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Medizinisches Cannabis

Ihre Gesundheit kommt sie teuer zu stehen

Sie hat noch nie in ihrem Leben gekifft, dennoch schwört sie auf das grüne Kraut: Eine schwer kranke Seeländerin therapiert sich dank einer Ausnahmebewilligung mit medizinischem Cannabis. Schmerzen hat sie dadurch keine mehr und die Aufenthalte im Spital sind seltener geworden. Doch die Krankenkasse übernimmt die hohen Kosten nicht – weil Cannabis nicht als Medikament zugelassen ist.

Julia Hofer nimmt drei Mal täglich Cannabis-Öl zu sich. Dank dem Präparat hat sie weniger epileptische Anfälle und die starken Schmerzen, die sie durch eine Nervenkrankheit hatte, sind gar ganz verschwunden. Frank Nordmann
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von Carmen Stalder


Julia Hofer* ist krank. Sehr krank sogar: Ende der 80er-Jahre musste sie sich einen Hirntumor herausoperieren lassen. Seither leidet sie an Epilepsie. Vor zehn Jahren begannen die epileptischen Anfälle stärker zu werden, sie verlor dabei das Bewusstsein, musste notfallmässig mit der Ambulanz ins Spital gefahren werden. Und es passierte immer wieder, «alle zwei Monate war ich auf dem Notfall, oft auf der Intensivstation». Ab 2011 begann Hofer zusätzlich an Polyneuropathie zu leiden, einer Erkrankung des peripheren Nervensystems. Sie hatte dadurch schubweise starke Schmerzen in den Füssen und Händen, die in Beine und Arme hinein strahlten.

Die 54-jährige Mutter von drei Söhnen wohnt in einer kleinen Seeländer Gemeinde und ist im medizinischen Bereich tätig, derzeit jedoch arbeitsunfähig. Sie gilt heute als austherapiert. Heisst: Die Behandlungsmöglichkeiten ihrer Erkrankungen sind erschöpft und es bestehen keine weiteren Therapien mehr, die zu einer Heilung oder erheblichen Besserung des Gesundheitszustandes führen könnten. Aus diesem Grund hat Hofer vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine Ausnahmebewilligung für medizinischen Cannabis erhalten. Von dieser Genehmigung profitieren nur Patienten, die gewisse Kriterien erfüllen:

Wer bekommt eine Ausnahmebewilligung?
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) erteilt Ausnahmebewilligungen für die beschränkte Anwendung von medizinischem Cannabis, wenn:
- die Krankheit mit einer schweren Beeinträchtigung der Lebensqualität verbunden ist.
- Therapien mit zugelassenen Präparaten nicht oder nicht genügend angesprochen haben.
- bestehende Erfahrungsberichte darauf hinweisen, dass Cannabinoide eine begünstigende Wirkung für den Therapieverlauf bewirken können.

2015 hat eine vom BAG finanzierte Studie die medizinische Anwendung von Cannabis untersucht. Das Resultat: Insbesondere bei chronischen oder bei durch Krebs verursachten Schmerzen zeigt Cannabis eine gute Wirkung. Dasselbe gilt für Krämpfe, die durch Multiple Sklerose ausgelöst werden. Derzeit werden gemäss BAG in der Schweiz zirka 2000 Patienten mit Cannabinoiden behandelt.


Jahrtausendealte Tradition

Als Julia Hofer bewusst wurde, dass sich ihre Ärzte am Ende der Möglichkeiten befanden, begann sie im Internet zu recherchieren – und stiess dabei auf den Einsatz von Cannabis in der Medizin. Eine jahrtausendealte Tradition: Die ältesten Hinweise kommen aus China und stammen aus dem Jahr 2737 vor Christus. In Europa fand das Kraut 1839 dank dem Bericht eines irischen Arztes über seine schmerzstillende und krampflösende Wirkung Eingang in die Schulmedizin.

In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verschwanden Cannabispräparate vom Markt. Zum einen wollte die Pharmaindustrie ihre neuentwickelten Produkte verkaufen, zum anderen wurde das Kraut mehr und mehr verteufelt. Heute sind die Tendenzen gegensätzlich: Besonders in den USA ist medizinischer Cannabis weit verbreitet und auch hierzulande gilt es mittlerweile wieder als Medizin mit grossem Potenzial.

Hofer schlug ihrer Neurologin vor, sich mit Cannabis zu behandeln. Diese willigte ein und stellte beim BAG ein entsprechendes Gesuch. Ab diesem Moment ging es plötzlich schnell: 2015 wurde das Gesuch bewilligt und Hofer konnte bei Manfred Fankhauser in Langnau, einem von lediglich zwei Apothekern in der Schweiz, die natürlichen Cannabis als Arznei verkaufen dürfen, eine erste Ration an Cannabis-Öl bestellen.

Das Öl wird aus der ganzen Hanfpflanze hergestellt und enthält sowohl das berauschende Tetrahydrocannabinol (THC) als auch das in Supermärkten und Kiosken erhältliche Cannabidiol (CBD). Das THC wirkt bei Hofer stark entzündungshemmend, das CBD gegen die epileptischen Anfälle.

Drei Mal täglich tröpfelt sich Hofer das Öl mit einer Pipette auf einen Löffel. Sie zählt jeden Tropfen – bis zu 25 auf einmal nimmt sie –, dann führt sie den Löffel in den Mund und lässt das Öl während einer Minute in die Schleimhäute einwirken, bevor sie es schluckt. Einen Rausch bekommt sie davon nicht: «Ich habe die Dosis des Präparats nach und nach erhöht, es hat jedoch keine psychotrope Wirkung.»


Lebensqualität hat ihren Preis

Hofer spricht vom Öl wie von einem Wundermittel: Seit sie sich mit Cannabis behandle, habe sie weniger epileptische Anfälle und lande seltener auf dem Notfall. Die polyneuropathischen Schübe und damit die schlimmen Schmerzen seien gar ganz verschwunden. Bis auf zwei Ausnahmen: Als sie für vier Wochen nach Thailand reiste, konnte sie die Tropfen nicht mitnehmen. In der Schweiz trägt sie stets die Bewilligung des BAG auf sich, um allfälligen Problemen aus dem Weg zu gehen. Im Ausland funktioniert das allerdings nicht, an Zöllen und Flughäfen will sie es nicht riskieren, mit cannabishaltigem Öl aufzutauchen. Kaum in Thailand angekommen, erlitt sie einen Schub ihrer Nervenkrankheit. Den Zusammenhang mit dem Aussetzen des Öls machte sie da noch nicht. Erst als sie auf einer weiteren Reise einen erneuten Rückfall hatte, wurde ihr klar: Nur dank dem Cannabis-Öl geht es ihr besser. «Allerdings nur, wenn ich es konstant einnehme.»

Die Lebensqualität von Julia Hofer hat sich deutlich verbessert. Doch diese Qualität hat ihren Preis. Ihre Ärztin muss alle sechs Monate einen Zwischenbericht über den Stand der Behandlung erstellen und an das BAG senden. Verändert sich der Zustand von Hofer oder zeigt ihr Körper unerwartete Reaktionen, könnte ihr die Bewilligung entzogen werden.

Die wirklich grosse Sorge von Hofer ist jedoch finanzieller Natur. Ein Fläschchen Öl enthält 50 Milliliter und reicht für einen Monat. Und es kostet 780 Franken. Das Problem: Hofer muss die Kosten selbst berappen, die Krankenkasse will sie nicht übernehmen. Und das, obwohl ihre mittlerweile abgesetzten Medikamente und die Kosten für Ambulanz und Spitalaufenthalte um ein Vielfaches teurer waren. Das liegt unter anderem daran, dass Swissmedic, die Zulassungs- und Kontrollbehörde für Heilmittel, die Pflanze nicht als Medikament registriert hat. Damit es anerkannt würde, müsste «die Wirksamkeit und Zweckmässigkeit  in klinischen Studien nachgewiesen werden», schreibt das BAG. «Cannabis in Blütenform erfüllt die Anforderungen an ein zugelassenes Arzneimittel nicht», so Mediensprecher Daniel Dauwalder.


Eine unverständliche Diskrepanz

Bezüglich Kostenübernahme ist noch ein weiterer Faktor entscheidend: «Es kommt immer auch auf den Vertrauensarzt der Krankenkasse an», sagt Hofer. So gibt es durchaus Fälle von Patienten, deren Krankenkassen die Kosten für Cannabis-Präparate übernehmen. Doch bei vielen ist es ein mühseliger Kampf. Als die Kasse von Hofer mehrere Gesuche ihrer Neurologin zur Kostenübernahme abgelehnt hat, beschloss die Seeländerin, eine Anwältin einzuschalten. Ihre Rechtsschutzversicherung übernahm die Kosten dafür. Vor Gericht konnte sie vier unabhängig voneinander erstellte Gutachten vorweisen, die belegten, dass der Cannabis ihren Gesundheitszustand erheblich verbessert. Doch alles nützte nichts: Die Krankenkasse bezahlt das Öl weiterhin nicht. Dass die Kasse die Kosten für eine Behandlung nicht übernimmt, für welche das BAG eine Bewilligung erteilt – eine für Hofer unverständliche Diskrepanz.

Die Krankenkasse zu wechseln, ist für sie keine Option. Wenn schon würden die Kosten von der Zusatzversicherung übernommen, diese kann sie jedoch aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes nicht mehr wechseln. Hofer steckt damit in einem Dilemma. Sie fürchtet sich davor, nicht mehr für die Medikamente aufkommen zu können – etwa wenn ihr Mann seine Arbeit verlöre. Dann müsste sie wie früher auf stärkste Schmerzmittel und Opiate zurückgreifen. «Die verursachen jedoch im Gegensatz zum Cannabis eine starke körperliche Abhängigkeit – und wirken erst noch weniger gut.»

Die andere Option würde sie zur Gesetzesbrecherin machen. Sie ist nicht die einzige Patientin, bei der die Kosten für den medizinischen Cannabis schwer ins Gewicht fallen. Viele weichen dann auf den Schwarzmarkt aus, besorgen sich ihr Gras auf der Strasse oder ziehen ihre eigenen Pflanzen auf. Zum Vergleich: Im Cannabis-Öl aus der Apotheke kostetet der Wirkstoff umgerechnet 1400 Franken pro Gramm, auf dem Schwarzmarkt sind es gemäss dem Verein MedCan (siehe Zweittext unten) lediglich 100 bis 150 Franken.

Doch das Cannabis auf der Gasse zu kaufen, steht für Hofer nicht zur Debatte: «Ich habe noch nie gekifft.» Zu gross ist die Angst, nicht genau über die Zusammensetzung des Grases Bescheid zu wissen. Sie will nicht von ihrer Krankheit in die Illegalität getrieben werden. «Aber was bleibt mir übrig, wenn ich die Kosten nicht mehr bezahlen kann?»

*Name von der Redaktion geändert

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Studie soll mit Patienten statt Kiffern durchgeführt werden

Anfang 2018 hätte in Bern ein Projekt starten sollen, in dem Apotheken kontrolliert Cannabis an einige Hundert ausgewählte Kiffer abgeben. An der von der Universität Bern geplanten wissenschaftlichen Studie hätte sich unter anderem auch die Stadt Biel beteiligt. Doch Mitte November wurde bekannt, dass das Bundesamt für Gesundheit (BAG) den Versuch nicht bewilligt – und zwar, weil es um den Cannabiskonsum zu Genusszwecken gehe (das BT berichtete).

Über diesen Entscheid haben sich nicht nur bürgerliche und konservative Politiker gefreut. Auch die Mitglieder des Medical Cannabis Vereins Schweiz (MedCan) zeigen sich zufrieden. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, dass Patienten ungehinderten Zugang zu medizinischem Cannabis zu vernünftigen Preisen erhalten und dieses uneingeschränkt, stress- und straffrei zu sich nehmen können.

Doch was hat der Verein gegen das Cannabis-Experiment? «Wir haben als Patientengruppe von Anfang an nicht verstanden, warum der ‹notorische Kiffer› noch vor den Patienten in der Apotheke legal Cannabis beziehen sollte», schreibt die Vereinspräsidentin Franziska Quadri in einer Mitteilung, die diese Woche an das BAG und die Medien versandt wurde. Und Vorstandsmitglied Felix Iten ergänzt: «Wir fordern das BAG nun dazu auf, die Studie stattdessen mit Cannabis-Patienten durchzuführen.» Die entsprechende Lobbyarbeit sei derzeit voll im Gange, man habe einige politische Schwergewichte, die hinter dem Anliegen stünden.

Kritisch gegenüber dem Einsatz von Cannabis in der Medizin zeigt sich der Verein Jugend ohne Drogen, der zu aktuellen Fragen der Schweizer Drogenpolitik Stellung nimmt. Zwar habe man keine Einwände gegen die dem Gesetz entsprechende Verwendung von Medikamenten aus Cannabisextrakten unter ärztlicher Kontrolle. Aber: «Mit der Verwendung des Begriffs ‹medizinischer Cannabis› wird in der Bevölkerung bewusst Verwirrung gestiftet, um aus ideologischen und weiteren Gründen Cannabis baldmöglichst legalisieren und regulieren zu können», schreibt der Verein. Andrea Geissbühler, Präsidentin des Verbands Drogenabstinenz Schweiz, findet die heutige Regelung mit der Sonderbewilligung vom BAG gut. «Man sollte den Bezug von Cannabis in der Medizin nicht vereinfachen, da sonst auch der Missbrauch zunehmen würde». Gegen eine «Legalisierung durch die Hintertür» will sich der Verband vehement einsetzen.

Stichwörter: Cannabis, THC, Medizin, Krankheit

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