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30 Jahre Mauerfall

Endlich vereint

Vor 30 Jahren ist in Berlin die Mauer gefallen. Wegen eines Fehlers von DDR-Funktionär Günter Schabowski geschah dies unkontrolliert, aber friedlich. Auf den folgenden Seiten blicken Zeitzeugen auf die turbulente Zeit um 1989 zurück.

Freudentaumel: Bereits am 10. November begannen die «Mauerspechte», Stücke oder ganze Platten der Berliner Mauer abzubauen. KEYSTONE/LAIF/Oliver Ruether

von Andrea Butorin


Um ein Ereignis von Weltbedeutung zu verstehen, zoomt man am besten ein Einzelschicksal heran. Zum Beispiel jenes der Ostberlinerin Bärbel Reinke. Nachdem in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 die Berliner Mauer plötzlich durchlässig geworden ist und die Menschen die Grenzübergänge stürmen, beginnen sie auch beim Brandenburger Tor, hin- und her zu klettern. Gegen 3 Uhr bilden auf der Ostseite Grenzsoldaten plötzlich eine Menschenmauer und sperren den Pariser Platz wieder ab.
Eine Videokamera hält fest, wie Bärbel Reinke, die blonden Locken mit einem Stirnband gebändigt, in der Folge mit einem Grenzer zu diskutieren beginnt. «Ich will doch nicht rüber, verstehen Sie?  Ich komme ja wieder zurück. Können Sie mich bitte begleiten?» Der Angesprochene schweigt lange und antwortet dann, das gehe nicht, er habe hier zu stehen. «Dann nehmen Sie jemanden, der hier unnütz steht. Von diesen Genossen! Wissen Sie, wie lange wir gewartet haben?» Der Grenzbeamte, leicht verzweifelt: «Sie können doch die Grenzübergangsstelle nehmen. Das wurde gestern Abend in der ‹Aktuellen Kamera› gesagt, dass es heute geht.» Kurze Pause. «Dass es heute geht.»
 

Zwei bizarre Auftritte
Am Abend des 9. Novembers wird im DDR-Fernsehen live eine internationale Medienkonferenz übertragen, an der Günter Schabowski, der seit drei Tagen als eine Art Mediensprecher des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands amtet, über geplante Reformen von Partei und Wirtschaft referiert. Auch der am selben Tag eiligst ausgearbeitete Entwurf eines neuen Reisegesetzes kommt zur Sprache.
Eine «Legalisierung und Vereinfachung der Ausreise» sei nötig, um die Menschen aus einer «psychologischen Drucksituation» zu befreien. Ein italienischer Journalist hakt nach, ab wann denn diese neue Regel gelte. Da stammelt Schabowski den Satz, der Weltgeschichte schreiben wird: «Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.»
Und so endet mit einer bizarren Pressekonferenz, was mit einer ebensolchen begonnen hatte. 300 Journalisten sind anwesend, als Walter Ulbricht, Staatsratsvorsitzender der DDR, am 15. Juni 1961 sagt: «Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.» Zwei Monate später, am 13. August 1961, wird mit dem Bau der Mauer begonnen, die Ost- und Westberlin für lange Zeit trennen sollte. Anders wäre das DDR-Regime gar nicht aufrecht zu erhalten: Seit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober 1949 haben drei Millionen Menschen das Land verlassen, und zwar vor allem junge, gut ausgebildete. Während die Westgrenze des Landes immer stärker bewacht und verstärkt wird, bleibt Berlin bis 1961 ein Schlupfloch.
Doch auch in den Folgejahren versuchen etwa 40000 Menschen, in den Westen zu fliehen. Dies auf die abenteuerlichste Weise: Peter Döbler schwimmt 48 Kilometer von Kühlungsborn nach Fehmarn. Zwei Familien basteln einen Heissluftballon – beim dritten Versuch gelingt die Landung im Westen. Menschen flüchten in Tunnels von Ost- nach Westberlin, auf selbst gebastelten Seilbahnen, in Kofferräumen von Autos, mittels Segelfliegern oder auf Schiffen. Wie viele beim Versuch, die deutsch-deutsche Grenze bis 1989 zu überwinden, umkommen, ist nicht genau bekannt. Die DDR versucht, diese Opfer zu vertuschen.
 

«Stasi raus!»
1989 überschlagen sich die Ereignisse. Ungarn beginnt am 2. Mai mit dem Abbau des Grenzzauns zu Österreich. Ab da nehmen in der DDR die Ausreiseanträge nach Ungarn explosionsartig zu. Zehntausende reisen legal nach Ungarn, um Urlaub zu machen, und kehren nicht mehr zurück.
Gleichzeitig beginnen DDR-Bürger, die Botschaften der Bundesrepublik in den Staaten des Warschauer Paktes zu besetzen, um ihre Ausreise zu erzwingen. Zuhause nehmen die Montagsdemonstrationen in Leipzig und Dresden, die aus spärlich besuchten Montagsgebeten hervorgehen, Ausmasse an, die die DDR-Führung nicht mehr ignorieren kann. «Wir sind das Volk!» – «Stasi raus!» und «Gorbi, Gorbi!», rufen die Menschen. Alle spüren: Der Kessel ist kurz vorm Überlaufen.
Dass Egon Krenz am 17. Oktober im Politbüro Erich Honecker entmachtet und neuer SED-Generalsekretär wird, kann den Lauf der Dinge nicht mehr aufhalten. Am 4. November kommen auf dem Berliner Alexanderplatz gegen 500 000 Menschen zusammen, um für Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit zu demonstrieren.
Fünf Tage später verbreitet sich Schabowksis Nachricht wie ein Lauffeuer um die Welt. Eigentlich wäre geplant gewesen, dass die neue Reiseregel erst ab dem 10. November mit geregelten Aus- und Einreiseverfahren in Kraft tritt. Doch das war auf Schabowskis Spickzettel, den er kurz vor Beginn der Pressekonferenz erhalten hatte, nicht vermerkt.
 

Bärbel Reinke diskutiert sowohl verzweifelt als auch entschlossen mit den DDR-Grenzern. Am Schluss erreicht sie ihr Ziel:Aufrechten Hauptes durch das Brandenburger Tor gehen zu können. Quelle: Youtube

 

«Verstehen Sie das?»
Während sich auf der Westseite des Brandenburger Tors die Menschen längst in den Armen liegen – auch Bärbel Reinkes Mann und Freunde sind dort und warten auf sie – verliert sie zusehends die Nerven. Sie schreit die Soldaten an:  «Ich habe diesen Staat mit aufgebaut! Ich denke gar nicht daran zu gehen! Ich habe in diesem Staat vier Kinder grossgezogen, verstehen Sie das?»
Sie habe sich gewünscht, einmal im Leben aufrecht durch dieses Brandenburger Tor gehen zu können, um in den anderen Teil zu gucken. Schliesslich habe sie sich keine Tante, keine Oma und keinen Onkel erlogen. «Verstehen Sie das?» Plötzlich geht es schnell: Ein Grenzbeamter nimmt sie am Arm und führt sie durch das Tor. Die umstehenden Menschen jubeln und applaudieren.
Treuhand und Arbeitslosigkeit
Endlich mal gucken gehen, reisen können, und dann weiter an einer besseren DDR bauen: Wie Bärbel Reinke haben 1989 längst nicht alle DDR-Bürger den Wunsch nach einem radikalen Systemwechsel. Doch der Lauf der Geschichte ist nicht mehr rückgängig zu machen. Nicht mal ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, folgt die Wiedervereinigung Deutschlands, die allerdings keine Vereinigung zweier gleichberechtigter Staaten ist, sondern die komplette Integration der DDR in bundesdeutsche Strukturen.
Der radikale Wechsel von einer sozialistischen zu einer privatwirtschaftlichen Marktwirtschaft, organisiert durch die Treuhandanstalt, «die Treuhand» genannt, bringt in den neuen Ländern eine grosse Arbeitslosigkeit mit sich. Gastarbeiter und Asylbewerber kommen ins Land und werden als Konkurrenten betrachtet. Plötzlich wird Rassismus wieder offen gelebt: Neonazis demonstrieren, Asylheime brennen.
 

Der Osten protestiert
Bald nach der Wende wird montags im Osten wieder demonstriert – die Menschen machen ihrem Unmut gegen die Treuhand und gegen Bundeskanzler Helmut Kohl Luft. 2004 gehen sie gegen Harz IV auf die Strasse, und seit 2014 gibt es in Dresden, Leipzig und in anderen Städten regelmässig fremdenfeindlich ausgerichtete Umzüge der Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). Auch Mitglieder der Partei AfD (Alternative für Deutschland), die auf dem Weg zur stärksten Kraft im Osten Deutschlands ist, werden an diesen Kundgebungen gesichtet.
Jüngst veröffentlichte «Die Zeit» erschreckende Umfrageresultate: Während im Jahr 2000 noch 67 Prozent der befragten Ostdeutschen der Meinung waren, dass sich die Hoffnungen der Einheit im Grossen und Ganzen erfüllt hätten, sind es aktuell nur noch knapp mehr als die Hälfte. 2000 sagten 74 Prozent, dass sich die freie Meinungsäusserung im Vergleich zur DDR-Zeit verbessert habe. 2019 sehen das noch 59 Prozent so. Gleich viel sind der Meinung, dass der Schutz vor staatlicher Willkür schlechter geworden ist oder sich kaum verändert hat. Und: mehr als die Hälfte, 52 Prozent, sind mit der Art und Weise, wie in Deutschland die Demokratie funktioniert, wenig bis überhaupt nicht zufrieden.

Den Menschen zuhören
Die Berichte auf den folgenden Seiten zeigen:Es gibt nicht die Geschichte der DDR, des Mauerfalls und der Wiedervereinigung. Millionen Einzelschicksale formieren sich zu einem Ganzen. Wer nach der Wende seine Stelle verliert wie Jutta Schulz, urteilt anders, als Matthias Beyer es tut, dessen Karriere nach 1989 auf die Überholspur katapultiert wurde (Seite weitere Texte im Dossier "30 Jahre Mauerfall").
In Berlin werden heute die Korken knallen und Raketen in die Luft steigen. Der frühere ZDF-Korrespondent Joachim Jauer nennt dies im Samstagsinterview (siehe Dossier "30 Jahre Mauerfall") eine Nabelschau. Und doch steht der Mauerfall für viel mehr: Er symbolisiert den Zusammenbruch der autoritären Regierungen in Osteuropa und schliesslich der Sowjetunion.
Aber all die weltgeschichtlichen Ereignisse begreift man erst wirklich, wenn man sich die Geschichten der Menschen anschaut, die 1989 mittendrin standen, mitgerissen wurden, überwältigt wurden, neue Hoffnung schöpften oder alte Glaubenssätze über Bord warfen. Solche Menschen präsentieren wir Ihnen heute.

 

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Fakten zur Berliner Mauer

- Die Berliner Mauer war 155 Kilometer lang, es gab 14 Grenzübergänge.
- Ab 1970 wird die Mauer mit 3,6 Meter hohen Segmenten neu errichtet. Auf die jeweils 2,75 Tonnen schweren Elemente werden 4 Meter lange Rohrauflagen gesetzt. Daneben besteht die Grenze um West-Berlin aus einer Mauer in Plattenbauweise, einem Metallzaun oder Gewässern.
- Der vorhergehende Todesstreifen mit 300 Beobachtungstürmen ist zuletzt zwischen 15 und 150 Meter breit. In den letzten Jahren ihres Bestehens plante die DDR-Führung eine High-Tech-Mauer.
- Die Zahl der Mauertoten ist nicht gänzlich geklärt. Geschätzt werden rund 140 Tote, darunter acht Grenzsoldaten. Am 24. August 1961 wird Günter Litfin erschossen, als er den Berliner Landwehrkanal durchschwimmen will Das letzte Opfer von Todesschüssen an der Mauer war Chris Gueffroy am 6. Februar 1989.
- Die Gesamtkosten der Mauer sind nicht bekannt. Bis 1970 soll sie 100 Millionen Ost-Mark gekostet haben.
- Am 9. November 1989 öffnet um 23.30 Uhr der Grenzüberbang Bornholmer Strasse als erstes. ab/sda

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