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30 Jahre Mauerfall

«Ich habe geweint, als ich den Supermarkt verlassen musste»

Dana Schulz, Doreen Nüchterlein-Fröber und Mario Kiegelandt leben in Täuffelen und haben ihre Kindheit in der DDR verbracht. Gemeinsam mit Danas Mutter Jutta Schulz erinnern sie sich an das Schöne und weniger Schöne von einst.

Nach der Öffnung der Grenzen strömten tausende DDR-Bewohner in den Westen, um erste Erfahrungen mit dem Kapitalismus zu machen. Keystone

von Andrea Butorin


« Unsere Heimat gibt’s nicht mehr», pflegen Dana Schulz und Mario Kiegelandt zu sagen, wenn sie nach ihrer Herkunft gefragt werden. Beide sind in der ehemaligen DDR aufgewachsen und leben heute in Täuffelen. Für das Gespräch mit dem BT haben sie ihr Wohnzimmer in ein DDR-Museum verwandelt. Mit an den Stubentisch setzen sich Jutta Schulz, Danas zu Besuch weilende Mutter, und Doreen Nüchterlein-Fröber, die mit ihrer Familie ebenfalls in Täuffelen wohnt und im selben Restaurant arbeitet wie Dana Schulz.

Dana Schulz bei ihrer Einschulung 1989 und Doreen Nüchterlein-Fröber nach ihrer Jugendweihe im März 1989.


Über dem Fenster hängt eine DDR-Flagge, die normalerweise Mario Kiegelandts Lastwagen ziert. Auf dem Tisch liegt ein ausgebreitetes Sandmännchen-Brettspiel (das DDR-, nicht das BRD-Sandmännchen), flankiert von den beliebtesten Kompagnons des Sandmännchens in Plüsch, nämlich Schnatterinchen die Ente, Kobold Pittiplatsch, Herr Fuchs und Frau Elster sowie Hund Moppi. Daneben ein thermoskrug-artiger Behälter, Eisbombe genannt, mit dem die Kinder in der DDR im Sommer losgezogen sind, um Speiseeis zu kaufen.
Doreen Nüchterlein-Fröber hat alle wichtigen Dokumente von einst mitgebracht: Den Personal- und den FDJ-Ausweis (Freie Deutsche Jugend), die zur Jugendweihe erhaltene Urkunde und die Mitgliedskarte für Jungpioniere mit den aufgedruckten zehn Geboten der Jungpioniere (Gebot 1: «Wir Jungpioniere lieben die Deutsche Demokratische Republik.» Gebot 2: «Wir Jungpioniere lieben unsere Eltern»). Auch den Trabbi-Bestellschein ihres Schwiegervaters hat sie dabei – um das gewünschte Auto zu erhalten, mussten viele länger als ein Jahrzehnt warten.
 

Dana und Jutta Schulz

Mitten in der Nacht in den Westen
Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, war Dana Schulz 7 Jahre alt, Mario Kiegelandt 12, Doreen Nüchterlein-Fröber 14 und Jutta Schulz 25. Mit Ausnahme der Jüngsten in der Runde erinnern sich alle daran, die Ereignisse live am Fernseher mitbekommen zu haben. Jutta Schulz hat die verwirrenden Worte von Neu-DDR-Mediensprecher Günter Schabowski im Ohr, der fälschlicherweise verkündete, die Reisefreiheit gelte «sofort, unverzüglich». «Als er das gesagt hatte, herrschte bei uns extreme Ruhe», sagt Mario Kiegelandt, der in Wernigerode nur 15 Fahr-Minuten von der deutsch-deutschen Grenze lebte.
Zwar wurde am 9. November spätabends in Berlin die Mauer durchlässig. Aber die Grenzübergänge des Landes wurden erst nach und nach geöffnet. «Die kommunizierten jeweils, wann es wo aufging», sagt Mario Kiegelandt. Als Erste reiste Jutta Schulz in den Westen. Ihr Mann Holger führte damals eine Kneipe. Viele Gäste seien schon am 10. November zum ersten Mal «drüben» gewesen. «Die haben meinen Mann so verrückt gemacht, dass er am Tag darauf um 22 Uhr den Laden zugemacht hat.» Sie hätten daraufhin drei Freunde rausgeklingelt, einer war schon im Schlafanzug, und überredet, mit in den Westen zu fahren. Zu fünft quetschten sie sich in ihren Lada und fuhren los. An der Grenze zwischen Henneberg und Eussenhausen mussten sie 15 Ostmark gegen 15 Westmark tauschen, «unser erstes Westgeld!», und fuhren dann weiter nach Bad Neustadt. Auf dem Parkplatz beim Kaufhaus Pecht übernachteten sie und fuhren anderentags früh los, um das Begrüssungsgeld, 100 D-Mark pro Person, abzuholen. Ausgeben konnten sie das Geld allerdings nicht, da Holger Schulz um 10 Uhr wieder in der Kneipe sein musste. Dana und ihre Schwester waren derweil bei der Oma untergebracht. «Ich weiss noch genau, wie nervös Oma war und immer wieder sagte: «Hoffentlich kommen die Kinder wieder», sagt Dana Schulz.

Doreen Nüchterlein-Fröber
 

«In Konsumrausch geraten»
Auch Mario Kiegelandt erinnert sich gut, wie er mit seiner Mutter und dem jüngeren Bruder zum ersten Mal in den Westen reiste: Am 24. November fuhren sie um 6 Uhr früh mit dem völlig überfüllten Zug bis Stapelburg. «Von dort mussten wir im Regen zu Fuss über einen Acker bis zur Grenze laufen.» Bis zu ihrem Ziel, Bad Harzburg, waren es weitere sieben Kilometer, die sie dank eines LKW-Fahrers nicht zu Fuss gehen mussten. In Bad Harzburg holten sie ihre 300 Mark Begrüssungsgeld ab, dann tauchten sie ins Shoppingparadies ein: «Südfrüchte! Die Kleiderauswahl! Haribo!» Die Mischung aus Staunen, Überforderung und Alles-haben-wollen haben auch Dana Schulz und Doreen Nüchterlein-Fröber bei «ihrem ersten Mal» erlebt. «Ich glaube, ich habe geweint, als ich den Supermarkt verlassen musste», sagt Dana Schulz.
Die 300 Mark haben die Kiegelandts an ihrem ersten Tag gleich ausgegeben. Sie kauften Esswaren, für Mario gabs zudem ein Radio. Wie die anderen DDR-Ausflügler kehrten sie am Abend mit vollen Taschen wieder heim.
«Danach sind alle regelrecht in einen Konsumrausch geraten», sagt Dana Schulz, «vorher waren wir zufrieden mit dem, was wir hatten.» In der DDR gab es ausschliesslich saisonales Obst und Gemüse, das auf alle erdenkliche Arten haltbar gemacht wurde, und die Menschen mussten bei geringer Produktevielfalt lange Anstehen, wenn sie etwas ergattern wollten. Besonders eng war die Versorgungslage in den 80er-Jahren. Südfrüchte gab es da nur noch zu wichtigen Feiertagen, was »Festversorgung» genannt wurde. Wer über Devisen oder gute Kontakte verfügte, kam in der DDR via Intershop an Westprodukte heran: «Die Mutter einer Freundin arbeitete im Intershop. Die hatte immer Duplo oder Hanuta zuhause», erinnert sich Doreen Nüchterlein-Fröber schwärmerisch.
Bald kam die Arbeitslosigkeit
Nach der Wende hielt die Freude an den vielen bunten Waren nur solange, wie man sich diese leisten konnte: Bald schon bekamen alle die negativen wirtschaftlichen Folgen der Wiedervereinigung zu spüren. Mario Kiegelandts Mutter arbeitete als Dreherin für Autospulen. «Ab 1991 wurde die Produktion sofort zu VW nach Braunschweig verlegt», sagt er. Jutta Schulz arbeitete in einem Modezentrum als Herrenschneiderin. Der Betrieb ging ein, weil Konfektionen ab der Stange die Kleider auf Mass verdrängten. Ab da fand sie nur noch temporär Arbeit.
Die wirtschaftliche Schieflage habe verschiedene Ursachen gehabt, sagt Doreen Nüchterlein-Fröber. «Alle wollten nur noch Westprodukte kaufen.» Viele gute DDR-Produkte seien vom Westen aufgekauft worden, während unrentable Betriebszweige aufgegeben wurden.
 

Dana Schulz und Mario Kiegelandt

Cousine hat die Mutter ausspioniert
Auf ihre alte Heimat blicken alle mit gemischten Gefühlen. «Ich hatte eine sehr schöne Kindheit», sagt Dana Schulz. Ihr habe nichts gefehlt. Zwar hätten sie nicht in den Westen reisen können, aber Ferien an der Ostsee seien trotzdem toll gewesen. «Die DDR musste alles selbst aufbauen, nachdem die Sowjetunion einiges, was nach dem Krieg noch funktionierte, abtransportiert hat», sagt Doreen Nüchterlein-Fröber. Das Schul- und Kinderbetreuungssystem sei vorbildlich gewesen, sagt Jutta Schulz. «Aber man hätte die Leute nicht einsperren dürfen, und das mit der Stasi war nicht in Ordnung.»
Ihr Mann Holger habe sein Herz stets auf der Zunge getragen. «Aber trotzdem haben wir die Firma ‹Horch und Guck› stets im Hinterkopf gehabt.» Bis heute konnte sich Holger Schulz nicht dazu durchringen, nachzusehen, ob über ihn eine Stasi-Akte geführt wird: «Wir wollen lieber nicht wissen, wer uns ausspioniert hat», sagt Jutta Schulz.
Denn die Möglichkeit, die eigene Akte nachzuprüfen, hat nach dem Ende der DDR zu vielen Tragödien geführt. Etwa bei der Familie von Mario Kiegelandt. Dessen Mutter hatte vor 1989 viermal einen Antrag auf Verwandtschaftsbesuch im Westen gestellt und viermal eine Absage erhalten. Den Grund erfuhren sie in den drei Ordnern voller gesammeltem Material: «Die Cousine meiner Mutter hatte uns ausspioniert und deponiert, dass bei der alleinerziehenden zweifachen Mutter «akute Fluchtgefahr» bestehe. Kiegelandts Mutter sprach seit der Aktendurchsicht kein Wort mehr mit ihrer Cousine. 
Besuchen Dana Schulz und Mario Kiegelandt heute ihre alte Heimat, empfinden sie Beklemmung: «Alles scheint stehen geblieben», sagt Dana Schulz. Für die beiden ist eine Rückkehr nach Ostdeutschland keine Option mehr: Sie leben seit 17 Jahren in der Schweiz, schätzen die hiesigen Sozialleistungen und haben hier ihren Sohn Ian zur Welt gebracht.
Doreen Nüchterlein-Fröber ist wegen der prekären Situation auf dem Arbeitsmarkt mit den beiden Kindern ihrem Mann in die Schweiz gefolgt. Nach einer Übergangszeit haben sie entschieden, ihr Haus in der alten Heimat Piesau zu verkaufen.  «Nach der Pensionierung», ist sie aber überzeugt, «gehen wir zurück in den Osten.»
Jutta Schulz und ihr Mann Holger halten derweil die Stellung in ihrem grossen Haus im thüringischen Dorf Eichenberg, das sie in dritter Generation bewohnen. Was dereinst damit passieren soll, wissen sie nicht, denn auch Dana Schulz’ Schwester lebt unterdessen in Hagneck.

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