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Berlin

Auf Herz und Nieren geprüft

Moderne Gastronomie soll ein Erlebnis bieten. Nicht ganz wie vorgesehen, ist das dem Fernweh-Autor Donat Blum kürzlich in Berlin widerfahren: Ein Drama mit Happy-End.

Könnte auch geschlossen sein. Und die Terrasse war es: Restaurant Herz & Niere in Berlin. Bild: Donat Blum

Donat Blum

Wir wollten mal wieder essen gehen. Nicht, dass das in Berlin so aussergewöhnlich wäre wie in der Schweiz. Aber Restaurants dürfen auch hier erst seit einigen Wochen wieder wirtschaften. Und meine Nächstbeziehungen und ich meiden meiner Vorerkrankung wegen nach Möglichkeit noch immer geschlossene Räume. In Restaurants essen wir seit Ausbruch der Pandemie, wenn überhaupt, dann draussen. Und das war auch an diesem Abend der Plan. Zudem sollte es wieder mal ein etwas spezielleres Restaurant werden. Preislich nicht abgehoben, aber mit Bewusstsein für Qualität.

Neue Restaurants auszuprobieren ist ein Hobby von uns dreien und insbesondere von mir. Mehrere Jahre habe ich in der Gastronomie gearbeitet – unter anderem in der Geschäftsführung einer Cateringfirma. Da gehörte gutes Essen als freundschaftliche Betriebsspionage und Entlöhnung durch Kost auf Spesen quasi mit dazu.

Mein Freund hatte online einen Tisch reserviert und den Wunsch nach einem Platz auf der Terrasse in den Bemerkungen angebracht. Mit zwei E-Rollern fuhren wir quer durch die Stadt. Der Himmel war bewölkt, grau und hin und wieder fielen einzelne Regentropfen – zu wenige, um das Wetter regnerisch zu nennen. Und es war warm genug, um die potenziellen Spritzer mit einer dünnen Jacke bekleidet wegstecken zu können. Die Restaurantterrassen unterwegs waren denn auch trotz unsicherem Wetter bevölkert, was die Vorfreude steigerte.

Fast vorbeigefahren

Auswärtsessen ist eine der wenigen abendlichen Ausgehmöglichkeiten diese Tage. Clubs sind noch immer geschlossen und Theater in der Sommerpause. Kinos spielen teilweise zwar wieder Filme, aber eben: in geschlossenen Räumen. Und für ein Freiluftkino war das Wetter an jenem Abend dann doch nicht warm genug.

Das Restaurant schien verlassen. Fast wären wir daran vorbeigefahren. Die Terrasse war leer, die Sonnenschirme zugeklappt und erst bei genauerem Hinschauen entdeckten wir den Schriftzug «Herz & Niere» und die wenigen Gäste, die im Sous-Terrain des Restaurants sassen.

Leider können heute niemand draussen essen, sagte der Kellner zu meinem Freund, der mit Mund-Nasen-Schutz – so müssen hier die Behelfsmasken aus rechtlichen Gründen genannt werden – reingegangen war und nachgefragt hatte. Das Essen würde zu schnell abkühlen, in der Küche werde es vom Durchzug zu kalt, weil die Türe zwecks Service stets offenbleiben müsse, und auch die anderen Gäste müssten dann wegen uns frieren.

Meine beiden Freunde zündeten sich eine Zigarette an und wir beratschlagten, ob wir uns entgegen unserer Absicht reinsetzen oder auf den Restaurantbesuch verzichten sollten. Ein wenig ungeduldig schaute der Kellner zur Tür heraus: Die Terrasse sei ja nun heute auch nicht hergerichtet. Das würde er mit Plattenspieler, Blumen und allem drum und dran tun, wenn es das Wetter erlaube und heute tue es das nicht.

Drohung mit Strafgebühr

Wir hätten uns vorgenommen, geschlossene Räume zu meiden, sagte ich. Ich würde einer Risikogruppe angehören und sei kein Experte, aber nach allem, was ich wisse, würde ich mich wohl anstecken, wenn jemand in diesem doch eher kleinen und geschlossenen Raum das Virus in sich trage. Die Chance war bei den derzeitigen Fallzahlen wohl relativ klein, dass genau einer dieser zehn Gäste infiziert war. Wir seien aber gerade noch unentschieden, ob wir für ein Essen, das ja vor allem schön sein sollte, überhaupt irgendein Risiko eingehen wollten.

Der Wortwechsel ging noch ein-, zweimal hin und her, bis sich der Kellner schliesslich genervt umdrehte und, kurz bevor er im Innern verschwand, nachschob: «Aber behalten Sie im Kopf, dass eine Storno-Gebühr anfällt, wenn Sie sich dagegen entscheiden!»

Da platzte es aus mir heraus: Ob er eigentlich Verschwörungstheoretiker sei und die Bedrohung durch Covid-19 verneine? Das gehe ja gar nicht, dass er mir hier mit einer Strafgebühr drohe: Ob er wirklich das Risiko auf sich nehmen wolle, dass ich mich bei ihm im Restaurant anstecke und dann an Covid sterbe?

Er blaffte etwas zurück, das ich nicht verstand, und liess entrüstet die Tür ins Schloss fallen. Die Nerven lagen blank – wie so oft in diesen Pandemie-Zeiten. Meine beiden Freunde – in einer Mischung aus Scham über mein Verhalten und aus Ablehnung seines  – machten einen Schritt weg vom Lokal: «Komm, wir gehen.»

Überraschende Wendung

Der Kellner hinter der Türe hingegen war stehen geblieben, atmete zweimal tief durch und kam mit gerade ausreichend wiedergewonnener Beherrschung zurück auf die Terrasse: «Setzt euch mal hier hin, nehmt einen Aperitif und wir überlegen in Ruhe, was wir tun können.»
Ein beeindruckender Schritt von Grösse, wie ich fand und ihm auch sagte: «Vielen Dank fürs Einlenken!»

«Ihr müsst verstehen, es ist auch für uns eine existenziell bedrohliche Zeit», sagte er. Vielleicht weniger physisch als für mich, aber finanziell und emotional für das Restaurant, das er zusammen mit dem Koch führe: Alle Mitarbeiter seien auf Kurzarbeit oder entlassen und sie beide würden nur noch zu zweit und ohne Lohn arbeiten. Das Restaurant sei nur noch an drei Abenden die Woche geöffnet und sie kämpften jeden Tag darum, es wenigstens an diesen vollzukriegen. Geschäftsessen und Touristen – ihre Hauptkundschaft – seien wegen Covid-19 gänzlich weggefallen.

So sehr es für uns ungelegen kam, war es beeindruckend, wie leidenschaftlich er für die Qualität «seines» Essens und Ambientes kämpfte. Und indem er uns en passant das abendliche Menu vortrug, rang er sich schliesslich dazu durch, uns auf der Terrasse essen zu lassen. Erstmal nur für den ersten Gang. Woraus ein ganzer Abend wurde.

Und der Konflikt, der Hahnenkampf, hatte sich gelohnt. «Herz und Niere» ist offensichtlich sowohl metaphorisch als auch wortwörtlich gemeint. Wortwörtlich, da das Restaurant Tiere nach dem «Head-to-Toe»-Prinzip – von Fuss bis Kopf und inklusive aller Innereien verarbeitet. Auf Euter folgte Leber, Niere, Blutwurst und Herz. Beim Gemüse galt «von Blatt bis Wurzel». Zum ersten Mal ass ich Rattenschwanz-Radieschen, die der Wirt in seinem Innenhof anpflanzte. Hätten wir noch einen sechsten Gang dazu genommen, wäre auch Hirn dabei gewesen.

Alle Vorurteile widerlegt

Metaphorisch, da auch wir mit dieser Aussicht auf Innereien auf Herz und Nieren geprüft wurden, es danach aber bereuten, hatten wir nur zwei- statt dreimal das Innereien-Menu bestellt. Denn alle Vorurteile wurden widerlegt:

Die Leber schmeckte nicht eisern-mehlig, sondern zart und würzig. Der feingeschnittene Euter knackig und mild. Und einzig die Nieren waren, als sie noch heiss und frisch aus der Küche kamen, besser als ein, zwei Minuten später, als sie des kühlen Wetters wegen abgekühlt waren und sich der ihnen so eigene, herausfordernde Beigeschmack hatte entfalten können.

Wir waren uns einig: Das war das beste Essen unserer ganzen Zeit in Berlin.

Info: Donat Blum, Jahrgang 1986, ist Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel und pendelt zwischen Berlin und der Schweiz. 2018 ist sein Debüt-Roman «Opoe» bei Ullstein fünf erschienen.

Stichwörter: Berlin, Restaurant, Donat Blum

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