Sie sind hier

Abo

Velotour

Liegt das Glück ennet der Grenze?

Bea und Pit Thalhammer haben genug von der Schweiz und machen sich auf ins französische Nachbarland. Doch auch da läuft nicht alles rund. Die Routenplanung wird zum Streitpunkt – und auch das Wetter scheint etwas gegen ihre Tour zu haben.

Weit und breit kein Grenzwächter in Sicht: Bea und Pit Thalhammer gelangen unbehelligt nach Frankreich.
 Bild: zvg
  • Dossier

Pit Thalhammer

Muesch halt no meh uflade.» Der dicke Typ, der uns in einer kurzen Steigung beim Bremgartenfriedhof überholt, sitzt aufgeplustert auf seinem Roller wie der fette Hahn auf der Henne. «Würsch gschieder loufe!», gibt Bea, der der Spruch gilt, mit gleicher Münze bissig zurück.

Im deutschsprachigen Raum hören wir dumme Kommentare, seit wir uns auf Veloreise verabschiedet haben. Woher, wohin, wie weit und wie lang interessiert selten. Ist es Besserwisserei, Neid, schlicht dummes Geschwätz oder spielt die Mentalität eine Rolle, wie wir vermuten?

Wie sehr stellt da die zugerufene Aufmunterung «Bravo, bonne route!» auf dem Weg nach Lyon auf, gerade jetzt, mitten im heftigen Gewitterregen. Das macht die höflichen Franzosen so sympathisch, dafür lieben wir ihr Land.

Der Grenzübertritt im westlichsten Zipfel der Schweiz ging ohne Kontrolle vor sich. Weit und breit keine französischen Grenzer. Wären wir allerdings aus Frankreich nach Helvetien eingereist, hätten uns sechs Schweizer Grenzpolizisten mitten in einem Waldstück auf den Zahn gefühlt. Alle Einreisenden werden befragt. Wir sind kaum einen Gruss wert.

Ob die Franzmänner uns überhaupt mit offenen Armen empfangen, nachdem wir sie aus der Fussball-EM gekickt haben? 
Wir werden sehen ...

Dauerregen und
nächtlicher Nervenkitzel

Nach zwei sonnig-heissen Tourtagen lässt der Sommer die Maske fallen, wohl um uns zu zeigen, dass man dieses Jahr nicht mit ihm rechnen kann. Wir kämpfen uns bis nach Lyon durch ekelhaften Dauerregen und böigen Wind. Schwierig, täglich Kleider und Schuhe trocken zu kriegen. Geht das so weiter, setzen wir Moos an. Also vorbeugend im Hotelzimmer Sonnenwärme per Fernbedienung aktivieren. Geräte, die kühlen, heizen auch.

Zum Pissewetter passt meine unglückliche Routenwahl auf der D1084 über Valse-rhône – Nantua nach Lyon. Die stinkende, laute Verkehrslawine nervt. Dass die harten Typen der Tour de France 2021 über einen Teil der gleichen Strecke rasen, ist kein Trost. Wir verpassen den sportlichen Klassiker der Franzosen bei Onnyonax um einen Tag. Drei Wochen im Jahr mutieren unsere 67 Millionen frankofonen Nachbarn zu unverbesserlichen Velofreaks. Die Begeisterung kennt keine Grenzen, erst recht, weil es an der laufenden Fussball-EM «dank» den Eidgenossen nichts zu Feiern gibt.

Hoffentlich ist das kein schlechtes Omen, dass wir heute zum Campen retour pedalen müssen, weil man uns in Port keinen Zeltplatz anbieten will, respektive kann. Wenigstens gelingt es in der Fussball-EM-Verlängerung Schweiz - Spanien endlich, mit dem Laptop ins Internet zu kriechen. Hat gleich viel Nerven gekostet wie das abschliessende Elfmeterschiessen. Das brauchen wir wirklich nicht jeden Abend!

Panierte Kutteln und 
eine gefährliche Beule

Nach zwei Stunden liegt die Stadtgrenze von Lyon endlich hinter uns. Die 2,4 Millionen Menschen, die in der Metropolregion wohnen, machen Lyon nach Paris zur zweitgrössten Stadt Frankreichs. Die steilen, verkehrsreichen Serpentinen, weg von der Saône Richtung Lyonnaiser Berge im Westen, keuchen wir zu Fuss hoch, die Velos schiebend. Einmal mehr zu viel gegessen, die letzten Tage. Ein Elend in Frankreich ist das gute Essen. Lyon, bekannt für seine üppigen Schlemmereien, hat uns zugesetzt. Die Heimatstadt des Kochpapstes Paul Bocuse bietet Liebhabern von Innereien ausgefallene Gerichte an (für mich eine willkommene Abwechslung auf dem Teller, Bea muss das nicht haben). Wer hier Tablier de Sapeur (panierte Kutteln) oder Andouillette sauce moutarde (Kaldaunenwurst in Senfsosse) nie versucht hat, hat etwas verpasst.

Zufällig fällt mir heute Morgen beim Packen der hässliche Buckel an der Aussenseite des Hinterreifens auf. Die Seitenwand gleicht einem Sieb. Sieht nicht gut aus. Wenn der Reifen in einer Abfahrt platzt, dann ... Die üblen Fahrspuren im indischen Himalaya und in Nepal sowie Hitze und Kälte waren Gift für die Pneus. Keine Diskussion, ein neuer muss her! Bei strömendem Regen pedale ich in Moulins zu einem grossen Sporthändler am Stadtrand. Schlappe 15 Euro kostet der Ersatzreifen, Made in Thailand. Keine Topqualität, er wird die nächsten Monate aber bestimmt halten. Ebenso wie unsere «Reifen» am Bauch die nächsten Wochen, wie wir befürchten. Sie sind mehr und mehr sichtbar geworden. Noch nicht hässlich, aber lästig und unschön. Mehr Velofahren! Es wird höchste Zeit!

Bei der Tourenplanung hat die lange 
Wartezeit in der Schweiz ebenfalls Spuren hinterlassen. Wir diskutieren aneinander vorbei. So als würden wir verwundert feststellen, dass der vermeintliche gemeinsame Faden zu verschiedenen Knäueln führt.

Bea gefällt mein roter Faden durch Frankreich nicht, mir stinkt ihr Herumkritisieren, nachdem alles fein eingefädelt scheint. Quer durch das Land, von Osten nach Westen, oder gleich den Zug in die Bretagne nehmen? Nein, mit dem Zug fahre ich nicht! Auf keinen Fall! Bevor die Köpfe zu heiss werden, einigen wir uns auf den 
Kompromiss, nochmals der Loire zu folgen, diesmal dem Meer zu.

Das mussten wir über all die Jahre Velofahren lernen: Allein mit dem Velo reisen ist nicht unser Ding. Nur wenn wir uns zusammenraufen, geht es gemeinsam weiter, haben wir auch Spass am Pedalen.

Genussfahren für Angefressene
und Radreisefrischlinge

Abseits der ausgefahrenen Velorouten sind wir allein auf dem Globus unterwegs. Als eigentlicher Dauerbrenner erweisen sich dagegen die verkehrsfreien Radwege entlang der Loire, bekannt wegen der vielen Schlösser, Herrschaftshäuser und malerischen Kanalrouten. Wie geschaffen für Familien, Radreisefrischlinge und Tourenbummler, die sich nichts mehr zu beweisen brauchen. Kräftezehrende Steigungen sind so selten wie Kaffees und Restaurants an der Route – leider.

Wir kommen gut voran an diesem Mittwoch. Drohend grau der Himmel, graubraun die Loire, elf Grad die Luft. Noch führt der Fluss kein Hochwasser, aber 
was wir aus der Schweiz und Deutschland hören, macht betroffen. Dauerregen und Gegenwind versuchen, uns aufzuhalten, wer möchte da schon ein Bummeltempo anschlagen. Einen Kaffee und je ein halber Müesliriegel, zu mehr haben wir tagsüber keine Lust. Nach 70 Kilometern die erlösende heisse Dusche und später ein feines Nachtessen. Das haben wir uns verdient!

Einen Tag später die Überraschung. Das sind doch ... Die zwei kennen wir tatsächlich! Und wirklich, Margarita und Pius aus dem Appenzell, die wir vor einem knappen Jahr an der französischen Mosel kennenlernten, fahren uns kurz vor Sully-sur-Loire über den Weg. Nicht selten kommt es vor, dass sich Tourenfahrer nach Monaten oder gar Jahren irgendwo auf der Welt wieder 
begegnen. Grosses Hallo garantiert! Wir freuen uns einmal mehr.

Stichwörter: Fernweh, Menschen, Reisen, Ausland

Nachrichten zu Fokus »