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Schüpfen

Drei statt vier Jahre Therapie für Igor L.

Das Obergericht in Bern hat die Verlängerung der vom Regionalgericht in Biel verordneten therapeutischen Massnahme für Igor L. von vier auf drei Jahre gesenkt.

Das Obergericht in Bern, Bild: Keystone

Brigitte Jeckelmann

Wer Igor L. im Februar 2011 bei der Urteilsverkündung am Regionalgericht in Biel erlebt hat, erkennt ihn heute kaum wieder. Damals motzte er die Richterin an, unterbrach sie mit aufsässigen Bemerkungen und verliess dann wutschnaubend den Gerichtssaal. Über sieben Jahre später, gestern, in Saal drei am Obergericht in Bern, spricht ein aufgeweckter, junger Mann mit den Richtern, der sagt, es gehe ihm gut, er sei «nur e chli nervös». Lebhaft beschreibt er dem Gericht seinen Alltag in der forensisch-psychiatrischen Klinik der Universität Zürich in Rheinau, einer Institution, in der er sich seit Mai 2016 befindet und die seine psychische Krankheit, eine paranoide Schizophrenie, so behandelt, dass er  innert weniger Monate grosse Fortschritte gemacht hat.
Das bestätigt dem Gericht Marc Graf, Professor für Forensische Psychiatrie an der Universität Basel. Das Obergericht hatte ihn beauftragt, ein neues psychiatrisches Gutachten anzufertigen. Nun braucht es laut Graf genügend Zeit, damit die Therapieerfolge bei Igor L. gefestigt sind. Stufenweise werde er wieder an den Alltag gewöhnt bis hin zu einem Wohn- und Arbeitsexternat. Grafs Empfehlung, dass eine bedingte Entlassung Ende Juni 2019 denkbar sei, folgt das Gericht.


Hohes Rückfallrisiko
Damit verkürzt es das Urteil des Regionalgerichts um ein Jahr. Dieses hatte letzten Herbsteine Verlängerung der therapeutischen Massnahme um vier Jahre entschieden. Es stützte sich damals auf ein psychiatrisches Gutachten aus dem Jahr 2013. Das kritisiert die vorsitzende Oberrichterin Renate Schnell in ihrer Urteilsbegründung.
Eine sofortige bedingte Entlassung, wie sie Julian Burkhalter, der Anwalt von Igor L. verlangt, weist Schnell zurück. Gutachter Marc Graf habe klar zum Ausdruck gebracht, dass ein hohes Rückfallrisiko bestehe, wenn Igor L. den geschützten Rahmen der Klinik verlasse. Eine ambulante Massnahme sei in solchen Fällen absolut nicht empfehlenswert und gemäss dem Gutachter auch kaum durchführbar.
Schnell verweist mehrmals auf die nicht zu unterschätzende Schwere des Delikts, für das das Obergericht Igor L. 2011 zu einer Massnahme von 14 Monaten verurteilt hatte: Der gusseiserne Aschenbecher, den Igor L. dem Wirt des Restaurants Löwen in Schüpfen über den Kopf geschlagen habe, hätte diesen sehr schwer verletzen oder gar töten können, hätte sich dieser nicht im letzten Moment wegducken können, sodass ihn der Gegenstand nicht voll getroffen hatte.


Verteidiger attackiert Arzt
Anwalt Julian Burkhalter wertet das Urteil als Teilerfolg. Obwohl er während der Verhandlung Gutachter Marc Graf heftig attackiert. So treibt er den Psychiater in die Enge, der zugeben muss, das Gutachten nicht selber erstellt zu haben, sondern eine Oberärztin an seiner Klinik, eine erfahrene Fachärztin in Psychiatrie. Das sei so üblich, sagt Graf. Dieser windet sich auch, als er in Erklärungsnot gerät, weil er den juristischen Unterschied zwischen einfacher und schwerer Körperverletzung nicht erklären kann, nachdem er bei der Beurteilung der Gefährlichkeit von Igor L. auf zweimalige schwere Körperverletzung verwies, die dieser begangen habe. Tatsächlich verurteilt wurde er aber wegen einfacher Körperverletzung.


Fernziel Tätowierer
Igor L. selber sagt, er könne sich gut vorstellen, noch bis übernächstes Jahr im Sommer in Rheinau zu bleiben. Die Gespräche mit den Psychologen seien für ihn hilfreich. Er lerne sehr viel über seine Krankheit. «Psychoedukation», heisse das. Dabei lerne er zu unterscheiden, wie andere ihn «von aussen» wahrnehmen und was er selber an sich bemerkt. Er lerne auch, auf Alarmzeichen zu achten, wenn sich eine neue Psychose, also eine Wahnvorstellung, anbahne. Ein Symptom sei, wenn er anfange, Selbstgespräche zu führen.
Es scheint, als habe er sich voll in den Therapiealltag eingelebt, seine Wortwahl erinnert an den Fachjargon von Psychologen, wenn er von Bewältigungsstrategien spricht, die er in Rheinau kennen lerne oder von seinem Medikament gegen die Schizophrenie, das er selbst richte und einnehme. Igor L., heute 29, im weissen Kapuzenpulli, berichtet dem Gericht, angesprochen auf seine Zukunftsvorstellungen, dass er wieder einmal selbstständig wohnen und sich zum Tätowierer ausbilden lassen möchte. Doch das sei noch weit weg, in ferner Zukunft.
Das nächste Ziel, die bedingte Entlassung im Sommer 2019, ist aber nicht mehr allzu fern. Jetzt habe er das erste Mal seit Jahren in Haft ein konkretes Datum vor Augen.

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