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Ich, grundlos Opfer von Gewalt

Diese Polizeimeldungen kennen wir alle: «Person von Unbekanntem angegriffen.»

Jessica Ladanie

Jessica Ladanie

Solche Nachrichten lösen bei mir Fassungslosigkeit aus. Nun bin ich selber Opfer eines tätlichen Angriffs geworden. Ich bin eine jener Frauen, die von einem Unbekannten grundlos angegriffen worden ist. Und ich gehöre zu denen, die nicht schweigen wollen.

Es ist Montagmorgen. Mein Arbeitsweg nach Bern führt an der Post und dem Blumenladen vorbei in den Bahnhof. Die Schiebetür öffnet und ich setze die Mund-Nasen-Maske auf. Plötzlich ereilt mich mit voller Wucht ein stechender Schmerz am Schienbein. Mir ist blitzartig übel, kann mich kaum auf den Beinen halten.

Ich verstehe nicht, wie mir in diesem Moment geschieht. Hat mich jemand aus Versehen angerempelt? Nein, die Intensität des Schmerzes war zu wuchtig. Ich drehe mich um, sehe niemanden, schaue wieder nach vorne. Da rennt eine grosse männliche Gestalt Richtung Unterführung. Für mehr als ein «What the fuck, Dude» reicht es nicht. Der Typ ist weg. Unbehelligt verlässt er am Montagmorgen in der Rushhour den Tatort und lässt mich schmerzerfüllt zurück.

Eine junge Frau beobachtet das Geschehen, 
nähert sich und erfragt mein Wohlbefinden. Sie schildert, wie der Unbekannte von hinten auf mich zukam und mit voller Wucht von der Seite 
in mein Schienbein trat. Erst durch sie erfuhr ich, was wirklich passiert war.

Es passierte mutwillig. Böswillig. Aus dem Nichts. Einfach so. An einem Montagmorgen.

Der Schock sitzt tief. Physisch sammle ich mich rasch. Humpelnd begebe ich mich aufs Perron 9, in den Interregio nach Bern. Im Zug gleitet mein Blick auf einen Mann, der dem Angreifer ähnelt: Gross, weiss, breit, kurzes helles Haar und ein blaues Oberteil. Nach wenigen Minuten zeigen sich erste psychische Auswirkungen: Angst, Einschüchterung und Misstrauen.

An Arbeit ist für mich nicht ernsthaft zu denken. Das Erlebte belastet. Der Stress führt zu Kopfschmerzen. An diesem Tag schätze ich die Herzlichkeit meiner Arbeitskollegen noch mehr als sonst. Sie ermutigen mich, zur Polizei zu gehen und die Tat zur Anzeige zu bringen. Vor mir stehen also ein Arztbesuch und ein Rapport bei der Polizei. «Heute Morgen von einem unbekannten Mann grundlos auf den Unterschenkel rechts geschlagen worden», hält die Ärztin im 
Attest fest, «Zirka 12 Zentimeter grosse, stark 
dolente Schwellung. Patientin in gutem Allgemeinzustand, deprimiert und besorgt.»

Stimmt, treffender hätte es die Ärztin nicht dokumentieren können. Das Hämatom wird in kurzer Zeit abheilen. Doch der psychische Schock und Schmerz wird vermutlich noch eine Weile anhaften. Meine «heile Welt» wurde mit einem wuchtigen Schlag ins Wanken gebracht. Der Angriff von hinten war hinterlistig. Und äusserst feige.

Innert kurzer Zeit detektiere ich ein Muster: Schuldgefühle und Selbstzweifel. Was habe ich getan? Wurde ich Opfer, weil ich eine Frau bin? Weil ich eine Person of Color bin? Ist es Antisemitismus? Weil ich mich gegen das Töten von Tieren einsetze? Habe ich den Typen vielleicht mal versetzt? Oder mich vor zehn Jahren nach einem One-Night-Stand nicht mehr gemeldet? War das gegen mich oder war ich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort? Übertreibe ich etwa?

Diese Fragen tauchen auf, ungewollt. Die Schuld liegt ausschliesslich beim Täter, das weiss ich. Als Opfer bleibe ich mit vielen Fragen zurück. Der Täter liess mir keine Chance, mich zu wehren, ich muss die Situation akzeptieren.

Noch am selben Nachmittag reiche ich bei der Polizei eine Anzeige und einen Strafantrag gegen unbekannt ein. Der Täter wird wohl nicht gefasst. Doch die Polizei ist orientiert. Wird der Täter wieder übergriffig und verzeigt, lässt sich vielleicht ein Muster erkennen und weitere Opfer können vermieden werden.

Kommen Täter oder Täterinnen ungeschoren davon, stärkt das ihr Ego und aus dem öffentlichen Raum wird aus ihrer Sicht ein vermeintlich rechtsfreier Raum. Und wer weiss, vielleicht wird aus einem Tritt von hinten ein Schubser vor den Zug.

Zu meinem Glück reagieren sowohl mein Umfeld als auch die Institutionen zuvorkommend und unterstützen die Anzeige. Mir ist nun noch bewusster, wie wichtig Zuspruch und Unterstützung für das Opfer sind. Auch wenn eine Verzeigung gegen Unbekannt nur bedingt hilft, hilft es dem Opfer, die Kontrolle wiederzuerlangen. Gewalttaten dürfen nie hingenommen werden. Nie. Ohne Wenn und Aber.

Stichwörter: Gewalt, Täter, Opfer

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