Sie sind hier

Abo

Wochenkommentar

Johnson ist eingeknickt – 
und könnte trotzdem als Sieger dastehen

Es tönt wie ein Aprilscherz. Vor einigen Tagen präsentierte der britische Bezahlfernsehsender Sky seine neueste Innovation: Einen Nachrichtensender, in dem das Gezerre um den Austritt Grossbritanniens aus der EU konsequent ignoriert wird.

Michael Schneider

Man wolle dem Publikum Gelegenheit geben, sich eine Pause vom Brexit zu nehmen, sagte der Chef von Sky News. Man sei sicher, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer das wertvoll fänden.

Dass viele Menschen in Grossbritannien des Brexit überdrüssig sind, ist der grösste Trumpf von Premier Boris Johnson. Heute versucht er, für die neueste Version des Austrittsabkommens mit der EU eine Mehrheit im Unterhaus zu bekommen. «Just do it», tut es einfach, lautete gestern die Schlagzeile auf der Titelseite der rechten Boulevardzeitung «Daily Express». Die Anlehnung an den Slogan eines Turnschuhherstellers ist symptomatisch: Es handelt sich um politisches Marketing. In der Sache bringen die Änderungen am Austrittsabkommen, die Johnson mit der EU ausgehandelt hat, kaum Vorteile.

Gewiss, der verhasste Backstop ist weg. Noch vor Kurzem hatte Brüssel beteuert, darüber diskutiere man nicht mehr. Grossbritannien kann die europäische Zollunion auf jeden Fall verlassen, unabhängig davon, wie die Verhandlungen über ein zukünftiges Freihandelsabkommen mit der EU verlaufen. Aber der Preis, den die britische Regierung zahlt, ist hoch.

Johnson habe in der Frage der inneririschen Grenze auf der ganzen Linie kapituliert, schrieb der Grossbritannien-Korrespondent von Radio SRF, Martin Alioth. Um eine sichtbare Grenze zwischen Irland und Nordirland zu vermeiden, machte London weitreichende Konzessionen. Nordirland bleibt im europäischen Binnenmarkt und in einer Zollpartnerschaft mit der EU. De facto bedeutet das eine Zollgrenze in der Irischen See zwischen Irland und Grossbritannien. Die gesetzgebende Versammlung Nordirlands kann periodisch über die Verlängerung des Arrangements abstimmen. Ein Vetorecht für Johnsons Verbündete von der nordirischen Protestanten-Partei DUP gibt es aber nicht. Nordirland wird in Zukunft EU-Bestimmungen autonom nachvollziehen. Mehr noch: Der Backstop war lediglich eine Rückfalloption. Neu ist festgeschrieben, dass die Beziehungen Nordirlands zu Irland im Zweifelsfall Priorität haben vor jenen zu England, Schottland und Wales. Rein juristisch betrachtet mag der Souveränitätsverlust für Grossbritannien damit kleiner sein als mit der Lösung, die Theresa May ausgehandelt hatte. Praktisch ist das Gegenteil der Fall. Kein Wunder, kündigte die DUP umgehend an, gegen das Brexit-Abkommen zu stimmen.

Verteidiger Johnsons wenden ein, bei der Beseitigung des Backstops gehe es um etwas anderes. Nur ausserhalb der EU-Zollunion und des Binnenmarkts könne Grossbritannien nach eigenem Gusto Handelsabkommen mit dem Rest der Welt schliessen. Und durch die daraus resultierenden Vorteile würden die Nachteile des Austritts aus der EU mehr als kompensiert. Die Idee dahinter: Die EU sei überreguliert. Die britische Wirtschaft hält wenig von solchen Träumen von einem «globalen Britannien», die nicht mehr sind als eine nostalgische Erinnerung an das verlorene Weltreich. Für sie sind einheitliche Bestimmungen zu Waren und Dienstleistungen kein Handelshemmnis, sondern Voraussetzung dafür, dass Importeuren und Exporteuren Papierkrieg und Verzögerungen erspart bleiben. Die Vision eines deregulierten «Singapur an der Themse» ist für viele Unternehmen unattraktiv – einfach, weil die EU der wichtigste Handelspartner Grossbritanniens ist. Anders gesagt: Wie im Fall Nordirlands ist für England, Schottland und Wales die Übernahme von EU-Recht vernünftig.

Die Illusion vom «Singapur in der Nordsee» ist auch der Grund dafür, dass Johnson eine entscheidende Zusage Mays an die EU abschwächte. Nämlich, dass Grossbritannien die EU bei Umweltschutzstandards und Arbeitnehmerrechten nicht unterbieten werde. Die entsprechende Passage wurde in die rechtlich nicht bindende «politische Erklärung» verlegt. Auch diese Änderung könnte sich als Pyrrhussieg erweisen. Dass die EU bei künftigen Handelsgesprächen Rosinenpickerei zulässt, ist so gut wie ausgeschlossen. Vom Tory-Brexit bleibt so nicht viel übrig. Die britische Regierung lieferte der Labour-Opposition lediglich einen hervorragenden Grund, auch das neue Brexit-Abkommen abzulehnen.

Die Zeitung «Guardian» sieht Johnson dennoch in einer Win-Win-Situation: Sage das Unterhaus Nein zu seinem Deal, könne er bei Neuwahlen glaubhaft versichern, alles versucht zu haben, um den Brexit durchzuziehen. Das dürfte immerhin diejenigen ansprechen, die einfach genug haben von dem Thema.

mschneider@bielertagblatt.ch

Nachrichten zu Fokus »