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30 Jahre Mauerfall

Meine Verlobte aus dem Osten

Bis kurz vor dem Mauerfall hatte niemand damit gerechnet, dass Berlins Trennung bald enden würde. Zwar gab es klare Signale, schreibt BT-Journalist Matthias Knecht. Doch hatte man es sich gemütlich eingerichtet. Auf beiden Seiten des Todesstreifens.

Bild: Albumarchiv von Stasi-Museum
  • Dossier

Meinen ersten Heiratsantrag habe ich mit 22 Jahren erhalten. Sie hiess Petra, war hübsch, ein paar Jahre älter als ich und Schauspielerin in Ostberlin. Genau das war ihr Problem. Wegen politischer Unzuverlässigkeit hatte sie Bühnenverbot. Denn sie war vorlaut, frech und witzig. Ihre einzige Chance, ihre Karriere fortzusetzen, war, in den Westen zu gehen. Nur stand da die Mauer dazwischen. Mit Stacheldraht, Minen, Todesstreifen und Schiessbefehl. 140 Menschen waren seit dem Bau 1961 an ihr getötet worden. Mitten in Berlin. Wer nicht den Heldentod für die Freiheit sterben wollte, der heiratete einen Wessi. Und der Wessi sollte wohl ich sein.

Wir alle lachten, sehr laut und sehr lange, wohl auch, weil wir schon einige Wodkaflaschen geleert hatten. Es war eine kalte Nacht am Prenzlauer Berg, als die Gegend noch nicht hip war, sondern der ödeste und langweiligste Ort in einer öden und langweiligen Stadt, die sich Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nannte. Eine andere Beschäftigung als Wodkatrinken gab es nicht.

Wir, das waren Joscha, Clown mit Zirkusverbot, Michael, Mathematiker mit Lehrverbot, Max, Schriftsteller mit Publikationsverbot, und ähnliche Randexistenzen des real existierenden Sozialismus. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie unter ihrer Lage litten, im Gegenteil. Ihre Existenz war gesichert, die Wohnungen, das Essen, die Krankenversicherung, und Stress hat sie nun wirklich nicht. Es war egal, ob sie sich anstrengten oder nicht. Also taten sie es nicht. Es gab ja genügend Wodka.

Uns hätte allen klar sein müssen, dass dieses System nicht funktionieren konnte, dass es zusammenbrechen musste. Aber da war eben die Mauer, seit mehr als einem Vierteljahrhundert, sehr konkret, sehr massiv, sehr tödlich. 155 Kilometer, um Westberlin vom Rest der DDR abzugrenzen. Sie stand schon, als ich geboren war, und sie würde auch noch in 100 Jahren stehen. Ganz sicher.

Also sagte ich Ja zu Petra. Die Meute johlte. Zur Meute gehörten neben den berufsverbotenen Ossis auch weitere Wessis auf Besuch, unter ihnen mein Freund Heiner, der wie ich in Westberlin studierte. Er war der Einzige, der in jener Nacht litt, denn er vertrug die Ossi-Mengen an Alkohol nicht. So lümmelten wir allesamt auf Sofas verteilt in Michaels Wohnung. Aber was heisst schon Wohnung? An der Bruchbude war seit den Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs nichts mehr gemacht worden. Die Einschusslöcher an der Hausmauer waren noch zu sehen, und die kalte Toilette teilte man sich mit den Nachbarn. Ossi-Gemütlichkeit für 95 Mark Miete.

Nur Petra wollte sich mit ihrer Situation nicht abfinden, und noch weniger mit dem Sozialismus. Sie beschloss, unsere Verlobung an einem ganz besonderen Ort zu feiern: vor dem Hauptgebäude der Staatssicherheit, der Stasi, im Zentrum der Überwachung in der DDR. Wie wir da hinkamen, weiss ich nicht mehr, vielleicht in einem der vielen illegalen Privattaxis, eingequetscht im Trabant, oder vielleicht schaukelten wir auch in einem der wenigen offiziellen Taxis, Autos der Marke Wolga, russische Nachbauten amerikanischer Strassenkreuzer. Egal, die Wessis konnten die Fahrt für die gesamte Meute finanzieren, locker, es war für uns billiger als ein U-Bahnticket im Westen. Dann standen wir in der Normannenstrasse und sangen Lieder von Wolf Biermann. Jedenfalls die Ossis sangen. Lauthals und auswendig.

Und sagt mir mal: Wozu ist gut / Die ganze
Bürokratenbrut? / Sie wälzt mit Eifer und Geschick / Dem Volke über das Genick / Der Weltgeschichte grosses Rad / – die hab ich satt! 

Biermann war der Staatsfeind Nummer 1, ein ausgebürgerter Liedermacher, verboten, verfemt, zensiert. Seine Lieder nachts vor der Stasi-Zentrale zu singen war ungefähr so intelligent, wie zu versuchen, die Mauer zu durchbrechen. Aber mit der genügenden Menge Wodka sieht man das anders.

Die Stasi, das war die Bürokratie der Unterdrückung. In keinem Land der Welt war die Überwachung jemals so perfekt und lückenlos organisiert wie in der DDR. Auf 895 Bürger kam im Durchschnitt ein Überwacher, im Jargon inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. An der Stasi entlud sich später die ganze Wut der DDR-Bürger, nicht an der Regierung, nicht an der Polizei. Kurz nachdem später die Mauer gefallen war, stürmten aufgebrachte Bürger die Zentrale an der Normannenstrasse. Sie stellten 111 Kilometer Akten sicher – eine bürokratische Wand, fast so lange wie die Mauer. 111 Kilometer säuberlich dokumentierte Abweichungen vom Sozialismus. Ein Viertel der Bürger war hier registriert.

Vor dieser Behörde standen wir, singend, mitten in der Nacht und den 80er-Jahren. Eine grössere Provokation hätte es nicht geben können.

Warte nicht auf bessre Zeiten / Warte nicht mit deinem Mut ...

Doch auch nach dem x-ten Biermann-Lied passierte - nichts. Die Staatsmacht war abwesend. Sie war wohl gar nicht mehr da. Aber auch jetzt begriffen wir nicht, dass ein solcher Staat beim nächsten Windhauch zusammenbrechen würde. Es war jenseits unserer Vorstellung.

Nicht nur im Osten, sondern auch im Westen, wo ich wohnte, hatte man es sich sehr gemütlich eingerichtet mit der Mauer. Dank ihr gab es eine klare Einteilung in Gut und Böse, Falsch und Richtig. Das mit dem Todesstreifen war schon absurd. Die Welt dafür aber überschaubar.

Der ganz grosse Beitrag der Mauer für mein Leben und meine Karriere war: Sie sorgte für die weltbilligsten Zimmer überhaupt, und damit ein Studium fast ohne Geld. Ich hatte so eine Bleibe in einem Viertel Westberlins, in dem kein vernunftbegabtes Lebewesen länger als nötig verweilen wollte, am Potsdamer Platz. Mit direktem Blick auf den Todesstreifen, 24 Stunden Beleuchtung inbegriffen. Genau dort, wo heute die teuersten Quadratmeter Berlins sind, die prunkglasigen Bauten von Sony und der Deutschen Bahn. Ein Wandel jenseits des Vorstellungsvermögens.

Von meinem Zimmer aus konnte ich das Podest sehen, auf dem im Jahr 1987 Ronald Reagan stand, westernheldenmässig nach Osten blickte, und die grösstmöglichen Peinlichkeiten von sich gab. Berlin ging nur darum nicht auf die Barrikaden, weil ohnehin niemand einen vernünftigen Satz von ihm erwartete. Wir wussten, einen schlimmeren republikanischen Präsidenten als Reagan kann es niemals geben, und er, der frühere B-Western-Schauspieler, sagte also: «Herr Gorbatschow, reissen Sie diese Mauer ein.» Wenn man 1987 etwas sagen konnte, das galaktisch daneben war, dann eben so Dinge wie Mauer-Einreissen.

Genauso gut hätte Reagan die Auferstehung von Atlantis fordern oder die Republik von Ozonesien ausrufen können. Es hätte sich niemand gewundert, wenn er es getan hätte. Oder, völlig verrückt, auch noch die deutsche Wiedervereinigung verlangen.

Das Berlin der 80er-Jahre, es war ein fantastisches Biotop, jedenfalls im Westen: Zwei Millionen Menschen auf 480 Quadratkilometern, eingeschlossen von 155 Kilometern antifaschistischem Schutzwall. Zwei Millionen kreative Verrückte, gut abgeschirmt vom Rest der Welt, und weil sie natürlich nichts auf die Reihe brachten, wurden sie gut subventioniert von der Bundesregierung. Es war das Paradies für einen gerade mal 20-Jährigen. Dass das nicht nachhaltig sein konnte, keine Idee!

Wenn uns ausnahmsweise langweilig war, dann gingen wir Ostberlin besuchen. Natürlich sagten wir es nicht so. Wir sagten: «Gehen wir in den Zoo!» Die politische Korrektheit war noch nicht erfunden.

Das mit dem Zoo hatte sich die Ostregierung selbst zuzuschreiben, denn sie verlangte eine Art Eintrittsgebühr, den Zwangsumtausch. 25 Mark mussten wir für einen Tag im Arbeiter- und Bauernparadies bezahlen. Zu sehen bekamen wir dafür Typen mit Schnauz und Parka, und die Frauen trugen Dauerwellen, die einen dauerten. Selbst ihr Berlinerisch schien aus dem letzten Jahrhundert. Das war noch mehr daneben als Reagan.

Klar mussten sie auf der anderen Seite bleiben. Später, kurz nach dem Mauerfall, brachte das Satiremagazin Titanic ein Titelbild: «Zonen-Gaby im Glück – ihre erste Banane». Es war die ganze Häme der Wessis gegenüber den Ossis, in einem einzigen Cover. Wir amüsierten uns grossartig.

Maximal amüsant war, als sie mich an der Grenze mit verbotener, staatsgefährdender Literatur erwischten. Es war der Übergang Bornholmer Strasse, ein weiterer Besuch im Zoo. Ich war unterwegs zu meiner Verlobten und zur Meute, im Gepäck die üblichen Südfrüchte, ein paar Bücher, um die sie gebeten hatten und die aktuelle Ausgabe des «Spiegel». Mit Letzterem handelte ich mir eine Stunde Verhör ein, durch einen Typen mit tiefgezogener Schirmmütze, krass Nazistil. Nur, dass er weit davon entfernt war, irgendwie furchterregend zu sein, allein schon, weil er ein grauenhaftes Sächsisch sprach. Ausserdem wusste ich: Als Wessi konnten sie mir nichts anhaben. Wenn sie mich eingebuchtet hätten, es wäre ein Staatsskandal gewesen. Also legte ich die Füsse auf den Tisch, bohrte in der Nase und beantwortete gelangweilt die Fragen. Der Offizier schäumte.

Das reichte mir aber nicht. Ich wollte ihn quälen. So richtig. Ihn, den tumben Vertreter einer Diktatur. Dass er nur ein Mensch war, vielleicht selbst in einer Zwangslage, ohne Chance, aus diesem System auszusteigen, es kam mir nicht in den Sinn. Dass ich bei ihm, dem untergeordneten Stasi-Mann, in diesem einmaligen Augenblick mit einem Gespräch vielleicht mehr bewirkt hätte als mit meinen spätpubertären Provokationen, es fiel mir nicht ein.

Als er mir das Verhörprotokoll zum Unterschreiben vorlegte, mühsam getippt auf volkseigener Schreibmaschine, korrigierte ich zuerst seine Orthografiefehler. Und von denen gab es viele. Der Mann tobte, schrie irgendetwas von Disziplin und Manieren – und liess mich nach Ostberlin rein, zu meiner Verlobten.

Natürlich wollten wir nicht wirklich eine Ehe führen, sie, die verrückte Ossi-Schauspielerin, ich, der unreife, aber ehrgeizige Student. Es wäre eine Scheinehe gewesen, das wussten wir beide, das wusste die Meute und wahrscheinlich auch die Stasi. Aber im Berlin der 80er-Jahre war das egal. Man konnte sagen, was man wollte, sich benehmen, wie es einem gerade in den Sinn kam, und man konnte heiraten oder auch nicht. Alles egal, in dieser Hinsicht waren sich der Osten und der Westen sehr ähnlich.

Und dann fiel die Mauer. Einfach so. 9. November 1989. Wer es wahrscheinlich als Letzter in ganz Deutschland mitgekriegt hat, war mein Freund Heiner. Er hatte die Nacht in der Institutsbibliothek verbracht, fürs Examen büffeln – auch so etwas geht nur in Berlin. Das Internet war damals nur Sache einiger Nerds, die Welt standardmässig im Offlinemodus, der Mauerfall wohl das letzte Weltereignis, das nicht sofort in den Sozialen Medien gepostet wurde, weil es diese nämlich noch nicht gab. Als Heiner am nächsten Tag schlaftrunken auf die Strasse trat, traf er seine Berliner Mitbürger noch verrückter als sonst an. Es dauerte lange, bis er den Grund für das seltsam entzückte Verhalten begriff: die Mauer. Und dann machte er sich auch auf den Weg zum Potsdamer Platz, der plötzlich der Mittelpunkt der Welt war. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen. Eine Nacht und einen Tag lang.

Heiner erzählte mir alles am Telefon. Ich war nicht mehr dabei, denn ich war kurz davor zurück in meine süddeutsche Heimat gegangen. Ich hatte genug von der Berliner Schnoddrigkeit und vom eingemauerten Kreativbiotop. Ich wollte studieren und weiterkommen. Die Besoffenheit des Mauerfalls verfolgte ich am Fernsehen. Seltsam distanziert. Ich ahnte, dass sich auch meine eigene Welt auflöste.

Der Mauerfall hatte sich seit Langem abgezeichnet. Nur hatten wir das nicht gesehen, und diese Erkenntnis zog sich hin, weil zunächst unangenehme Dinge passierten: Die Wessis übernahmen Ostdeutschland. Sie schickten Bürgermeister, Geschäftsführer und Abwasserspezialisten, um die Überreste der DDR ordnungsgemäss abzuwickeln. Irgendwann nannte man das Wiedervereinigung, aber es war keine Vereinigung. Es war eine Conquista, die Eroberung des Ostens durch den Westen. Wiedervereinigung wäre gewesen, wenn Westen und Osten gemeinsam eine neue Verfassung ausgearbeitet hätten und diese in einer Volksabstimmung beschlossen hätten. Das hat nie stattgefunden, und mit diesem Defizit an Demokratie und Legitimation kämpft Deutschland bis heute. Es ist der Nährboden für Gruppierungen wie die AfD oder Pegida.

Erst Jahre später begriff ich, was die Mauer zum Einsturz gebracht hatte. Es war nicht der Westernstil-Auftritt von Reagan und es war nicht das selbstgefällige Wursteln des damaligen Kanzlers Helmut Kohl. Es war auch nicht die demütigend herablassende Behandlung des Ostpersonals durch mich und weitere Wessis. Es waren vielmehr die mutigen Schritte, die westdeutsche Politiker wie Willy Brandt in den 70er-Jahren ergriffen hatten, unter dem Schlagwort Entspannungspolitik. Brandt suchte das Gespräch mit den Andersdenkenden, und er fand es. Irgendwann war die DDR-Regierung so eingewoben in Abkommen und Abhängigkeiten, dass sie es sich gar nicht mehr erlauben konnte, loszuschlagen. Nur darum konnten wir nachts vor der Stasi-Zentrale ungestraft provozieren, und darum konnten die Ostberliner am 9. November 1989 die Öffnung dieser absurden Grenze erzwingen. Die Grundlage dafür war nicht die Provokation, sondern das Gespräch.

Wer das viel schneller als ich kapiert hatte, waren die Ossis. Als sich Kanzler Kohl im Osten feiern lassen wollte, wurde er ausgebuht und mit Eiern beworfen. Als aber der Alt-Kanzler Brandt auftrat, der Entspannungspolitiker, jubelten sie ihm zu. Sie wussten sofort: Ihm hatten sie den Mauerfall zu verdanken, seinem Mut, immer das Gespräch zu suchen.

Die Heirat mit Petra hat sich dann erübrigt. Sie hat sich nie mehr bei mir gemeldet. Die Meute auch nicht, und ich mich nicht bei der Meute. Ich glaube, es war uns allen schrecklich peinlich, wie wir uns damals aufgeführt haben, zu Mauerzeiten. Am 9. November 1989 mögen sich Fremde in den Armen gelegen haben. Aber meine Verlobte und ich hatten nichts mehr miteinander zu tun. Unsere einzige Gemeinsamkeit war die Mauer gewesen.

Matthias Knecht, BT-Journalist

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