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Alt und Jung

Was heisst «liberal» 
im 21. Jahrhundert?

Aus wirtschaftlicher Sicht stachen am letzten Abstimmungssonntag die Resultate zweier Vorlagen besonders heraus: zum einen die Ablehnung des Mediengesetzes und zum anderen die Entscheidung, die Stempelsteuer beizubehalten.

Bild: Luca Brawand

Unabhängig davon, wie man zu den einzelnen Initiativen steht, kann bei diesen Resultaten ein deutliches Signal abgelesen werden: Die Bevölkerung möchte keine weitere Umverteilung von unten nach oben, sprich keine zusätzlichen Steuergelder für grosse Medienkonzerne und keine Steuererleichterungen für diejenigen, die sich finanziell sowieso keine Sorgen machen müssen. Die selbst ernannten Liberalen reiben sich nach all diesen Ergebnissen verwundert die Augen. In der NZZ beispielsweise betitelt man Artikel mit «Ist die Schweiz ‹linker› geworden?», oder es ist zu lesen, dass die FDP dem «illiberalen Zeitgeist» hinterherhecheln würde. Es scheint also an der Zeit, sich einmal damit zu befassen, was denn «liberal» heute heisst oder heissen sollte, und ob das aktuelle Grundverständnis davon in einer Welt mit zunehmender Vermögensungleichheit überhaupt noch zeitgemäss ist.

Als guter Startpunkt für die Diskussion dieses Begriffes ist die Definition im Duden: «(Der Liberalismus ist eine) im 19. Jahrhundert entstandene, im Individualismus wurzelnde Weltanschauung, die in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht die freie Entfaltung und Autonomie des Individuums fordert und staatliche Eingriffe auf ein Minimum beschränkt sehen will.» Meiner Interpretation nach stecken in dieser Definition zwei grundsätzliche Elemente: zum einen ein Ziel und zum anderen ein Weg dahin. Das Ziel ist eine freiheitliche und im Individualismus verankerte Gesellschaft – jeder sollte so leben dürfen, wie er oder sie es will. Der Weg dahin soll über ein Minimum an staatlichen Eingriffen geschehen.

Hier stellt sich das erste Fragezeichen: Was genau heisst «Minimum»? Meint es so wenig wie möglich, wie es oft interpretiert wird, oder vielleicht doch so wenig wie nötig? Spätestens seit der Pandemie wissen wir, dass die eigene Freiheit dort aufhört, wo die der anderen Person beginnt. War die Marktwirtschaft während der Kolonialisierung und der Sklaverei frei und liberal? Nun, für die Profiteure sicherlich – für die Sklavinnen und Sklaven keineswegs. War eine Siebentage-Arbeitswoche im 19. Jahrhundert liberal? Für die Unternehmer auf jeden Fall – für die Arbeiterinnen und Arbeiter wohl kaum. Der Punkt ist, dass wir den Kapitalismus schon seit seiner Entstehung immer wieder angepasst und eingeschränkt haben. Für heutige Verhältnisse ist dies gesunder Menschenverstand, damals galten diese Themen noch als Utopie.

Da man mit gesundem Menschenverstand in der Politik jedoch oft nicht weiterkommt, muss man wohl wirtschaftlich sprechen. Der Liberalismus will also eine Gesellschaft, in der alle frei sind, sowohl Individuen als auch die Wirtschaft, um so Wohlstand und Freiheit für alle zu schaffen. Einmal angenommen, heute wird das Kind einer obdachlosen Frau geboren sowie das Kind einer Bankchefin. Sind diese Kinder beide gleichermassen frei, und wird ihnen unser Wirtschaftssystem dieselben Chancen auf ein Leben mit wirtschaftlicher Sicherheit geben? Wenn wir von der moralischen Frage einmal absehen und uns dem wirtschaftlichen Gedanken widmen, darf man sich auch fragen, ob das obdachlose Kind zukünftig finanziell überhaupt etwas zu unserer Wirtschaft beitragen können wird, sei es durch Steuern, Arbeit oder Konsum. Man kommt also schnell zum Schluss, dass arme Menschen weder moralisch noch wirtschaftlich wünschenswert sind.

Sehr vereinfacht gesagt könnten wir also die Armut besiegen und dabei alle zusammen reicher werden. Wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, wäre beispielsweise ein bedingungsloses Grundeinkommen ein zutiefst liberales Anliegen. Es macht die Menschen wirtschaftlich freier, funktioniert nicht über Verbote und kurbelt die Wirtschaft an, da bereits etliche Studien und Versuche gezeigt haben, dass die Menschen keineswegs fauler werden und weniger arbeiten, sondern im Gegenteil viel mehr investieren – sei es durch Konsum oder vor allem durch Investitionen in eigene Unternehmen oder die Ausbildung. Und genau da liegt das Problem mit dem heutigen (konservativen) Liberalismus.

Vorschläge wie diese werden als «links» oder «illiberal» verschrien, nur weil sie ein staatlicher Eingriff sind. Es wird lieber auf ein jahrhundertealtes Narrativ vertraut, anstatt sich ökonomische Fakten anzusehen und den gesellschaftlichen Wandel zu akzeptieren. Um auf die NZZ-Artikel vom Anfang zurückzugreifen, ist die Schweiz also nicht «linker» oder «illiberaler» geworden – sie stellt schlicht jene Fragen und Forderungen, die in den letzten Jahrzehnten vor lauter Wachstum und Scheuklappen vergessen wurden. Und dabei kann man trotzdem, oder gerade deswegen, liberal sein – vielleicht bräuchte der Begriff einfach ein Update. Wir können und sollten die Kraft des Kapitalismus weiterhin für uns nutzen, aber dabei die Art und Weise, mit ihm umzugehen, an unsere heutige Gesellschaft mit ihren Werten anpassen und allem voran aus der eigenen Geschichte lernen, denn diese hat uns gezeigt: Es braucht nicht immer einen Verlierer, damit es uns allen besser geht.

Info: Der 25-jährige Bieler Luca Brawand ist 
Musiker und und macht aktuell einen Master in Persuasive Communication an der Universität Amsterdam. 2018 hat er sein Debütalbum herausgegeben. Ende Juni hat er seine neuste EP mit dem Titel «Neverland» veröffentlicht. 

 

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