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Titelgeschichte

Die Oscars
 als Spiegel 
des Zeitgeistes

Die 93. Oscarverleihung, die in der Nacht auf Montag über 
die Bühne geht, präsentiert sich aufgrund der Pandemie in mehrfacher Hinsicht in ungewohntem Gewand.

Gewinnt sie ihren zweiten Oscar? Viola Davis in "Ma Rainey's Black Bottom" Bilder: zvg

Roger Duft

In diesem Jahr ist bekanntlich vieles anders. Die Weltbevölkerung musste sich in den vergangenen knapp 14 Monaten aufgrund der Coronapandemie völlig neu orientieren. Sehr viele lieb gewonnene und geschätzte Aktivitäten mussten quasi über Nacht auf ein Minimum reduziert oder sogar ganz aufgegeben werden. So traf die Coronakrise gerade auch die Kinobranche tief ins Mark.

Auf einmal waren die Zuschauerzahlen pro Saal arg beschränkt, und teure Schutzkonzepte mussten aufgezogen werden. Und am Ende wurden die Kinos trotzdem komplett geschlossen. Hier in der Schweiz dürfen die Kinos zwar seit Anfang dieser Woche wieder Gäste empfangen, allerdings erneut nur unter strengen Auflagen und mit spärlich gefüllten Sälen. Kostendeckend arbeiten lässt sich so selbstverständlich weiterhin nicht.

In den USA, wo die Pandemie besonders hart zuschlug, lässt sich zwar langsam ein kleiner Lichtschein am Ende des Tunnels ausmachen. Für einige renommierte Kinoketten kommt dieser aber zu spät. Sie werden auch nach der Krise ihre Kinosäle nicht mehr öffnen.

 

Ein grosses Umdenken
findet statt

Ob dies allerdings einzig und allein dem Coronavirus zugeschrieben werden kann, daran werden immer mal wieder Zweifel geäussert. Seit sich Netflix, Amazon und, etwas später, Disney und Apple auf dem immer grösser und wichtiger werdenden Streaming-Markt breit machen, stellt sich manch ein Filmkenner oder eine Kinoexpertin die Frage, wie lange das Kino als solches seine Position im Filmgeschäft überhaupt noch wird halten können.

Nicht nur, dass die Streaming-Anbieter vermehrt auch selber grosse Produktionen finanzieren, sie scheren sich in vielen Fällen auch herzlich wenig um die Lichtspielhäuser.

Zwar werden gewisse Filme kurz vor oder zeitgleich mit dem Start auf der «heimischen» Plattform immer noch auf die grosse Leinwand gebracht. Aber der Trend geht klar in Richtung Heimkino, wo die Bildschirme ständig grösser und die Tonanlagen wuchtiger werden.

Im Umkehrschluss hat das Coronavirus die grossen Filmstudios in vielen Fällen zur genau gleichen Praxis gezwungen. Der Filmriese Warner etwa wird alle seine zugkräftigen Blockbuster in diesem Jahr zur gleichen Zeit in den offenen Kinos und auf dem hauseigenen Streaming-Dienst HBO Max lancieren, und Disney hat bereits mehrere seiner Animationsfilme auf beiden Wegen an ihr Publikum gebracht.

Auch ein erster Marvel-Streifen debütiert am 9. Juli doppelspurig. «Black Widow» wird neben der Kinoauswertung ab diesem Datum auch auf der frisch gestarteten Plattform Disney+ zu sehen sein, da Marvel seit 2009 dem Disney-Konzern gehört.

 

Welche Rolle spielen
die Filmstudios?

Sind also auch die Filmstudios selber in Zukunft ein Sargnagel für die Kinobranche? Die Meinungen sind gespalten, die Diskussionen darüber oft heftig und emotional. Die vielen permanenten Kinoschliessungen gerade in Amerika sind aber kein gutes Zeichen, zumindest nicht für die grossen Ketten, die auf Hollywood-Filme setzen. Kinos, die sich auf Nischen- und Studiofilme spezialisieren, dürften den etwas längeren Atem haben, da das System dort anders arbeitet und Streaming eine kleinere Rolle spielt.

Dass die Heimkino-Revolution früher oder später auch bei den Oscars ankommen würde, war abzusehen. Der Grund, wieso Anbieter wie Netflix oder Amazon ihre Werke überhaupt noch in die Kinos bringen, hat viel mit der Vorgabe zu tun, dass Filme, die für den nach wie vor wichtigsten Filmpreis berücksichtigt werden, mindestens eine Woche lang in einem Kino in Los Angeles gelaufen sein müssen. Damit möchte die US-Filmakademie genau verhindern, dass die Kinoauswertung als solche immer mehr an Gewicht verliert.

Diesen Kampf scheint die Academy aber zumindest in diesem Jahr zu sistieren. Die Regeln für die 93. Oscarverleihung wurden wegen der Pandemie dahingehend angepasst, dass für Filme, die im Jahr 2020 erschienen sind, eine Kinoauswertung zwar vorgesehen, aber nicht effektiv passiert sein musste. Dass damit nun noch mehr reine Streaming-Produktionen unter den Nominierten fungieren, dürfte indes nicht der Fall sein, da eben auch für diese Filme eine Kinoauswertung geplant gewesen sein musste. Aber die Tendenz ist ohnehin eindeutig.

Dass Netflix und Co. vermehrt bei den Oscars mitreden, wird in Zukunft sicher eher die Norm als die Ausnahme sein. Dies wird deutlich, wenn man die Anzahl Nominierungen nach den produzierenden Studios auflistet. Netflix führt diese Liste mit ganzen 23 Nominierungen Vorsprung auf die zweitplatzierten Amazon-Studios an. Dahinter folgen Disney und Warner, notabene die beiden Studios, die coronabedingt aktuell vermehrt auf ihre Streaming-Plattformen ausweichen.

 

Warum «Nomadland»
der haushohe Favorit ist

Dass es bereits dieses Jahr zum erhofften Oscar für den besten Film für einen Streaming-Anbieter kommt, ist aber eher unwahrscheinlich.

Zu gross dürfte die Dominanz von «Nomadland» der chinesisch-amerikanischen Regisseurin Chloé Zhao sein, dem wunderbaren Roadmovie mit Frances McDormand, die als Nomadin mit ihrem Van quer durchs Land reist und dabei viele Gleichgesinnte trifft. Der Film hat in den letzten Wochen eine Unmenge an internationalen Preisen abgeräumt, zuletzt auch bei den britischen Bafta-Awards, wo es unter anderem den Preis für den besten Film und die beste Regie gab.

Dass «Nomadland» auch bei den Oscars als haushoher Favorit in diesen beiden Kategorien gilt, liegt aber auch an einem anderen Aspekt, der gerade in diesem Jahr eine gewichtige Rolle spielen dürfte – dem Zeitgeist.

In Zeiten, in denen insbesondere in den USA die Menschen aus der Unterschicht angesichts der von der Pandemie gebeutelten Wirtschaft um ihr Heim und ihre Existenz fürchten, könnte ein Film um Menschen, die im Nomadendasein ihre Erfüllung finden, nicht besser passen.

Dass das bildgewaltige, feinfühlige Werk aber auch wirklich hervorragend ist, dürfte am Ende für den Schub über die Ziellinie ausschlaggebend sein.

 

Nach welchen Kriterien werden die Preise vergeben?

Neben der Pandemie beschäftigte aber ein anderes Ereignis die US-Amerikaner mindestens genauso intensiv. Wie der Afroamerikaner George Floyd unter dem erdrückenden Knie eines US-Polizisten knapp neun Minuten lang nach Luft rang und am Ende ums Leben kam, löste nicht nur weltweit Bestürzung aus, sondern offenbarte in tragischer Manier ein nach wie vor offenkundiges Rassismusproblem in den Vereinigten Staaten. Gewaltsame Proteste und die globale «Black Lives Matter»-Bewegung waren die Folge.

Und so wundert es nicht, dass insbesondere mit «Judas And The Black Messiah» und «The Trial of The Chicago 7» (eine ausführliche Filmkritik war im BT vom letzten Samstag zu lesen) zwei Filme nominiert sind, die die Unverhältnismässigkeit von staatlicher Gewalt und Autorität anprangern.

Die aktuelle Thematik dürfte zudem dazu geführt haben, dass in diesem Jahr die Liste der nominierten Schauspielerinnen und Schauspieler so divers wie nie zuvor ausfällt: 9 von 20 Anwärterinnen und Anwärtern in den vier Schauspielkategorien sind nicht-weisse Amerikaner.

Nach der Vergabe der SAG-Awards deutet alles darauf hin, dass Viola Davis für «Ma Rainey’s Black Bottom» ihren zweiten Oscar erhält und der viel zu früh verstorbene Chadwick Boseman posthum bei den männlichen Hauptdarstellern für den selben Film geehrt wird.

Ob der Preis damit aber an die wirklich beste schauspielerische Leistung geht oder doch eher politisch motiviert vergeben wird, dürfte eine altbekannte Diskussion erneut anfachen. Wer etwa Anthony Hopkins als demenzkranken Protagonisten in «The Father» oder die Tour-de-Force-Darbietung von Vanessa Kirby in «Pieces of A Woman» gesehen hat, dürfte zumindest ins Grübeln kommen. Und Frances McDormand für «Nomadland» oder Carey Mulligan für «Promising Young Woman», einem Film zum ebenfalls sehr aktuellen Thema Sexismus, hätten die Trophäe auch nicht gestohlen.

Aber auch bei den Nebendarstellern dürften mit Daniel Kaluuya («Jesus And The Black Messiah») und der 73-jährigen You-Jung Youn («Minari») zwei nicht-weisse Schauspieler das Rennen machen.

Auch visuell wird sich die diesjährige Oscar-Verleihung anders präsentieren. Um nicht zu viele Menschen ins Dolby Theatre zu pferchen, wurde mit der Union Station, dem Bahnhof in Los Angeles, ein zweiter Austragungsort aufgebaut.

 

Die Verleihung soll
«wie ein Film» werden

Produziert wird die Oscar-Verleihung diesmal unter anderem von Filmemacher Steven Soderbergh, die Regie übernimmt zum sechsten Mal in Folge Glenn Weiss. Er will die Verleihung gemäss eigenen Angaben diesmal «wie einen Film» aussehen lassen – was immer das heissen mag.

Vielleicht wird sie etwas kürzer, denn es gibt diesmal eine Kategorie weniger zu vergeben: Neu gibt es statt zwei nur noch einen Preis für den Filmton (Abmischung und Effekte).

Aber mit 23 Kategorien wird das immer noch eine sehr lange Oscar-Nacht. Es ist in diesem Jahr zwar vieles anders, aber eben doch nicht alles.

Info: SRF zwei überträgt die Verleihung in der Nacht auf Montag ab 0.20 Uhr live. Am Montag, 26. April, zeigt um 19 Uhr der gleiche Sender die Höhepunkte.

 

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