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Meinung

Leben ist einfach unberechenbar! Gut so!

Wie sehr würden mich jetzt lachende Gesichter freuen ohne Stofffetzen vor dem Mund. Und endlich wieder mal Besuche!

Judith Giovanelli-Blocher

Wie sehr würden mich jetzt lachende Gesichter freuen ohne Stofffetzen vor dem Mund. Und endlich wieder mal Besuche! Meine jüngste Schwester zum Beispiel, die sonst regelmässig kommt und wahnsinnig gut erzählen kann, bei ihr purzelt jeweils die halbe Welt in die Stube hinein.


Aber jetzt sollte man ja Besuche vermeiden, ausserdem sagt sie, die immer in Zürich umsteigen muss, wenn sie zu mir will, dass sie neuerdings jeweils einfach ein unheimliches Gefühl habe, wenn sie in Zürich durch den Bahnhof laufen muss. Viele übliche Passagiere bleiben jetzt zu Hause, auf der andern Seite haben viele Menschen ihre Stammbeiz verloren, ihren Zufluchtsort, und treiben nun in dem halb verlassenen Hauptbahnhof herum. «Blödsinn, das ist doch alles Blödsinn, diese zunehmende Angst überall», fahre ich sie an. Diese Pandemie bringt uns noch um den Verstand! Und dann kommt dazu hierzulande jeden Morgen diese graue Nebelwand vor den Fenstern.


Die Amaryllis, die jetzt im dritten Jahr überaus reich geblüht hat auf unserem Stubentisch, schliesst ihre Blüten. Dafür ist eine weitere Pflanze gebracht worden von einer Freundin. Zwei rote Blüten sind schon offen, andere sind auf dem Weg, ihre Kelche zu öffnen. Aber es braucht halt Geduld (das war aber nie meine hervorstechendste Eigenschaft!).
Der reformierte Pfarrer vom Spital geht Ende Jahr weg. Nach 21 Dienstjahren hat er ja dazu wirklich das Recht. Aber für uns und viele andere ist es ein Verlust. Nicht nur, wenn ich krank im Spital lag, sondern auch in den Zwischenzeiten war der Sonntagmorgen, wo er predigte, mit anschliessendem Kaffee, ein vertrauter Treffpunkt. Mehr als 20 Jahre lang hat er tatkräftige Hilfe geleistet in allen möglichen Notlagen seiner Patientinnen und Patienten und daneben am Sonntagmorgen im Spital gepredigt, wo wir zu seinen häufigen Zuhörern gehörten.
Es war egal, ob einer etwas glaubte oder nicht, aber dem Pfarrer war es nicht egal, ob er seine Botschaft glaubwürdig rüberbrachte. Man spürte immer, dass er sich gut vorbereitet hatte und seine Predigt einfach Substanz hatte. Es war klar: Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein. Neben all der praktischen Hilfe, die der Pfarrer geleistet hat, stand die biblische Botschaft bei ihm stets im Mittelpunkt. Diese Zusammenkunft am Sonntagmorgen im Spital, Patienten, von Freiwilligen aus Zimmern in Betten ins Lokal gebracht, und auswärtige Freunde, werden wir vermissen.


Überall ist viel Wechsel. Das weckt Sehnsucht nach Vertrautem. Bleibendem. Und nun steht Weihnachten vor der Tür. Seit Wochen häufen sich die Beiträge in den Zeitungen, wie man das Fest trotz Abstandsgebot feiern könnte. Hand aufs Herz: Auch früher war es nicht so, dass immer die ganze Familie zusammenströmte an dem hohen Fest. Aber heute besteht ein handfester Grund für die Distanz. Und darum dürfen wir es auch sagen, wenn wir allein sind.


Letzten Dienstag gab es am Fernsehen eine Premiere, das «10 vor 10» fiel aus zugunsten einer langen Sendung über die Frage des selbstbestimmten Sterbens. Ich kannte fast alle Teilnehmenden, weil ich früher selbst mehrmals im Team des «Zischtigsclub» mitmachte. Wissen Sie, was ich beim Wiedersehen am Bildschirm dachte? Mein Gott! Sind die alt geworden! Zehn Jahre später und sie würden garantiert dasselbe denken, würden sie mich heute sehen.


Und wie denke ich in der Frage des Suizids? Früher habe ich stets gesagt: Älter als 80 will ich nicht werden, das bringt nichts. Aber heute bin ich 88! Und die Last des Alters wird schwerer und schwerer. Und gleichzeitig der Abschied vom Leben leichter und leichter. Aber bei allem Verständnis für die, die selbst ihr Ende bestimmen: Ich wundere mich über mich selber, dass ich jetzt in mir beständig in mir drin einen Ruf höre: Es lebe das Leben! Wie unvernünftig! Aber es gibt etwas, das über der Vernunft steht. Und das ist die Hoffnung. Und die ist für mich bis heute gültig. Man kann es nicht erklären. Man kann es nur glauben. Fast jeder Tag bringt heute eine Überraschung. So oder so. Leben ist einfach unberechenbar! Gut so! Wohlauf denn bis morgen!


Info: Die 88 Jahre alte Schriftstellerin Judith Giovannelli-Blocher lebt mit ihrem Mann in Biel. Sie beschäftigt sich seit Langem mit Altersfragen.

Stichwörter: Biel, Zürich, Verkehr, Corona, MAsken, Besuch

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