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Studen

Messerstiche in die Brust

Eine junge Spanierin wird in den 90ern von einem unglücklich verliebten Arbeitskollegen schwer verletzt. Sein Verteidiger erinnert sich an den dramatischen Fall.

Tatort «Florida» vor 25 Jahren: Damals berichtete das BT über einen Mann, dessen Liebe zu einer Frau unerwidert blieb, und der sie daraufhin mit einem Messer brutal attackierte. Wie durch ein Wunder überlebte sie trotz massiver Verletzungen. Bild: bt

Deborah Balmer

Es ist ein Kriminalfall um eine unerwiderte Liebe, die Geschichte eines Liebesdramas im «Florida» in Studen, das zu Beginn der 90er-Jahre fast zum Tode von zwei Menschen führte. Was war geschehen?

Die Büroangestellte des Restaurants hat ihre Arbeit beendet und begibt sich zu ihrem Zimmer in den Personalräumen. Im Korridor wird sie von einem Arbeitskollegen angesprochen, der sich mit ihr unterhalten möchte. Die junge Spanierin aber hat keine Zeit, sie möchte mit einer Freundin noch einen Kaffee trinken. Kurz nachdem sie ihr Zimmer aufgeschlossen hat, bemerkt sie, dass sie ihre Post vergessen hat. Nochmals steigt sie die Treppe hinunter und kehrt nach wenigen Minuten zurück. Wieder betritt sie ihr Zimmer und wird sogleich von ihrem Kollegen, der hinter der Tür auf sie gewartet hat, überfallen und mit zahlreichen Messerstichen in Brust, Gesicht, Hände und Arme schwer verletzt.

Die Berichterstattung im BT vom 11. Februar 1994 liest sich süffig und löst ein leichtes Schaudern aus. Und die Beschreibung der Tat endet nicht mit dem Messerangriff: Denn die 30-Jährige flüchtet in Richtung eines Sofas, stolpert und fällt, während der Mann weiter auf die kleine zierliche Frau einsticht, berichtet das BT damals.

So unerwartet, wie der Täter sie überfallen hat, lässt er von ihr ab und läuft in den Korridor hinaus. Er holt ein Seil, das er einige Monate zuvor gekauft hat, befestigt es und knotet es sich um den Hals, lässt sich fallen, um sich so zu erhängen.

In der Zwischenzeit kann sich die Frau die Treppe hinab ins Büro schleppen, wo sie ohnmächtig zusammenbricht. Nicht ohne vorher noch zweimal den Namen des Täters zu nennen. In der Zwischenzeit bemerkt der Wirt den Angestellten am Seil hängend und schneidet ihn los. Das Opfer und der Täter können beide gerettet werden.

Dass die Frau den Angriff überlebte, sei ein Wunder. Das sagte später an der Gerichtsverhandlung Staatsanwalt Peter Bohnenblust in seinem Plädoyer. Zu dieser Erkenntnis sei man durch Bilder und das medizinische Gutachten gekommen. Das Gleiche gelte auch für den Täter, der den Suizidversuch überlebte.

Verhandelt wurde der Fall während zwei Tagen im Amtsgericht Nidau. Weil es bei einem Tatversuch blieb, und dem Täter eine schwer verminderte Zurechnungsfähigkeit attestiert wurde, kam der Fall nicht vor ein Geschworenengericht, wie es sie damals im Kanton Bern noch gab.

«Noch nie so geliebt»
Hinter der Straftat steckte eine unglückliche Liebe: Während zwei Saisons hatten die verheiratete Büroangestellte und der Angeklagte zusammen gearbeitet. Er verliebte sich in die junge Frau, gestand ihr jedoch diese Liebe nie ein. «Ich glaube, ich habe noch nie eine Frau so geliebt», sagte er vor Gericht. Doch obwohl er in der ersten Befragung gestand, dass er hinter der Zimmertür des Opfers gestanden habe, widerrief er diese Aussage plötzlich und konnte sich weder an die Tat noch an seinen Suizidversuch erinnern. Ob dies nur eine Schutzbehauptung war oder die Tat einen Verdrängungsmechanismus aufgelöst habe, könne nicht schlüssig beantwortet werden, sagte der Staatsanwalt. Das eigentliche Geständnis fehle, doch der Angeklagte habe auch gesagt: «Wenn andere den Tathergang so schildern, könnte es schon so gewesen sein», also streite er die Tat nicht direkt ab, sondern er habe eben nur kein Geständnis gemacht.

Das Untergangsszenario
Rechtsanwalt Marc Renggli kann sich gut an den brutalen Kriminalfall erinnern. Er war damals der Verteidiger des Täters. «Es war eine dramatische Geschichte, eine schlimme Sache», sagt er, ein sehr eindrücklicher Fall, an den er in den vergangenen 25 Jahren immer mal wieder habe zurückdenken müssen.

Sein Mandant sei in die Spanierin verliebt gewesen, die Liebe sei aber unerwidert geblieben, worauf der Mann «komplett die Kontrolle verloren hat». Dass er sich nach der Tat das Leben habe nehmen wollen, war laut Renggli wohl eine Art Untergangsszenario im Sinne von: «Wenn es mit der Liebe nicht klappt, gehen wir halt beide.»

Der Anwalt erinnert sich, dass der Täter ein stiller, zurückgezogener Typ war, ein Einzelgänger, dem man eine solch brutale Tat nie zugetraut hätte. Auch das Opfer habe eine sanftmütige und liebe Ausstrahlung gehabt, was beim Täter vielleicht die Illusion habe wachsen lassen, Chancen bei ihm zu haben. Die Frau war beim Angriff im zweiten Monat schwanger und verlor das Kind als Folge des Überfalls. Lange danach litt sie an der Attacke. Im Artikel steht auch, dass die Tat vor Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes geschah, weshalb die Frau wohl keine Entschädigung zu erwarten habe.

Renggli übernahm das Mandat damals, weil er wie der Täter Portugiesisch spricht. Nach der Verurteilung hat er nie mehr etwas vom Täter gehört.

Tötung oder Totschlag?
Das Gericht beschäftigte sich damals mit der Frage, ob es sich um den vollendeten Versuch der vorsätzlichen Tötung oder allenfalls um den geringfügigeren Tatbestand eines Totschlags handelt. Der Verteidiger des Täters argumentierte damals, dass sein Mandant die Tat nie zugegeben habe, sie also vor Gericht noch bewiesen werden müsse. Wegen gewissen Ungereimtheiten in den Zeugenaussagen sei es rein theoretisch sogar möglich, dass eine Drittperson das Opfer angefallen habe. Wenn überhaupt, könne man den Angeklagten deshalb nur wegen versuchten Totschlages verurteilen.

Doch für das Gericht bestand kein Zweifel, wer der Täter war: Der Angeklagte wurde wegen des vollendeten Versuchs der vorsätzlichen Tötung zu vier Jahren und neun Monaten Zuchthaus verurteilt und für zwölf Jahre des Landes verwiesen. «Auch unter Berücksichtigung der Strafmilderung wiegt das Verschulden der Tat schwer. Zudem: Der Angeklagte hat nie auch nur andeutungsweise so etwas wie Reue gezeigt», sagte der Richter.

Heute gibts mehr Opferhilfe
Wie wirkt der Fall aus heutiger Sicht? Nicht nur, dass es heute als Strafart das Zuchthaus nicht mehr gibt, sondern die Strafe generell Freiheitsstrafe heisst. Heute stehen Opfer, zumindest was Genugtuungszahlungen angeht, besser da als damals: «Wenn eine Tat passiert, macht bereits die Polizei das Opfer auf seine Rechte aufmerksam und macht eine Meldung an eine Opferberatungsstelle», sagt Rechtsanwalt Mario Stegmann. Selbst wenn ein Täter mittellos ist, kann das Opfer mit einer finanziellen Genugtuung rechnen.

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