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Fernweh

Fischfang auf hoher See

Der Fischfang ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Norwegens und einer mit viel Tradition. Fotograf Stefan Leimer hat einen Fischkutter aufs Meer hinaus begleitet – und hat den festen Boden unter den Füssen einmal mehr schätzen gelernt.

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  • Dossier

Text und Bild: Stefan Leimer

Sisilie, die Kapitänin des Fischkutters, wühlt in einer überladenen Schublade und reicht mir eine zusammengeknüllte Plastiktüte. Mit einem angedeuteten Kopfnicken verdrücke ich mich an Deck, beziehungsweise bis zur geöffneten Tür. Weiter darf ich nicht! Würde mich eine Welle von Deck spülen, wären meine Überlebenschancen gleich null. Abgesehen davon, dass es die Crew unter Deck gar nicht erst bemerken würde, würde ich in dem nur wenige Grad kalten Wasser nur Minuten am Leben bleiben.

Frische Luft und «die Fische füttern» bringt vorübergehend Erleichterung. Also greife ich mir die Kamera, steige wieder die engen Stufen ins Unterdeck hinunter und versuche mich aufs Fotografieren zu konzentrieren. Starker Wellengang macht einen sicheren Stand unmöglich. Nähere ich mich der Luke, muss ich aufpassen, dass das hochspritzende Salzwasser meine Kamera nicht zu sehr in Mitleidenschaft nimmt.

 

Jeder Handgriff sitzt

Sisilie hat ihren Posten im Steuerhaus verlassen, um gemeinsam mit den drei Crewmitgliedern anzupacken. Das Boot wird in der Zwischenzeit vom Autopiloten an seinem Platz gehalten und schaukelt nun in alle Richtungen. Fischfang ist hart verdientes Brot. Auch wenn sich die Fischer den rauen Seegang gewohnt sind – die Wellen werfen sie immer wieder gegen die Metallschotten.

Den widrigen Umständen zum Trotz sitzt aber jeder Handgriff. Mit geübten Handbewegungen werden die Dorsche aus dem Netz gepult. Bis zu 150 cm gross und 40 Kilo schwer werden die grössten Exemplare. Mit einem schnellen Kiemenschnitt wird den Tieren ein längeres Leiden erspart. Eines der Crewmitglieder sorgt zudem dafür, dass die Netze sich nicht verheddern und sauber aufgerollt werden. Insgesamt vier Netze werden eingeholt. Und anschliessend wieder ins Wasser gelassen, denn schon am nächsten Tag wird Sisilie mit ihrer Crew wieder rausfahren und die Netze einholen.

Als endlich die Bestätigung kommt: «Genug für heute, wir fahren zurück.», atme ich auf. Eine gute Stunde dauert die Rückfahrt. Aber kaum haben wir die schützende Hafenmauer hinter uns gelassen, beruhigt sich mein Magen und ich gönne mir den ersten Schluck heissen Tee nach acht Stunden.

 

Der Fisch als wichtigste Nahrungsquelle

Vor etwa 12 000 Jahren begann das Eis, das ganz Skandinavien bedeckte, abzuschmelzen. Der Dorsch nutzte in der Folge die neuen, freigelegten Küstengebiete und wanderte von der Barentssee in das Küstengebiet der Lofoten und Vesteralen, um hier zu laichen. Bereits die ersten Menschen, die das Land eroberten, profitierten vom enormen Fischreichtum. Felsritzungen in Nordnorwegen aus der Steinzeit bezeugen, dass Fisch schon immer eine wichtige Nahrungsquelle war, um den Küstenbewohnern das Überleben zu sichern. Entsprechend spielt der Fischfang seit Jahrhunderten eine entscheidende Rolle in der Kultur, dem Arbeitsleben und wirtschaftlichen Entwicklung der gesamten Küstenregion.

Seit der Wikingerzeit wird getrockneter Stockfisch nach Europa exportiert. Und bereits vor über 1000 Jahren kamen «Saisonarbeiter» von weit her, um am Fischfang mitzuverdienen. Dass jede Saison dutzende Fischer auf See umkamen, wurde billigend in Kauf genommen. Man war sich der Gefahr durchaus bewusst. «Sie sind draussen geblieben» hiess es lapidar. Oft kamen alle Männer einer ganzen Familie um, wenn ihr Schiff in einem Sturm kenterte.

 

Überfischung gestoppt

Noch im Jahr 1951 wurden 116 000 Tonnen (!) Dorsch aus der Bucht zwischen den Lofoten und der Küste Norwegens geholt. Die hemmungslose Überfischung sorgte dafür, dass 1988 gerade noch 6000 Tonnen Fisch gefangen wurden. In der Zwischenzeit haben sich die Bestände wieder erholt, denn Norwegen ist sich der Bedeutung seiner weltweit einzigartigen Fischgründe durchaus bewusst. Der ehemals freie Fischfang ist heute streng geregelt. Norwegen war das weltweit erste Land, das ein Quotensystem einführte und die Fischerei auf langfristige Nachhaltigkeit ausgelegt hat. Durch eine enge Zusammenarbeit mit dem International Council for the Exploration of the Sea und anderen internationalen Gremien wird gewährleistet, dass die eingeführten Regularien überwacht und eingehalten werden.

In der Fischfabrik ist der routinierte Umgang mit tonnenweise Fisch gleich erkennbar. Mit Gabelstaplern werden die randvoll gefüllten Plastiktonnen beim Boot abgeholt und in eine grosse Stahlwanne geleert. Es folgt eine letzte Sortierung von Hand. Der Rest ist Fliessbandarbeit. Den Fischen wird der Kopf vom Körper getrennt, dann werden sie gesäubert, ausgenommen und filetiert. Der letzte Arbeitsgang besteht darin, die Fischfilets mit viel Eis in Styroporschachteln zu verpacken. Denn draussen wartet schon der LKW, der die Ware in zwei bis drei Tagen nach London bringt, wo die Dorsche «fangfrisch» auf den Markt kommen.

 

Gutes Geld in kurzer Zeit

Die Maschinen machen einen Heidenlärm, sodass ich mir die Erlaubnis zum Fotografieren mit Zeichensprache einhole. Die meisten der hier am Fliessband Arbeitenden sind Männer. Es sind aber auch ein paar wenige Frauen darunter. Viele tragen Kopfhörer. Einerseits, um sich vor dem Lärm zu schützen und anderseits, um bei der eintönigen Arbeit Musik zu hören. Während der Hauptsaison Januar bis März wird hier sieben Tage die Woche bis zu zwölf Stunden gearbeitet. Denn bei gutem Wetter fahren die Kutter manchmal gleich zwei Mal raus, um Dorsch zu fangen.

Die Arbeit ist hart, anstrengend und es sind lange Arbeitstage. Aber die Jobs sind begehrt. Man verdient in kurzer Zeit gutes Geld. Vor allem aus den baltischen Staaten nehmen jedes Jahr junge Männer und Frauen den weiten Weg auf sich, um hier in den Wintermonaten ihr karges Gehalt aufzubessern. Ohne diese zusätzlichen Arbeitskräfte wäre das Arbeitspensum gar nicht zu bewältigen.

Bevor die Fischköpfe nach Nigeria verfrachtet und zu Fischsuppe verarbeitet werden, werden ihnen noch die Zungen rausgeschnitten. Nach alter Tradition ist das ein Privileg, das den Kindern vorbehalten ist. Die Arbeit ist beliebt bei Kindern und Jugendlichen. 50 norwegische Kronen, umgerechnet zirka fünf Franken werden pro Kilo Dorschzunge bezahlt.

Beherzt greifen die kleinen Kinderhände des zehnjährigen Mädchens einen fussballgrossen Fischkopf, spiessen ihn auf einem Metallspiess, ziehen den Kopf nach hinten und schneiden mit einem trockenen Schnitt die Zunge heraus. Der Kopf fliegt mit Schwung in den dafür bereitgestellten Container. Die Zungen werden in einem kleineren Plastiktopf gesammelt. Die schwere Holztür wird aufgeschoben und ein älteres Ehepaar betritt die Halle. Sie wechseln ein paar Worte mit den Teenagern und lassen sich zwei Handvoll Dorschzungen in eine Plastiktüte packen.

Auch mir werden die Zungen angeboten. Ich lehne dankend ab. Was aber mehr am verschmutzten Plastiksack und weniger an den frischen Dorschzungen liegt. Denn die werde ich sicher einmal probieren. Die Zungen des Skrei (norwegisch für Dorsch) gelten als Delikatesse. Sie werden wie ein Schnitzel paniert und anschliessend in heissem Öl goldbraun frittiert.

 

Info: 2020 erfüllten sich Stefan Leimer, der unter anderen für das BT als selbstständiger Fotograf arbeitet, und seine Frau Nathalie einen lang gehegten Wunsch und wanderten nach Andenes aus. Nathalie arbeitet im 
lokalen Gesundheitszentrum als Krankenschwester, Stefan konzentriert sich weiterhin auf die Fotografie und arbeitet zudem als Tourguide bei Whale Safari Andenes. 
www.stefanleimer.ch

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