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Gewalt

Die Jugendlichen schlagen öfter zu

Während der Pandemie ist die Jugendgewalt im Kanton Bern nochmals deutlich angestiegen. Einiges deutet darauf hin, 
dass der Frust eine Rolle spielt. Es gibt aber auch ganz andere Faktoren.

Polizisten in der Aarbergergasse in Bern. Zu Gewalt kommt es oft im Ausgang. Bild: Raphael Moser

Andres Marti

In Bümpliz attackierte eine Gruppe Jugendlicher letzte Woche einen Tramchauffeur und schlug ihn spitalreif. Ein krasser und seltener Vorfall. Einen solchen Angriff auf einen Angestellten habe man seit mindestens zehn Jahren nicht mehr erlebt, heisst es bei Bernmobil.

Für Schlagzeilen sorgte auch die Jugendbande, die im Herbst 2020 auf der Grossen Schanze Passanten attackierte und ausraubte. An den Überfällen beteiligten sich insgesamt 14 Teenager im Alter zwischen 14 und 17 Jahren.

Die drei Täter, die im vergangenen September einen Tankstellenshop in Köniz überfielen, waren ebenfalls minderjährig. Der Jüngste gerade 15 Jahre alt.

Zeugen diese Vorfälle von einer gestiegenen Gewaltbereitschaft von Berns Jugendlichen?

«Viele Junge steckten wegen der Pandemie und der Massnahmen in einer schwierigen Situation, auch beruflich», sagt Silvio Flückiger, Leiter der städtischen Interventionstruppe Pinto, auf Anfrage. «Das führt bei vielen zu Frust», sagt er. Frust, der in letzter Zeit auch in Gewalt umschlagen kann: Letztes Wochenende verhinderten Flückigers Leute beim Hauptbahnhof gleich zweimal eine Schlägerei.

Dennoch spricht Flückiger diesbezüglich von einer Ausnahme, «da an den Wochenenden in der Stadt zurzeit eher wenig los ist». Insgesamt seien seine Leute während der Pandemie selten mit direkter Gewalt konfrontiert worden. «Der Frust der Jugendlichen, die sich eines Teils ihrer Entwicklung beraubt sehen, äussert sich eher verbal.»

 

Das sind die Brennpunkte

«Die Zündschnur ist bei vielen kürzer geworden», sagt Sicherheitsdirektor Reto Nause (Die Mitte) auf Anfrage. Während der Pandemie habe man auch in der Stadt Bern eine Zunahme der Gewalt im öffentlichen Raum festgestellt. Zu Vorfällen kommt es laut Nause hauptsächlich dort, wo die Jungen in den Ausgang gehen: Schützenmatte, Bollwerk, Aarbergergasse. Allesamt Orte, wo die Polizei schon vor der Pandemie ihre Präsenz verstärkt hat.

«Auf die Jugendkriminalität scheint die Pandemie insgesamt keinen dämpfenden Effekt auszuüben, eher im Gegenteil», sagt Nino Santabarbara Küng, leitender Staatsanwalt des Kantons Bern. Dass männliche Jugendliche vermehrt mit Messer in den Ausgang gehen, beobachte man auch in Bern. Im Vergleich etwa zu Zürich würden Messer im Kanton Bern jedoch seltener eingesetzt, sagt Santabarbara Küng. Eher wird in der Gruppe gepöbelt und geprügelt.

Schlägereien mit mehr als zwei Personen nennt das Strafrecht Raufhandel. Die Zahl der Verurteilungen von Minderjährigen hat sich im Kanton Bern innerhalb eines Jahres vervierfacht. Von 11 im Jahr 2019 auf 44 im Pandemiejahr 2020. Das zeigt ein Auszug aus einer internen Statistik der Jugendanwaltschaft, der der «Berner Zeitung» vorliegt.

Gewaltforscher Dirk Baier von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften erklärt sich den Anstieg beim Raufhandel vor allem dadurch, dass Jugendliche ihre Freizeit im öffentlichen Raum verbringen mussten, weil viele Clubs und Freizeitlokale geschlossen waren.

Interessanterweise erreichen die Verurteilungen wegen Raufhandels 2021 beinahe wieder das Niveau vor der Pandemie. «Viele Freizeitangebote für Jugendliche waren da wieder offen oder reagierten mit angepassten Angeboten auf die Situation», so Baier.

 

Unterschiedliche Zahlen

Während 2021 die Tätlichkeiten nochmals zugenommen haben, konnte bei den Verurteilungen wegen einfacher Körperverletzungen ein Rückgang verzeichnet werden. Für Baier könnte dies dahingehend interpretiert werden, dass bei der Jugendgewalt inzwischen eine Art Plateau erreicht ist.

«Dass es bei den Tätlichkeiten einen weiteren Anstieg gegeben hat, kann darauf hindeuten, dass Konflikte unter jungen Menschen zwar weiter zunehmen, diese aber eben nicht derart eskalieren, dass es zu Körperverletzungen kommt, weil beispielsweise schneller von aussen reagiert wird. »

Der Anstieg könne aber auch bedeuten, dass die Anzeigerate bei diesem Delikt steigt. Tätlichkeiten seien leichtere Gewaltdelikte; für diese sei die Anzeigewahrscheinlichkeit immer niedriger als bei Körperverletzung. Bei der Entwicklung der Jugendkriminalität habe man stets mit Wellenbewegungen zu tun, sagt Jonas Weber, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern.

Den letzten Höhepunkt erreichte diese Welle in der Schweiz in den Jahren 2010/11. Im Gegensatz zu heute waren damals Kinder von Migranten überproportional vertreten. «Das war wohl auch ein spätes Echo der Balkankriege der 90er-Jahre», vermutet Weber. Von diesen Zahlen sei man heute aber weit entfernt.

 

Interpretation ist wichtig

Für die Opfer von Gewalttaten sei das natürlich kein Trost, aber «gesamtgesellschaftlich betrachtet» sei der aktuelle Trend deshalb nicht allzu besorgniserregend. Allein mit Blick auf die Statistik lässt sich das Phänomen Jugendgewalt ohnehin nicht fassen. Die Zahlen müssen stets auch interpretiert werden. Der Anstieg der Delikte kann ja auch damit zusammenhängen, dass Gewalt heute weniger toleriert wird. Wenn ein junger Mann im Strassenverkehr rast, gilt das heute unter Umständen bereits als versuchte Tötung.

Weber nennt noch ein weiteres Beispiel für die begrenzte Aussagekraft der Statistik: So hätten die St. Galler Behörden etwa die Gewaltprävention sehr ernst genommen und eine spezialisierte Jugendpolizei in den Ausgang geschickt. «Mit dem Resultat, dass die registrierten Jugendstraftaten deutlich zunahmen», sagt Weber. Langfristig habe die vermehrte Präsenz der Polizei wohl aber Übergriffe verhindert.

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