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Stress

Überforderung ist Gift für den Körper

Krank machender Stress ist das Resultat anhaltender Überforderung am Arbeitsplatz oder in der Beziehung. Will man nicht beim Herzinfarkt enden, ist dringend eine Lebensänderung angesagt – doch wie?

Gewohnt, Verschiedenes gleichzeitig zu tun: Frauen bewältigen Stress meist leichter als Männer. Bild: Stock

Christian Bernhart

Brigitte Meier* stand auf der Sonnenseite des Lebens. Sie war gut ausgebildet, hatte eine anspruchsvolle Stelle mit gutem Einkommen, als sie Anfang 30 ihren Mann in gleicher Position kennenlernte. Das eheliche Glück sollten zwei Kinder ergänzen: Mit 34 bekam sie eine Tochter, mit 35 einen Sohn. Doch dann dies, wie sie es in der Not einer Psychotherapeutin klagte: «Abends bin ich völlig erschöpft, schlafe todmüde ein, wache zwei Stunden später auf und bin am Grübeln. Tagsüber fahrig, vergesslich, gereizt mit den Kindern und dem Mann. Bei der Arbeit versuche ich, alles einigermassen unter Kontrolle zu halten, bin aber total überfordert.»

Diese Stresssymptome plagten Brigitte Meier als Folge der dauernden Überforderung: Sie und ihr Mann behielten ihr 100-Prozent-Arbeitspensum, um sich ihr neues Haus leisten zu können. Da sie kein Kindermädchen für die Rundumbetreuung ihrer Kinder fanden, spannten sie die Grossmutter ein. Wenn die Kinder sie um 19.30 Uhr erstmals am Tag sahen, stürzten sie sich auf die Mutter. Sie tat nun alles wegen schlechten Gewissens, um in der spärlichen Zeit und vor allem übers Wochenende ganz für die Kinder da zu sein. Als Perfektionistin wollte sie auch allen Ansprüchen gerecht werden und dazu noch Vateraufgaben übernehmen, sodass sie die Beziehung zum Partner vernachlässigte, der dann auch bald schmollte.

Mit ihren Lebensumständen steht sie nicht allein. In der Schweiz leidet jeder vierte Erwerbstätige unter Stress und fühlt sich erschöpft. Betroffen sind vor allem jüngere Berufstätige. Dies geht aus dem Job-Stress-Index von 2016 hervor, einer wissenschaftlichen Studie der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz.

 

Schleichend ins Unglück
Verheerend ist, dass der Weg vom erlebten Glück bis ins Unglück schleichend abläuft. Schleichend verlaufen meist auch die körperlichen Vorgänge hin zur Erkrankung. Anders ist es bei schockierenden psychischen Erlebnissen – etwa bei einer Vergewaltigung oder im Krieg. Solche Schockerlebnisse können zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen.

Populärwissenschaftliches Wissen über Vorgänge bei Stress machte der deutsche Biochemiker und Systemforscher Frederic Vester bereits 1976 in der Fernsehserie «Phänomen Stress» zugänglich. Der Haupttenor damals: Stress löst die Ausschüttung von Cortisol und Adrenalin aus – eine natürliche Abwehrreaktion. Diese führt etwa bei den Affen, unseren Primatenverwandten, dazu, dass sie sich durch Bewegung wie das Klettern abreagieren. Heute wissen wir aufgrund zahlreicher Tierversuche viel mehr über die kaskadenhaften Vorgänge, die Stress übers Hirn auslösen (siehe Infobox).

Von Stresstests bei Menschen wissen wir zudem, dass Frauen Stress oft anders verarbeiten als Männer. Dieses Verhalten konnte Ulrike Ehlert, Psychotherapeutin an der Universität Zürich, aufzeigen. Frauen, die von sich sagen, gegen Stress widerstandsfähig zu sein, verfügen über einen regelmässigen Monatszyklus, was für eine stabile Freisetzung der Sexualhormone spricht.

Zudem sorgt Östrogen, das vor allem im Menstruationszyklus aktive Hormon, dafür, dass Frauen Stress leichter bewältigen. «Auch Frauen, die stillen, haben aufgrund der Freisetzung des Hormons Oxytocin einen niedrigen Cortisolspiegel», hat Ehlert beobachtet.

 

Ansprüche runterschrauben
Doch fundierteres Wissen über Stress hilft in unserem Fall nicht viel weiter. Brigitte Meier könnte sich höchstens damit trösten, dass sie als Mann unter Stress noch mehr gelitten hätte. Den Gang zum Hausarzt mit der Bitte um Schlaftabletten hat sie zum Glück unterlassen. Stattdessen suchte sie Rat bei einem Psychotherapeuten. «In einem solchen Fall gibt es nichts anderes, als die Lebensumstände zu ändern. Sich zum Beispiel auch zu fragen, woher diese hohen Ansprüche an die eigene Person kommen, und ob es den Selbstwert wirklich tangiert, wenn man Abstriche bei den Ansprüchen vornimmt», sagt Psychotherapeutin Ehlert. Auch den über 50-Jährigen, die trotz Arbeitsstress letztlich froh sein müssen, nicht ausgemustert zu werden, rät sie, mit kleinen Verhaltensänderungen zu versuchen, die Arbeitssituation kontrollierbarer zu machen. Oder sich zu hinterfragen, ob man die Bedeutung der eigenen Arbeit womöglich überschätzt.

Bei den verhaltensmässigen Gegenmassnahmen rät sie nicht zu sportlichen Parforceleistungen in Analogie zu den kletternden Primaten. Das Ventil hierzu kann sehr individuell sein wie Laufen, Basteln oder Gartenarbeiten – nur Spass soll es machen.

Dennoch gibt es Ansätze, gewisse Stresserkrankungen auch medikamentös anzugehen. Ausgehend von der Beobachtung, dass unter Stress ausgeschüttetes Cortisol beim Prüfling den Abruf von erworbenem Wissen behindert, hat der Neurowissenschaftler Dominique de Quervain von der Universität Basel die Abgabe von Kortison eingesetzt, um das Wiedererleben von traumatischen Situationen zu vermindern. Bei der Abgabe von kleinen Tagesdosen von 10 Milligramm während eines Monats gehe es nicht darum, «die traumatische Erinnerung zu verdrängen, sondern sie zu normalisieren». Die erste Machbarkeitsstudie von 2004 erwies sich als erfolgreich, zwei weitere zeigten ebenfalls einen nachhaltigen Effekt. Doch vor klinischen Anwendungen sind weiter Studien nötig.

 

Bei Spinnen half es
Bei Angststörungen (Phobien) haben de Quervain und Ehlert auf den zweiten Effekt von Cortisol gesetzt, nämlich an die Erinnerung des Auslösers von Stress. Die Forscher haben Phobiker mit Spinnenangst aufgefordert, es im Beisein dieser Tiere auszuhalten, nachdem sie vorher einmalig die Dosis von 25 Milligramm Kortison erhalten hatten. Dadurch konnten die Patienten tatsächlich erleichtert erfahren und erlernen, dass sie Spinnen ohne Angstzustände begegnen können. Ferner konnten die Forscher zeigen, dass Kortison den Effekt einer Verhaltenstherapie verstärkt.

Nun ist eine länderübergreifende Studie an verschiedenen Zentren in Planung. Sie soll zeigen, ob dieser Ansatz sich in der Klinik bewährt.

* Name der Redaktion bekannt.

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