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Sozialhilfe

Nun erreicht die Flüchtlingswelle die Gemeinden auch finanziell

Nach fünf Jahren müssen statt dem Bund die Kantone und Gemeinden für anerkannte Flüchtlinge in der Sozialhilfe aufkommen. Ab dem laufenden Jahr sind dies die besonders vielen aus dem Jahr 2015.

Nicht nur in Biel, sondern in allen Gemeinden, steigen die Kosten für die Sozialhilfe wegen der Flüchtlingswelle 2015 an. Bild: Frank Nordmann/a

Beat Kuhn

Im Asylbereich kommt der Bund heute bei anerkannten Flüchtlingen fünf Jahre lang und bei Vorläufig Aufgenommenen sieben Jahre lang für die Sozialhilfe auf, wenn sie keinen Job haben – und das ist bei diesen zwei Segmenten in neun von zehn Fällen so. Danach werden die Gemeinden und Kantone zur Kasse gebeten. Wegen der Flüchtlingswelle von 2015 (siehe linke Infobox) läuft diese Frist heuer in unzähligen Fällen ab. Insgesamt werden ab dem laufenden Jahr Mehrkosten von etwa einer Milliarde Franken anfallen, wie eine grobe Schätzung der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe besagt.

Verteilung der Lasten

Der Wechsel vom Bund zu den Kantonen und Gemeinden erfolgt jeweils auf den Tag genau. Eine Gemeinde kann also an irgendeinem Tag für einen weiteren anerkannten Flüchtling oder Vorläufig Aufgenommenen zuständig werden. Im Durchschnitt wird an die voll- und teilunterstützten Sozialhilfebezüger im Kanton Bern ein Unterstützungsbeitrag von zirka 960 Franken pro Person und Monat oder rund 11 500 Franken pro Person und Jahr bezahlt. Darunter sind laut Gundekar Giebel, Kommunikationsbeauftragter der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion, der Grundbedarf für die Lebensführung, die Unterkunft, die Krankenversicherung etc. zu verstehen.

Im Kanton Bern wird die Sozialhilfe über ein Lastenausgleichssystem (siehe rechte Infobox) finanziert: Die Kosten werden zu 50 Prozent durch den Kanton und zu 50 Prozent durch die Gesamtheit aller Gemeinden getragen. Der Anteil der Gemeinden wird nach deren Einwohnerzahl berechnet. «Das führt dazu, dass im Kanton Bern – im Gegensatz zu anderen Kantonen – zwischen stark belasteten und geringer belasteten Gemeinden ein finanzieller Ausgleich existiert», so Giebel.

«Massive Steuererhöhungen»

Der Präsident des Schweizerischen Gemeindeverbandes, der Schaffhauser Ständerat Hannes Germann (SVP), malte im vergangenen Herbst den Teufel an die Wand: «Es drohen massive Steuererhöhungen», sagte er gegenüber dem Schweizer Fernsehen. Ausserdem könne es sein, «dass Projekte, die auch notwendig sind, zurückgestellt werden müssen».

Die Frage, ob er diese Aussage seines Parteikollegen für die Stadt Biel unterschreiben würde, beantwortet Gemeinderat Beat Feurer, Vorsteher der Direktion Soziales und Sicherheit, diplomatisch. Kantonsweit ergäben sich zwar «durchaus Mehrkosten», doch würden diese über den Lastenausgleich zu 50 Prozent auf alle Gemeinden verteilt. Wegen des Finanzierungssystems des Kantons würden «für die Stadt Biel keine direkten Mehrkosten entstehen».

Auch Urs Kühnis, Leiter der Sozialen Dienste Brügg, die für die Gemeinden Brügg, Aegerten, Schwadernau und Studen zuständig sind, meint: «Von massiven Steuererhöhungen würde ich nicht ausgehen – dank dem Lastenausgleich.» Aber die Kosten für die Sozialhilfe würden mit Sicherheit steigen. Dies einerseits direkt durch die höhere Anzahl von Bezügern, anderseits durch Folgekosten wie etwa höhere Kosten für Personal und Infrastruktur.

David Adam, Leiter der Sozialdienste Aarberg mit den Gemeinden Aarberg, Bargen, Bühl, Hermrigen, Kallnach, Kappelen, Merzligen und Walperswil, erwartet keine signifikante Erhöhung der Fallzahlen, sondern «wenn schon, im tiefen einstelligen Prozent-Bereich». Entsprechend sei auch nicht mit negativen Auswirkungen bei den Kosten zu rechnen.

Defizite für den Arbeitmarkt

Dass die Quote der Flüchtlinge, die von der Sozialhilfe leben, so hoch ist – rund 90 Prozent –, führt Beat Feurer einmal auf deren «Bildungsvoraussetzungen» sowie auf den Umstand zurück, dass Arbeitsstellen für Niedrigqualifizierte in der Schweiz stetig rückläufig seien. «Wegen ihrer anderen kulturellen Denk- und Problemlösungsmuster» hätten sie aber auch «Mühe mit den in der Schweiz vergleichsweise hohen kompetitiven wirtschaftlichen Rahmenbedingungen», so Feurer.

Urs Kühnis meint, es seien «ja nicht diese Menschen, auf die im Ersten Arbeitsmarkt gewartet wird». Denn diese hätten eine schlechte, gar keine oder die falsche Ausbildung, keine Erfahrung, sprachliche Mankos, mangelnde Kenntnisse, wie unser Wirtschaftssystem funktioniert, und andres mehr. Hinzu komme, dass sich um die vorhandenen Arbeitsplätze auf dem Ersten Arbeitsmarkt nebst den Sozialdiensten auch noch die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren, die Invalidenversicherung und andere für ihre Klientel bemühen würden.

Auch David Adam sieht eine ganze Reihe von Gründen: Je nach Aufenthaltsstatus dürften nicht alle Flüchtlinge arbeiten, und oft mangle es ihnen an Sprachkompetenz in den hiesigen Landessprachen. Überdies gebe es zu wenig Stellen im niederschwelligen Bereich. Nur für diesen kämen die Flüchtlinge oft in Frage, weil sie häufig tief qualifiziert seien oder ihre Ausbildung bei uns nicht anerkannt sei. «All dies erschwert es den Sozialdiensten, Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu vermitteln.»

Ideen für bessere Chancen

Jene zehn Prozent, die einen Job finden, kommen vorwiegend in Niedriglohnjobs der Branchen Reinigung, Gastronomie oder Pflege unter. «Oft reicht das Einkommen aus solchen Jobs dann aber nicht zur Ablösung aus der Sozialhilfe, insbesondere, wenn es sich um Familien handelt», hält Urs Kühnis fest. Die Integrationsmöglichkeiten, die die Sozialen Dienste hätten, stünden sämtlichen Sozialhilfeempfängern offen, macht er klar. Für die Flüchtlinge sollte in der Phase vor der Überweisung an die Gemeinden aber «mehr in die Bildung und Ausbildung investiert werden», findet er.

Um die Bedingungen für die Flüchtlinge zu verbessern, «wür-de es politischen Willen auf Bundes- oder kantonaler Ebene brauchen», meint David Adam. «Entsprechende Bemühungen sind meines Wissens auch am Laufen.»

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Lastenausgleich auch in Solothurn

Auch der Kanton Solothurn kennt ein Lastenausgleichssystem, wie Reto Kämpfer, Leiter der Sozialen Dienste Oberer Leberberg (Grenchen, Bettlach, Selzach, Lommiswil) sagt. Diese haben derzeit 69 Dossiers, «und im Moment erwarten wir keinen grossen Zuwachs, da wir das kantonale Kontingent erreicht haben», so Kämpfer.

Auch er ortet bei Flüchtlingen «bezogen auf unser System einen sehr hohen Förderbedarf», von der Alphabetisierung über den Spracherwerb bis hin zu IT-Kompetenzen und dann noch Kompetenzen der jeweiligen Berufsbranchen. «Dieser Bedarf ist aber je nach Herkunftsland sehr unterschiedlich.»

Die bestehenden Integrationsangebote für die Jobsuche, wie Sprachförderung, Arbeitsmarktintegration, spezielle Brückenangebote oder Branchenkurse, hält er für ausreichend.

Eine Stelle jenseits des Hilfsarbeitssegmentes würden am ehstens Personen finden, die in der Schweiz noch eine Ausbildung absolvieren könnten, macht Kämpfer klar. Oft seien dies EBA-Lehren. «Es gibt aber auch immer wieder Personen, die eine EFZ-Ausbildung oder sogar eine Matura absolvieren können», wie er weiss. bk

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Weit mehr aus Eritrea als aus Syrien

  • 2014 stammten von 23 555 Asylbewerbern 29 Prozent aus Eritrea, 16 Prozent aus Syrien und 5 Prozent aus Sri Lanka.
  • 2015 stieg die Zahl der Asylbewerber deutlich an. Im Juli 2015 etwa stellten 3805 Personen ein Asylgesuch, also 70 Prozent mehr als im Vorjahresmonat, als es 2234 gewesen waren.
  • Im zweiten Quartal 2015 kamen von total 7384 Personen 3238 oder 43 Prozent aus Eritrea. Aus Syrien waren lediglich 390 Personen.
  • Die grösste Gruppe der Asylsuchenden in der Schweiz waren bis September 2015 wie im Vorjahr Eritreer, von denen etwa 9000 einen Asylantrag stellten.
  • Im August 2016 stellte sich 
heraus, dass die Schweiz zunehmend zum Transitland für Flüchtlinge geworden war, die nach Nordeuropa wollten.
  • 2017 ging die Zahl der Asylgesuche um ein Drittel auf 18 088 zurück. Das wichtigste Herkunftsland blieb weiterhin Eritrea. bk

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Quote in der Stadt klar höher als auf dem Land

  • Die Stadt Biel hatte 2018 3569 Dossiers mit 6001 Personen in der Sozialhilfe. Die Sozialhilfequote lag somit bei elf Prozent. Für das Jahr 2019 geht man beim Kanton von 130 Personen, für 2020 von 200 Personen und für 2021 von 140 Personen mit Fluchthintergrund, also Flüchtlingen und Vorläufig Aufgenommenen, aus.
  • Die Sozialen Dienste Brügg (Brügg, Aegerten, Schwadernau, Studen) geben den Stand per Ende März dieses Jahres an: Da waren 755 Personen in der Sozialhilfe, was einer Quote von 7,3 Prozent entspricht. Bis Ende 2021 will der Kanton den Sozialen Diensten Brügg rund 70 Personen mit Fluchthintergrund zuweisen.
  • Die Sozialdienste Aarberg (Aarberg, Bargen, Bühl, Hermrigen, Kallnach, Kappelen, Merzligen, Walperswil) geben an, «im Vergleich etwa zu städtischen Sozialdiensten einen niedrigen Ausländeranteil an Sozialhilfeempfängern» zu haben. bk

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