Sie sind hier

Abo

App

Der Zuschauer bestimmt das Schicksal

Der interaktive Film «Late Shift» aus der Schweiz will den Zuschauer in die Handlung mit einbeziehen und Entscheidungen fällen lassen. Das funktioniert, doch die totale Freiheit des Betrachters ist eine Illusion.

Soll man lügen oder die Wahrheit sagen? Das Publikum entscheidet im Kino demokratisch per App über den weiteren Verlauf. Bilder: zvg
  • Video
  • Audio

von Simon Dick

Ein Autodieb zielt mit einer Waffe auf den Protagonisten. Was nun? Soll die Hauptfigur seinen Pfefferspray fallen lassen oder hartnäckig bleiben. Der Zuschauer muss sich innerhalb von wenigen Sekunden entscheiden. Ein Stress für die Figur, als auch für den User. Mit der App «Late Shift» konsumiert man einen Film und kann dabei Einfluss auf den Verlauf der Geschichte nehmen.

Wohin geht die Reise?
Matt ist ein Mathematikstudent in London und ein eher introvertierter Zeitgenosse. Als Parkplatzwächter in der Nacht verdient er sich seinen Lebensunterhalt.  Als er während der Aufsicht von Luxuskarren von einem Unbekannten bedroht wird, nimmt sein Schicksal seinen Lauf. Er wird gezwungen in ein Auto zu steigen, um den verletzten Dieb wegzufahren. Widerwillig wird Matt anschliessend zum Mittäter beim Raub eines wertvollen Kunstgegenstandes und muss sich aus dieser prekären Lage befreien. Dabei kann ihm der Zuschauer helfen. Der Film «Late Shift» ist interaktiv. Das bedeutet, der User kann für Matt wegweisende Handlungsentscheidungen treffen. Muss er skrupellos und gewalttätig werden oder leitet ihn der Zuschauer zu einem guten Ende?

Nachdem man sich die App gratis auf das Smartphone oder auf das Tablet heruntergeladen hat, kann man sogleich das erste Kapitel ansehen. Möchte man danach das weitere Schicksal von Matt begleiten, muss man 10 Franken für den restlichen Film investieren. Der Film vom Schweizer Startup «CtrlMovie», der je nach Entscheidungen des Zuschauers zwischen 60 und 90 Minuten dauert und sieben unterschiedliche Filmenden vorweisen kann, ist im Vergleich mit anderen Filmen im Kino oder Heimkino-Versionen somit ein preisgünstiges Vergnügen.

Während «Late Shift» auf der App nur von einem Zuschauer gesteuert wird, funktioniert der interaktive Film im Kino etwas anders: Immer wieder erscheint auf der Leinwand die Aufforderung, die nächste Handlung von Matt auszuwählen. Das Publikum hat dann wenige Sekunden Zeit, per App auf dem eigenen Smartphone, eine der Optionen anzutippen. Die Mehrheit entscheidet dann, in welche Richtung sich die Handlung entwickelt. Im Kino wird also demokratisch abgestimmt, wohin die Reise geht und wie lange der Film dauert. Der interaktive Film lief im März bereits in Zürich. Weitere Veranstaltungen, zum Beispiel in Bern und in der Westschweiz, sollen laut Hersteller folgen.

Die Qualität der schweizerisch-englischen Ko-Produktion kann sich sehen lassen und muss sich vor Konkurrenzprodukten aus dem Thriller-Genre nicht verstecken. Die Schauspieler sind professionell, die Filmsprache ist gut und die Geschichte spannend. Zwar wird «Late Shift» inhaltlich und audiovisuell keine Spuren in der Filmgeschichte hinterlassen, aber das Endprodukt ist sehr gelungen.

Keine totale Freiheit
Ist der Zuschauer wirklich frei? Konsumiert man den Film zum ersten Mal, hat man am Ende der Geschichte das Gefühl, die Hauptfigur an das gewünschte Ziel dirigiert zu haben. Betrachtet man die Mechanismen genauer, erkennt man, dass dem Zuschauer eine freie Entscheidungsmöglichkeit aber nur vorgegaukelt wird.

Die erste Szene im Parkhaus bietet einige Möglichkeiten, wie sich die Geschichte weiter entwickeln könnte. So kann man wählen, wie sich die Hauptfigur in einzelnen Momenten verhält oder ob sie dieses oder jenes tun soll. Bei jeder Entscheidung hat der Zuschauer zwar das Gefühl, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, doch der Ausgang der Szene ist schon im Voraus festgelegt. So funktionieren die meisten Szenen. Es gibt aber einige Ausnahmen, die dann dem Film im späteren Verlauf eine etwas dramatischere Wendung geben können. Dass sich die Produzenten auf einen bestimmten Weg festgelegt haben, macht auch Sinn. Es wäre eine logistische Unmöglichkeit dem Zuschauer die totale Freiheit mitzugeben, da man eine Unzahl an einzelnen Einstellungen und Szenen zusätzlich hätte drehen müssen. Beachtlich: Insgesamt wurden über vier Stunden Filmmaterial mit 180 Entscheidungspunkten aufgenommen.

Kein Sog vorhanden
Die Faszination ist zu Beginn sehr gross. Einen Film aktiv beeinflussen und die Geschichte in eine andere Richtung dirigieren, das ist sehr unterhaltsam. Durchschaut man aber mit der Zeit die simple Mechanik hinter der Kulisse, lässt die Faszination nach. Auch fehlt dem Filmfan das intensive Filmerlebnis, weil man sich stets beim Konsumieren konzentrieren muss, keine Entscheidung zu verpassen. Das kann auf die Dauer anstrengend werden. Als Experiment und einmaliges Erlebnis ist «Late Shift» eine willkommene Abwechslung für Fans, die bereits mit cineastischen Videospielen, wo man mehr zuschaut als spielt, ähnliche Erfahrungen gemacht haben.

Einen festen Platz in der Kinolandschaft können interaktive Filme durchaus haben. Den klassischen Film, wo man sich im Dunkeln ohne Ablenkung dem Sog hingibt und sich einlullen lässt, wird er aber nicht ablösen.


 

Nachrichten zu Digital »