden gar als besonders schlau gefeiert.

Doch gleichzeitig hält sich eine grosse Zahl von Schweizern und Schweizerinnen, ohne gross Aufhebens darüber zu machen, an die wichtigsten Sicherheits- und Hygienemassnamen. Sie machen dieses Verhalten nicht abhängig davon, ob ein Bundesratsmitglied oder eine Expertenkommission stets überzeugend solche Massnahmen kommuniziert. Sie schaffen dies allein kraft ihres eigenen Verstandes, des Anstandes und der Überzeugung, dass ihre Solidarität gefragt ist.

Ja – das klingt fast wie ein Wunder.

von Niklaus Baschung

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