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Titelgeschichte

Ein Kocher baut das Seeland um

Der Bürener Alexander Kocher hat als Ingenieur Karriere gemacht: Er war bei der Juragewässerkorrektion engagiert und hat Eisenbahnbrücken und -trassees gebaut. Ausgerechnet die Strecke Bern-Biel ist ihm zum Verhängnis geworden. Teil zwei der Bürener Kocher-Geschichte.

Maria und Jakob Alexander Kocher-Wermuth harmonieren trotz ihrer unterschiedlichen Art bestens (Aufnahmedatum unbekannt). Bild: zvg

Rudolf Käser/ab

Er ist ein schlaues Kind, der 1814 geborene Jakob Alexander Kocher. Eines, das schon sehr früh genau weiss, wo seine Stärken liegen und darum Ingenieur werden will. Als Sohn eines Büren-Burgers hat Alexander, wie er genannt wird, das Glück, die bessere Stadtschule statt der gewöhnlichen Dorfschule besuchen zu dürfen. Er wächst mit sieben Geschwistern als Sohn von Barbara und Samuel Kocher in Büren auf. In einem stattlichen Zweifamilien-Bauernhaus, das sein Vater 1806 errichtet hatte und das heute als Kocher-Büetiger-Haus bekannt ist (siehe BT vom 8. Mai).

Als 17-Jähriger zieht er gemeinsam mit seinem vier Jahre jüngeren Bruder Johann Jakob nach Hofwil bei Münchenbuchsee. Die beiden erhalten von der Gemeinde Büren ein Stipendium, um sich an der dortigen Lehr- und Erziehungsanstalt als Lehrer ausbilden zu lassen. Allerdings gefällt den Jungen die von Pestalozzi geprägte Ausbildung nicht. Sie sind mathematisch begabt und träumen von einem technischen Beruf – die landwirtschaftlich geprägte Lehrerausbildung ist da nicht von grossem Nutzen.

Schon nach einem Jahr beklagen sie sich in einem Brief an den Gemeinderat von Büren über die vielen Arbeitseinsätze, welche die eigentliche Schulbildung zu kurz kommen lasse. Der Gemeinderat hofft aber nach wie vor, in den Kocher-Brüdern zwei tüchtige Lehrer gewinnen zu können und ermuntert sie, die Ausbildung fortzusetzen. Ein Jahr später bitten diese aber erneut um eine Versetzung, um die gewünschte technisch-naturwissenschaftliche Ausbildung zu erhalten.

Die Brüder können sich durchsetzen. Alexander studiert Bauingenieurwissenschaften, Johann Jakob Architektur. Nach dem Studium zieht letzterer zurück nach Büren, wo er die Zimmerei des Vaters übernimmt und mit nur 42 Jahren sterben wird. Alexander aber startet 1838 seine Karriere in Bern als Ingenieur im Baudepartement der Republik Bern.

 

Versicherungsbetrug kommt auf

Ende der 1830er-Jahre wird die Schweiz mit neuen Dienstleistungsangeboten im Bereich des Versicherungswesens geradezu überschwemmt. Insbesondere französische und angelsächsische Institute bieten Lebens-, Rentenversicherungen und dergleichen für alle Bevölkerungsschichten an. Beim aufstrebenden Bürgertum sind diese Angebote willkommen: Die Neureichen wollen ihr Erspartes versichern, möglichst rentabel anlegen und Rentenkapital ansparen. Aber längst nicht alle Anbieter sind seriös, und die den Leistungen zugrunde gelegten Prämien zum Teil horrend, wenn nicht sogar missbräuchlich.

Der 1804 in Meienried geborene Johann Rudolf Schneider ist seit 1838 Regierungsrat und als Direktor des Innern zuständig für diese neue Thematik. Er erkennt, dass im Versicherungswesen Handlungsbedarf besteht, um die Bevölkerung vor Scharlatanen zu schützen. Als Grundlage für die Prüfung von Lebensversicherungen muss in erster Linie eine fundierte Mortalitätstabelle entwickelt werden, die internationalen Standards genügt.

Innerhalb der damals wohl noch überschaubaren Staatsverwaltung hat sich bereits herumgesprochen, dass im Baudepartement ein junger Ingenieur aus Büren über ausserordentliche Mathematikkenntnisse verfügt. Schneider beauftragt deshalb Alexander Kocher mit der Entwicklung geeigneter wissenschaftlicher Grundlagen für die Erarbeitung eines Gesetzesentwurfs. Schneider wird sich dabei an die Kinderschar des Zimmermeisters Samuel Kocher erinnert haben, die um den imposanten Bauernhof am Ostrand des Schürendörflis herumgetollt ist. Hier hat nämlich Schneiders Schulweg vorbeigeführt, als er die Stadtschule in Büren besucht und eventuell sogar mit Alexander Kochers Geschwister die Schulbank gedrückt hat.

 

Seine Tafel findet Beachtung

Die akribisch aus verschiedensten Grundlagen und Beobachtungen abgeleitete Kochersche Mortalitätstafel findet in der Fachwelt schnell Beachtung und wird weit über die Staatsgrenze sowohl von behördlicher Seite wie auch von Versicherungsanbietern zum allgemeinen Standard. Schneider stellt die Arbeit Kochers 1845 vor der «Bernischen naturforschenden Gesellschaft» vor und publiziert die Abhandlung in der «Neuen schweizerischen Viertel-Jahrsschrift». Noch nach Kochers Tod wird ihm diese Arbeit von führenden Gelehrten als grosses wissenschaftliches Verdienst angerechnet.

Alexander Kocher verheiratet sich 1839 mit Maria Wermuth. Sie ist die Tochter des Bärenwirts und Gemeindepräsidenten von Signau. Das frischvermählte Paar lebt an der Junkerngasse 183a in Bern und kriegt in den Folgejahren fünf Söhne und eine Tochter.

Das Leben von Maria Kocher-Wermuth folgt einer strengen, schlichten Frömmigkeit. Wie schon ihre Mutter steht sie der Herrnhuter Brüdergemeinde nahe, die einen böhmisch-lutherischen Protestantismus lebt. Ihr überzeugter christlicher Glaube durchdringt das Familienleben in allen Bereichen und prägt auch die Lebensweise der Kinder. Sie wird dadurch zum ruhenden Pol in der Familie und kann die Rückschläge im Berufsleben des Ehemanns – von denen noch die Rede sein wird und die am Familientisch wohl recht impulsiv vorgetragen werden – abfedern. Trotz ihrer unterschiedlichen Lebensphilosophien scheinen sich die beiden Ehegatten ideal zu ergänzen.

 

Zurück ins Seeland

Alexander Kocher wird im Baudepartement des Öftern mit Sonderaufgaben betraut. Ende der 1830er-Jahre ist er beispielsweise mit geodätischen Arbeiten im Seeland beschäftigt. Zusammen mit Professor Friedrich Trechsel von der Universität Bern misst er zwischen Attisholz und Murten mehrere Nivellements, um die Höhen- und Gefällsverhältnisse im bernischen Seeland genauer erfassen zu können. Die beiden Geodäten schaffen damit die Grundlage für das Vorprojekt zur Juragewässerkorrektion.

Die Vorbereitungsgesellschaft, die von Johann Rudolf Schneider gegründet und präsidiert wird, erteilt dem Bündner Kantonsingenieur Richard La Nicca daraufhin einen entsprechenden Auftrag. Das 1842 von La Nicca vorgelegte Vorprojekt, das die Ableitung der Aare ab Aarberg in den Bielersee und einen neuen Kanal zwischen Nidau und Büren vorsieht, stösst in Fachkreisen auf viel Zustimmung. Für die Ausführung müssen aber fünf Kantone am selben Strick ziehen. Diese sind in ihrer politischen Ausrichtung aber dermassen unterschiedlich und zerstritten, dass es in den 1840er-Jahren zu keiner Einigung kommt und das radikal-liberale Vorzeigeprojekt auf die lange Bank geschoben wird. Erst der 1848 gegründete Bundesstaat ebnet den Weg für eine einvernehmliche Realisierung in den Jahren 1868 bis 1892.

Als 1845 der Emmentaler Bezirksingenieur Gatschet vom Regierungsrat mit dem Bau der Nydeggbrücke in Bern beauftragt wird, wird an dessen Stelle der im Baudepartement tätige Alexander Kocher zum Nachfolger gewählt. Der erst 31-Jährige ist damit zuständig für den Bau und Unterhalt der Staatsstrassen und der staatlichen Gebäude sowie den Wasserbau in der Region Oberaargau-Emmental. Die Familie zieht in der Folge nach Burgdorf.

Doch schon vier Jahre später wählt der Regierungsrat – und in der Folge auch der Grosse Rat – Alexander Kocher zum Oberingenieur des Kantons Bern. In dieser Stellung ist er stark mit der Planung der Eisenbahnen beschäftigt. Er nimmt Einsitz in die kantonale Kommission für Eisenbahnangelegenheiten. Diese prüft die Konzessionsgesuche und stellt der zuständigen Behörde Bericht und Antrag. Die Zusammenarbeit mit den Investoren und Ingenieuren der Eisenbahnunternehmen liegt ihm, und bald ist er auch ausserhalb des Kantons ein angesehener Fachmann.

Vom Kanton Freiburg wird er zum Eisenbahninspektor berufen und im Zusammenhang mit dem Bau der Eisenbahnbrücke über die Glâne als Experte beigezogen. Im Auftrag des Bundesrats bereist er zusammen mit Ingenieur Richard La Nicca England, Schottland und die Niederlande, wo die zwei Fachmänner schwimmende Eisenbahnen besichtigen. Im Zusammenhang mit einem Konzessionsgesuch wird diese Transporttechnik nämlich auch für die Bahnverbindungen im Bereich der Jurarandseen geprüft. Auch seine Kompetenz im Wasserbau wird schweizweit nachgefragt. Er berät den Bund bei der Rheinkorrektion im St. Galler Rheintal, engagiert sich bei der Tieferlegung des Brienzersees und ist ein eifriger Verfechter der Juragewässerkorrektion nach dem Plan von La Nicca. Alexander Kocher ist Mitte des 19. Jahrhunderts einer der führenden und gefragtesten Ingenieure in der Schweiz.

Mitte 1858 kündigt er überraschend seine Stelle als Oberingenieur. «In allen Ehren und unter Verdankung der geleisteten Dienste» wird er vom Grossen Rat aus dem Staatsdienst entlassen. Ihm ist die Verwaltungs- und Expertentätigkeit offenbar zu eintönig geworden. Er will selber gestalten und bauen. Sein ältester Sohn Johann Alexander (geboren 1840) ist jetzt 18-jährig und steckt in einer Ausbildung zum Ingenieur. Kocher versucht sein Glück nun mit der Gründung einer Bauunternehmung als selbstständig Erwerbender. Er will dem Sohn dereinst eine prosperierende Firma hinterlassen. Noch im gleichen Jahr wird ihm in einer Arbeitsgemeinschaft mit einer Solothurner Unternehmung von der schweizerischen Centralbahn ein Baulos der neuen Bahnlinie Bern-Thörishaus vergeben.

 

Biel-Lyss wird Gerichtsfall

1862 erteilt ihm die bernische Staatsbahn die Erd- und Fundationsarbeiten für einen Streckenabschnitt der Bahnlinie Biel-Lyss. Er verlegt den Firmen- und Wohnsitz deshalb nach Madretsch. Offensichtlich kann Kocher die geforderten Leistungen wegen Personalmangels und zwei schweren Unfällen auf der Baustelle aber nicht erbringen und die fristgerechte Fertigstellung nicht garantieren. In der Folge entzieht ihm die Staatsbahn den Auftrag und schreibt die Leistungen neu aus. Das bringt die junge Unternehmung an den Rand des Ruins, zumal die Staatsbahn ihn auch noch mit Schadensersatzforderungen belangt. Alexander Kocher muss sich wegen Missachtung von Sicherheitsbestimmungen und Vernachlässigung seiner Pflichten vor dem Gerichtspräsidenten in Nidau rechtfertigen – wird aber freigesprochen.

Die Schadenersatzforderung der Berner Staatsbahn endet erst Jahre später mit einem Vergleich vor dem Bundesgericht. Damit ist sein Renommee als Bauunternehmer ramponiert. Er liquidiert in der Folge das Baugeschäft. Das Projekt, zusammen mit dem Sohn eine gemeinsame Firma zu betreiben, verfolgt er aber weiter: Im Sommer 1863 reisen Vater und Sohn nach Nordamerika und prüfen dort die Übernahme einer Unternehmung, was schliesslich aber nicht zustande kommt.

Sohn Johann Alexander muss kurz darauf seine Ausbildung als Ingenieur aus gesundheitlichen Gründen abbrechen. Er tritt in Bern als Kommissär in die Dienste der Post. 1870 wird er zum Postverwalter nach Thun gewählt und 1878 wählt ihn der Bundesrat zum Direktor des Postkreises III, Bern. Diese Stelle als Kreispostdirektor bekleidet er bis zur Pensionierung 1916.

Der zweitälteste Sohn Emil Theodor (geboren 1841) studiert an der Universität Bern Medizin. 1872 beruft ihn die Universität Bern als ordentlicher Professor für Chirurgie. Er gilt als Pionier und Wegbereiter der modernen Chirurgie und erhält 1909 den Nobelpreis.

Der dritte Sohn, der 1843 geborene Karl Hermann, wird vom Regierungsrat 1866 als Buchhalter der Hypothekarkasse gewählt. Er lehnt diese Wahl aber ab und steigt stattdessen als Partner in die Firma seines künftigen Schwiegervaters, der Bank Dasen in Bern, ein. Das Institut wird später zur «H. Kocher & Compagn., Bank- und Commissionsgeschäfte». Nach florierenden Jahren geht die Bank in der Wirtschaftskrise 1884 in Konkurs.

Vater Alexander Kocher, alt Oberingenieur des Kantons Bern, besinnt sich nach seinem unternehmerischen Misserfolg auf seine Stärken, lässt die Schlammschlacht, die gegen ihn geführt wird, hinter sich und führt seine Expertentätigkeit im Ingenieurmetier weiter. Im Auftrag des Bundes führt er Untersuchungen auf der Baustelle der Sillar-Bahn im Tessin durch, bei der Machbarkeitsstudie für eine alpenquerende Bahn berät er zusammen mit dem aus Biel stammenden Ingenieur Gustave Bridel den Bundesrat. Und bei der thurgauischen Seethalbahn überprüft er den volkswirtschaftlichen Nutzen dieser geplanten Bahnanlage.

Vom Bundesrat wird er zusammen mit Bridel beauftragt, die von der Zentraleuropäischen Eisenbahngesellschaft (European Central Railway Limited) ausgeführten Arbeiten zu begutachten und über die termingerechte Realisierung Bericht und Antrag zu stellen.

 

Gegen Ochsenbein, für La Nicca

Ganz besonders intensiv beschäftigt sich Alexander Kocher mit dem Bericht von alt Bundesrat Ulrich Ochsenbein. In diesem Pamphlet attackiert der inzwischen zum General in französischen Diensten avancierte Ochsenbein das Projekt des Bündner Ingenieurs Richard La Nicca, das von Ingenieur Bridel anfangs der 1860er-Jahre optimiert und nunmehr vom Bund und allen fünf betroffenen Kantonen unterstützt wird.

Ochsenbein, der in den 1830er-Jahren zusammen mit Johann Rudolf Schneider die Vorbereitungsgesellschaft für die Juragewässerkorrektion in Nidau mitgegründet hat, schiesst nun aus allen Rohren gegen das Ausführungsprojekt. Unter dem Titel «Die Versumpfung des Seelandes durch Hrn. General Ochsenbein und die Entsumpfung desselben durch Hrn. Oberst La Nicca» verfasst Alexander Kocher 1864 eine viel beachtete Schrift, in welcher er die Argumentationen Ochsenbeins zerpflückt und damit wesentlich dazu beiträgt, das in der Seeländer Bevölkerung sinkende Vertrauen in die Juragewässerkorrektion wieder herzustellen.

Als 1868 bei der Kantonsverwaltung akuter Personalmangel herrscht, wird Kocher von der Berner Regierung angefragt, als leitender Ingenieur die Aarekorrektion und die Entsumpfung im Haslital zu realisieren. Diese Berufung behagt ihm sehr und er verlegt seinen Wohnsitz nach Brienz. Mit dieser Gewässerkorrektion werden in der Ebene zwischen Meiringen und Brienz rund 3500 Jucharten landwirtschaftliche Nutzfläche gewonnen. Man mag aus heutiger Sicht bemängeln, dass in den Gewässerkorrektionen und Meliorationen dieser Epoche keine Rücksicht auf Landschaftschutz und Ökologie genommen wird. Aus der Sicht der damaligen Bevölkerung sind diese Massnahmen aber ein Segen und haben die verarmte Landbevölkerung zu Wohlstand und Gesundheit geführt.

Alexander Kocher stirbt im November 1893 im hohen Alter von 79 Jahren.

Quellen: Richard Zufferey, «Jakob Alexander Kocher (1814 – 1893)», Schweizerische Aktuarvereinigung, Jubiläumsheft 2005; Rolf Holenstein, «Ochsenbein, Erfinder der modernen Schweiz», Echtzeit-Verlag GmbH, Basel, 2009.

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