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30 Jahre Mauerfall

«Man muss die Gunst der Stunde nutzen»

Matthias Beyer hat in der DDR ein privilegiertes Leben geführt. Nach der Wende ging es für ihn weiter aufwärts: Er organisierte die Privatisierung seines Betriebs und machte nun nach West-Massstäben Karriere.

Eine Erinnerung aus dem Brigadebuch – eine Art Firmentagebuch – des VEB Grossbäckerei Wittenberg. Matthias Beyer rettete dieses Buch nach der Wende vor der Vernichtung. Ab 1989 organisierte er die Privatisierung des Betriebs. zvg

von Andrea Butorin


Matthias Beyer hat eine deutsch-deutsch-schweizerische Erfolgsgeschichte zu erzählen. Er wurde 1954 im sächsischen Aue geboren, einer Stadt, die nach dem Zweiten Weltkrieg wegen dem Abbau von Uran explosionsartig gewachsen ist. Beyer ist privilegiert aufgewachsen: Seine Mutter war als Buchhändlerin für den Einkauf zuständig, so kriegte der Sohn jedes Buch im Voraus zu lesen und gab seine Empfehlung ab. Der Vater wiederum war Vizepräsident einer 3000 Wohnungen umfassenden Arbeiter-Wohnungsgenossenschaft. «Somit hatten wir die schönste Wohnung – nach dem Präsidenten.»
Ursprünglich wollte Beyer Jura studieren, doch weil er im Fach Staatsbürgerkunde nicht alles nachplappern wollte, was er vorgesetzt kriegte, erreichte er dort bloss eine 4 statt der Bestnote 1. Das reichte, um ihn vom Jurastudium auszuschliessen. So wählte er später im Fernstudium Energetik, ein interdisziplinärer Studiengang mit Einblick in alle möglichen Bereiche wie Physik, Chemie und Elektrotechnik. Vom Facharbeiter für Elektrotechnik stieg er zum Schichtmeister in einem Grossbetrieb auf, wo er bis 1980 ein Team von 20 Elektrikern führte.
Auch in seinem Berufsleben genoss er Privilegien: Während ein durchschnittlicher Arbeiter rund 700 Mark verdiente, kriegte er als Schichtmeister das Doppelte. Mit seiner Frau und den zwei Kindern lebte er erst in einer 66-Quadratmeter-Neubauwohnung und später in einem selbst gebauten Haus, es lagen schöne Urlaubsreisen im Rahmen der DDR-Möglichkeiten drin und statt eines Trabbis fuhr er einen Moskwitsch – 4-Takt-Motor, 5 Sitze, 4 Türen.
 

DJ spielte 60 Prozent Ostmusik
Als er als Neunjähriger vom Vater einen Radio-Bausatz erhielt, wurde sein technisches Interesse geweckt. Noch als Junge montierte er unter dem elterlichen Dach eine Antenne, um Westfernsehen zu schauen. Ihm war bald schon klar: «Wir werden permanent verarscht, die DDR ist ein riesiges Gefängnis.» Ernsthaft aufzumucken kam aber nicht in Frage: «Das ist doch heute nicht anders. Wer lästert schon über seinen Betrieb, nur um dann rauszufliegen?», fragt er rhetorisch.
Zum technischen Know-how kam das Interesse an der Musik. Von 1972 bis 91 trat Matthias Beyer in seiner Freizeit als DJ auf – natürlich mit selbst gebastelter Ausrüstung. Hier war gesetzlich festgehalten, dass 60 Prozent Ost- und 40 Prozent Westmusik gespielt werden durfte. Nachdem Beyer bei einem Auftritt verpfiffen wurde, die 40-Prozent-Grenze überschritten zu haben, erhielt er ein öffentliches Aufführungsverbot und trat fortan nur noch bei nichtöffentlichen Anlässen auf. Für DJs gab es übrigens Mitschnittsendungen am Radio, bei denen die Lieder in vollem Umfang aufgenommen und dann für 5 Mark pro Lied dauerhaft lizenziert werden konnten.
Ende der 80er-Jahre besonders beliebt waren die Bee Gees, The Rubettes oder Bruce Springsteen, der 1988 in Ostberlin aufgetreten war. Verboten war beispielsweise Udo Lindenbergs provokatives Lied «Sonderzug nach Pankow». Nicht aber das Original, die Melodie «In the mood» von Glen Miller, sodass das Publikum den Text dazu selbst singen konnte.
 

«Hat der ‹sofort› gesagt?»
Die Wende erlebte Matthias Beyer als Abteilungsleiter des VEB (Volkseigener Betrieb) Grossbäckerei Wittenberg, wo er als Abteilungsleiter für sämtliche Energieanlagen verantwortlich war. Auf zwei Hektaren wurde dort Brot für den gesamten Bezirk Halle produziert: 1800 Brote und 24 000 Brötchen pro Stunde, und das während 24 Stunden am Tag.
Am 9. November 1989 hatte Matthias Beyer Leitungsdienst, was bedeutet, dass er während seiner Schicht die oberste Funktion im Betrieb innehatte. Zu den Pflichten des diensthabenden Leiters gehörte, jeden Abend von 19.30 bis 20 Uhr die «Aktuelle Kamera» zu schauen, die Nachrichtensendung der DDR, um den Inhalt anderentags nach oben zu rapportieren. «Sofort? Hat der ‹sofort› gesagt?», fragte sich Matthias Beyer, als die Pressekonferenz mit Günter Schabowski übertragen wurde. Tatsächlich – als Beyer nach 20 Uhr auf Westfernsehen umschaltete, das er im Betrieb heimlich montiert hatte, wurde schon über die offenen Grenzen berichtet. Bald klingelte das Telefon. Die Führung des übergeordneten Backwarenkombinats informierte Beyer, dass am folgenden Tag nicht alle Arbeiter zum Dienst antreten dürften, und er wurde beauftragt, Ersatz aufzutreiben. 5 von 25 Bäckern seien dem Betrieb in der folgenden Nacht tatsächlich ferngeblieben, weil sie nach Westberlin gefahren sind.
 

Matthias Beyer

Den Ku’damm gefunden
Am nächsten Morgen holte er gleich nach Schichtende seinen Jungen zuhause ab, der dafür die Schule schwänzen durfte, und fuhr die 75 Kilometer bis Westberlin. Ihr Ziel: der Ku’damm. Ihr Problem: Wo geht es lang? Auf sämtlichen DDR-Karten wurde Westberlin als weisser Fleck dargestellt. Abhilfe schaffte die Landkartensammlung von Beyers Vater: Mittels eines Atlas von 1936 navigierte der Sohn Matthias Beyer auf den Kurfürstendamm. Dank etwas Westgeld der westdeutschen Verwandten reichte es für einen Kaffee und eine Bratwurst. Am folgenden Wochenende fuhren Beyers dann «richtig» in den Westen. Mit dem Begrüssungsgeld kauften sie sich im KaDeWe eine Mikrowelle und eine Satellitenschüssel: «Das wollte ich sofort kaufen, nicht dass die die Grenze plötzlich wieder schliessen», so Beyer.
 

100 Millionen D-Mark Umsatz
Während die Wende viele Ostdeutsche in die Arbeitslosigkeit trieb, startete Matthias Beyer richtig durch. Aufgrund seiner profunden Kenntnisse der Grossbäckerei wurde er zum Präsidenten des Privatisierungskomitees gewählt. Im Auftrag der 1990 gegründeten Treuhandanstalt wurden die Volkseigenen Betriebe der DDR erst privatisiert, also in GmbHs umgewandelt.
In einem zweiten Schritt wurden sie entweder verkauft oder aber stillgelegt. Letzteres drohte der Grossbäckerei als versorgungswichtiger Betrieb nicht. Der Bäckereikonzern Wendeln, der grösste Backwarenhersteller Westdeutschlands, kaufte den Betrieb, und Matthias Beyer wurde zu einem von vier Cheflogistikern Ost ernannt. Er schaffte es, dass sämtliche 240 Arbeiter neue Verträge erhielten – «ursprünglich wollte Wendeln bloss 150 übernehmen», sagt Beyer – und wurde beauftragt, weitere zum Kauf geeignete Betriebe vorzuschlagen, um auch im Osten flächendeckend produzieren zu können. «Was ich mit aufgebaut habe, hat ab 1990 von null an nach 18 Monaten 100 Millionen D-Mark Ost-Umsatz gemacht», sagt er. Damit überschritt der Konzern die 1-Milliarden-Umsatz-Grenze, weshalb der Generaldirektor ein Riesenfest organisierte. Beyer erhielt als Dienstgeschenk einen roten Geschäfts-Mercedes.
Als Erinnerung an diese Zeit hütet Matthias Beyer ein rotes Album, in dem Fotos und Zeitungsartikel über die VEB Grossbäckerei Wittenberg eingeklebt sind – das Betriebstagebuch, das im Zuge des Umbruchs beinahe im Müll gelandet wäre.
 

Seit 20 Jahren in der Schweiz
Beyer ist bewusst, dass sowohl seine persönliche Erfolgsgeschichte als auch der erfolgreiche Verkauf des Betriebs nicht die Norm darstellen. Als Negativbeispiel nennt er den VEB Klingenthaler Harmonikawerke, die von einem Westunternehmen gekauft wurde. «Die haben die Patente und die Markenrechte rausgeholt und den Betrieb dann hochgehen lassen», sagt Beyer, dessen guter Freund dort gearbeitet hatte. Aber es seien während der DDR auch viele Betriebe künstlich am Leben erhalten worden, die nach der Wende nicht erhalten werden konnten: «Man kann niemandem einen Vorwurf machen, wenn er diesen Schrott nicht kauft.»
Matthias Beyers weiterer Weg: Er bildete sich weiter, wurde in Deutschland Unternehmensberater, trennte sich von seiner Frau, lernte vor 20 Jahren seine zweite Frau kennen und zog zu ihr ins Seeland, nach Port. Das Haus im Osten verkaufte er, und in der Schweiz übernahm er mit anderen Gesellschaftern eine in Konkurs gegangene Firma. «Man muss die Gunst der Stunde nutzen», lautet sein Motto.
Mit der DDR hat Matthias Beyer abgeschlossen, nostalgische Gefühle verspürt er keine. Auch seine Akte hat er sich nie angeschaut. «Warum auch? Ich hege keine Rachegelüste, und man muss ja immer noch irgendwie zusammenleben.»
Besucht er heute Freunde und Verwandte, dann regt er sich auf: «Die sind ausnahmslos alle am Jammern! Die verlangen dies und jenes und können sich nicht vorstellen, dass sie endlich mal selbst etwas tun müssen.» Potenzial sei schliesslich bei vielen vorhanden.

Stichwörter: 30 Jahre Mauerfall, DDR, BRD

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