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Meinung

Für Tanja

Vor einer Woche wurde Tanja zu Grabe getragen. Tanja war Jüdin, Judaistin, lebte seit vielen Jahren am Jurasüdfuss. Geboren wurde sie mitten im Deutsche Reich, zehn Monate vor Kriegsende.

Bild: bt/a

Amira Hafner-Al Jabaji 
Muslimische Theologin

Sie war eine Überlebende der Shoa. Über ihre konkreten Erfahrungen, die sie offensichtlich traumatisiert hatten, sprach sie nie. Und ohne sie deutlich auszusprechen, war jedem Menschen, der mit Tanja zu tun hatte klar, dass er oder sie diese Grenze niemals überschreiten würde. Das respektieren alle.

Nicht alle Menschen verarbeiten ihre schlimmen Erlebnisse, indem sie darüber sprechen. Stattdessen kniete sich Tanja ein Leben lang ins Studium über das Judentum, über andere Religionen, engagierte sich unermüdlich im interreligiösen Dialog, schaffte Verständigung und kämpfte für Frauenrechte in den Religionen, gegen Bevormundung und gegen Ausgrenzung und Hass.

Die Entwicklung in unserer Gesellschaft, in der Denken und Sprache teils wieder übelste Formen annehmen, machte ihr nicht nur Sorgen, sondern Angst. Sie erkannte, dass Gedankenlosigkeit und Ahnungslosigkeit nicht minder gefährlich sind wie Kalkül und zielgerichtete Hetze, und dass beide Hand in Hand marschieren.

Tanja machte keinen Unterschied in ihrer tiefen Betroffenheit und Solidarität mit Opfern von Gewalt. Ob es Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, gegen Dunkelhäutige, gegen Fremdländische oder gegen Andersgläubige und Anderslebende war, immer hat sie sich klar und rigoros gegen jegliche Abwertung und Entmenschlichung gestellt. Immer galten ihre Solidarität und ihre Liebe den Geächteten, den Ausgegrenzten, den Bedrohten, den Friedliebenden.

Jede neue Meldung in den Nachrichten, die von Hass und Gewalt berichteten, setzte Tanja mehr und mehr zu. Ich bin dankbar, muss sie sich nun nicht mehr Herz und Kopf zerbrechen über die Morde in Hanau. Die Nachricht hätte sie niedergeschmettert und vielleicht auch dann und wann den Glauben an das Gute vergessen lassen.

Als Tanja nach jüdischer Tradition beerdigt wurde, weinte auch der Himmel zunächst bitterlich. Doch wie die letzten Gebete über dem frischen Grab gesprochen wurden, strahlte die Sonne mit ihrer ganzen Kraft und Freundlichkeit durch die dunklen Wolken.

Info: Amira Hafner-Al Jabaji engagiert sich als Muslimin im interreligiösen Dialog und moderiert im Schweizer Fernsehen die «Sternstunde Religion». Sie lebt in Grenchen. In dieser Rubrik schreiben ab-wechslungsweise Autorinnen und Autoren verschiedener Glaubensbekenntnisse.
 kontext@bielertagblatt.ch

Stichwörter: Judentum, Gewalt, Gesellschaft

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