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Alt und Jung

Ein kalter Sonntag

Sonntagmorgen. Der Himmel ist grau und die Schweiz verharrt im Shutdown. Den letzten Tag der Woche nutze ich oft als Arbeitstag.

Jessica Ladanie

Sonntagmorgen. Der Himmel ist grau und die Schweiz verharrt im Shutdown. Den letzten Tag der Woche nutze ich oft als Arbeitstag. Ich habe vier Jobs, die viel Zeit erfordern.
Vor einigen Jahren hätte ich mir nicht erträumen lassen, dass ich einst mit dem Engagement für Tiere einen Teil meines Lebensunterhalts verdienen würde. Mit Anfang 20 verteilte ich auf der Strasse Flyer. Heute, Ende 20, setze ich mich vor allem aus den eigenen vier Wänden für die Tiere ein.


An diesem Sonntag schiebe ich die Arbeit vor mich hin. Mich erwartet Videomaterial aus Schweizer Mastbetrieben. Eigentlich sollte ich nach so 
vielen Jahren der Tierrechtsarbeit abgehärtet sein. Aber obschon zahlreiche Organisationen regelmässig Missstände im «System Massentierhaltung» aufdecken, ändert sich nichts. Die Aufnahmen 
verstören mich jedes Mal aufs Neue. Und sie hinterlassen Spuren.


Angespannt starte ich das Video. Über den Bildschirm flimmern Bilder zusammengepferchter Hühner; ich blicke auf verletzte und qualvoll verendende Hühner. Ich drücke auf Pause. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken.


In diesem Moment gesellt sich meine Katze Chillz zu mir. Ich schweife ab, erinnere mich an unsere erste Begegnung: Auf einem Roadtrip entlang der Mittelmeerküste stibitzte die Strassenkatze meine vegane Wurst. Wir freundeten uns an und ich kam nicht umher, sie zu adoptieren. Bevor ich sie in die Schweiz brachte, kurvten wir mit dem Van durch Spanien. Aus der hageren Strassenkatze wurde Chillz, die Schweizer Hauskatze.


Geschichten von gerettete Katzen und Hunden ernten im Internet Likes und Herzchen. Wer hingegen Hühner, Schweine oder Kühe vor Schmerz, Leid und Tod bewahren will, gilt als «sonderbar». Warum? Weil wir von Kindesbeinen an lernen, dass Katzen und Hunde Persönlichkeiten sind – Hühner, Schweine und Kühe betrachten wir hingegen als anonyme Masse.


Ich widme mich erneut dem Video. Chillz schnurrt auf meinem Schoss und ich drücke auf Play. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ein verletztes Küken schleppt sich kraftlos aus dem Bild, dahinter liegt ein totes Tier. In der nächsten 
Sequenz zielt die Kamera auf einen blauen Abfalleimer. Im Eimer stapeln sich Dutzende tote Tiere. Sie wurden achtlos weggeworfen.


In der Schweizer Hühnermast wird nichts dem Zufall überlassen, es regiert der Profit. Grosse 
Geflügelproduzenten beliefern die Mastbetriebe mit Küken. Ihr kurzes Dasein fristen bis zu 18000 Hühner in kargen Verhältnissen. Dank künstlichem Licht und Dauermast erreichen sie nach nur 34 Tagen ihre «Schlachtreife». Tote Hühner kalkuliert die Tierindustrie mit ein: Bis zu vier Prozent verenden noch vor der Schlachtung. Im blauen Abfalleimer landen bei 18000 Hühnern um die 20 Tiere im Abfall – pro Tag.
Das Video endet. Ich wische die Tränen von den Wangen. Meine eigentliche Arbeit beginnt erst. 
Ich soll ein Video zur Aufklärung der Bevölkerung erstellen. Ich muss mir die Aufnahmen immer wieder anschauen: schneiden, zoomen und kürzen. Vor und zurück – immer wieder. Den Tieren abermals beim Dahinvegetieren und Sterben zusehen. An diesem Sonntagabend fällt mir das Einschlafen schwer.


Einige Tage später. In einem orangen Detailriesen gleitet mein Blick auf die Fleischtheke. Vor meinem inneren Auge flimmern Bilder sterbender Hühner auf. Ich halte inne. Frage mich, ob die Konsumentinnen und Konsumenten das Fleisch immer noch kaufen würden, wenn sie die Bilder gesehen hätten. Ich wende mich ab und zwinge mich, nicht mehr daran zu denken.


Solche Arbeiten hinterlassen Spuren. Die Bilder schiessen mir durch den Kopf, wenn ich durch die Fleischabteilung laufe; wenn uns die Fleischlobby die Massentierhaltung als regelrechte Wohlfühloase verkauft; wenn Politiker und Politikerinnen das Schweizer Tierschutzgesetz loben; wenn im Sommer haufenweise Fleisch auf dem Grill zischt; wenn mir vorgehalten wird, ich sei zu sensibel und der Tod gehöre nun mal zum Leben.


Solche Arbeiten gehen an die Substanz. Doch sie bestärken mich und andere Aktivistinnen und Aktivisten. Wir setzen uns für eine gerechtere Welt ein. Wir blicken in die Masse und sehen dabei Individuen – gar Persönlichkeiten. Wir hören nicht auf, uns für eine Welt ohne Tierleid einzusetzen. Für sie nehmen wir diese Bürde auf uns. Auch sonntags. Obschon uns die Arbeit belastet.

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