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Eine kurze Geschichte der Zertifikate

Wer schon einmal vor einem Computer gesessen ist, also der grösste Teil der Menschheit, kennt das Problem: Da will man eine Internetseite öffnen, doch der Browser versagt den Dienst.

Matthias Knecht

Matthias Knecht

«Fehlendes Zertifikat» heisst es stattdessen, dazu dick und fett und rot blinkend: Sicherheitsrisiko! In der Redaktion des BT passiert dies immer mal wieder mit dem Newsticker von SDA, wobei noch niemand herausgefunden hat, welches Zertifikat fehlt oder wer für wen ein Sicherheitsrisiko darstellt. Klar ist nur: ohne Zertifikat kein Zugang zu wichtigen Quellen.

Die Erfahrungen der virtuellen Welt halten nun Einzug im Schweizer Alltag. Ab Montag gibt es das Znüni nur noch mit Zertifikat. Das Gleiche gilt für ziemlich viele weitere Annehmlichkeiten des Lebens. So will es der Bundesrat. Zu seiner Entlastung lässt sich anführen, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen ist. Er hat sie vielmehr aus dem Ausland übernommen. Ein solches Vorgehen bezeichnet man übrigens als Raubkopie, wenn es China tut und als autonomen Nachvollzug, wenn es die Schweizer Regierung tut.

Vorbild für den neuesten autonomen Nachvollzug ist Frankreich, wo seit einem Monat der Zugang zur Zivilisation an das Zertifikat gekoppelt ist. Die Resultate sind gemischt: Die Impfquote hat zugenommen, die Strassenproteste haben es auch.

Dies führt direkt zur Frage: Seit wann muss sich die Menschheit eigentlich mit Zertifikaten herumschlagen? Laut dem digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache ist dies seit dem 20. November 1692 der Fall, und wiederum liegt der Ursprung in Frankreich. Da hatte Pierre Pomet in Paris seine histoire générale des drogues fertiggestellt, eine Art Pharma-Handbuch. Um zu bescheinigen, dass es bei den darin beschriebenen Stoffen mit rechten Dingen zuging, stellte ein Monsieur Morin, Doctoris Medicinae der Facultät zu Montpellier, ein «certificat» aus. Pomets Buch wurde später auch auf Deutsch publiziert, unter dem wunderbaren Titel «Der aufrichtige Materialist und Specerey-Händler». Ins Deutsche importiert wurde dabei auch Morins certificat.

Laut dem Duden ist das certificat aufs lateinische certificare zurückzuführen. Dies wiederum setzt sich zusammen aus den beiden Wörtern certus (sicher, bestimmt) und facere (machen). Ein Zertifikat bedeutet also, dass etwas bestätigt oder gewiss gemacht wird.

Der Bedarf nach Gewissheit ist seit Pomets Zeiten massiv gestiegen. So gibt es heute auch Chronometerzertifikate, Echtheitszertifikate, Schiffszertifikate, Airbagzertifikate oder SSL-Zertifikate. Letztere sorgen übrigens für rot blinkende Browser. Vielleicht fehlt den Web-Usern nur das Goethe-Zertifikat? Dieses bescheinigt, dass man die deutsche Sprache beherrscht.

Auch Banken geben Zertifikate heraus. Das sind spezielle Schuldverschreibungen, wobei sich die erhoffte Gewissheit als illusorisch erwiesen hat: Zertifikate der US-Bank Lehman Brothers standen 2008 am Beginn der globalen Finanzkrise.

So viel zur Sprachgeschichte der Zertifikate.

Stichwörter: Zertifikat, Sprache

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