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Titelgeschichte

Sie lernen daheim – allein

Moira und Lynn waren noch nie in der Schule. Die zwei Bieler Mädchen werden von ihren Eltern zuhause unterrichtet. Ein Besuch bei einer Familie, die vieles anders macht.

Die Neunjährige (links) und die Sechsjährige teilen sich ein Pult, ein grosses, das überall sein kann. Bild: Matthias Käser

Hannah Frei

Moira und Lynn sitzen zuhause am Esstisch und schauen aus dem Fenster. Eine Wolke, weit oben, weiss, oder hellgrau, bisschen flauschig, irgendwie weich. Ihr Blick wandert auf den Bildschirm des Laptops, der vor ihnen auf dem Tisch steht. Mutter Kathrin spielt ein Video ab. «Das ist wie beim Spaghettikochen. Da entsteht Dampf», erklärt sie kurze Zeit später. Lynn schaut verblüfft. Federwolken, Schäfchenwolken, Schleierwolken, Schichtwolken. «Seht ihr, die Federwolken bestehen aus ganz kleinen Eiskristallen», erklärt Kathrin. «Das wusste ich gar nicht», sagt Moira. «Ich auch nicht», gesteht Kathrin. «Weiter Mama», sagt Moira. Lynn reibt sich die Augen.

Moira ist neun Jahre alt, Lynn sechs. Beide heissen anders. Sie haben entschieden, dass sie nicht mit Namen in der Zeitung erwähnt werden möchten. «Diese Entscheidung gilt es zu respektieren», sagt Kathrin Winkelhausen. Selbstbestimmung. Das ist, was Mutter Kathrin und Vater Dieter ihren Kindern beibringen wollen. Und das tun sie daheim, mit Homeschooling.

 

Schule ist überall

Es ist kurz nach 9 Uhr. Die beiden Mädchen tunken ihre feinen Pinsel in die Farbe und fangen an, zu malen: Federwolken, Schäfchenwolken, Schleierwolken, Schichtwolken. Und eine Sonne. Und ein Blitz und viele Regentropfen.

Viereinhalb Zimmer – Neubau –, ein Balkon, der Tischtennistisch vor dem Haus, der Zug, der Bus, das Museum, der See, der Jura, der Wald: Das alles ist die Schule von Moira und Lynn. Und was sie am Küchentisch gerade machen, ist Unterricht. Aber irgendwie eben auch nicht. Denn bei den Winkelhausens gibt es keinen Unterricht. Da gibt es Leben. Man müsse sich lösen von dieser Vorstellung, von 9 Uhr bis 17 Uhr unterrichten zu müssen. «Homeschooling findet immer statt», sagt Kathrin.

Und doch ist da viel Struktur. Kathrin arbeitet zurzeit 70 Prozent in der Personalabteilung des Inselspitals, daneben macht sie als Selbstständige Beratungen zu Ernährung und Gesundheit. Dieter leitet ein 80-köpfiges Team im IT-Bereich, ein 100-Prozent-Pensum. Sie ist 40 Jahre alt, er 49. Wenn Moira und Lynn um 8 Uhr aufstehen, hat Kathrin bereits zwei Stunden gearbeitet. Sie könne das stundenweise tun, manchmal, wenn die Mädchen selbstständig lernen, oder danach, oder am Abend. Und für die Kinder gehört alles, was sie tun, zum Lernprozess dazu: Kochen, Tisch abräumen, streiten, mit den Nachbarn Französisch sprechen, in der Pfadi Zusammenhalt erfahren, beim Eiskunstlauf die Balance halten, beim Hip-Hop-Tanz das Körpergefühl stärken.

«Das ist aber cool. Wollen wir die Wolke noch etwas grauer machen?», fragt Kathrin die Jüngere. Lynn will nicht. Sie will eine Pause. Und Moira will etwas essen. Lynn möchte am liebsten schlafen. Kathrin nimmt sie erst einmal auf ihrem Schoss und ermutigt Moira, weiter zu malen. Das funktioniert.

Kathrin nimmt zwar jeweils mit beiden Mädchen dasselbe Thema durch, aber nicht in derselben Art und Weise. Schliesslich ist Moira in der 4. Klasse, Lynn in der 1. Klasse. Moira muss deutlich genauer verstehen, wie die Wolken entstehen, wie sie heissen, was ein Hoch- und ein Tiefdruckgebiet ist und wie sich Eiskristalle bilden. Wenn sie das Thema in ein paar Tagen durch haben, wird Kathrin sie abfragen.

Lynn hingegen lernt vorerst, dass Wolken nicht immer gleich aussehen, dass Wind auch warm sein kann, dass dunkle Wolken nicht immer Regen bedeuten. Mit Buchstaben und Zahlen jonglieren zu lernen, stehe für sie in diesem Jahr nicht an erster Stelle. «Das kann sie ohnehin schon», sagt Kathrin. Das müsse nun gefestigt und ausgebaut werden. Lynns Hauptaufgabe ist zurzeit, sich in Geduld zu üben. Anders als Moira lernt Lynn auch kaum mit Arbeitsblättern. Beide haben Lernhefte, die sie jeweils bis Ende Jahr durcharbeiten. Und alles wird dokumentiert: Zeichnungen, Übungsblätter, Fotos. Das brauchen sie, um bei einem Besuch vom Schulinspektorat etwas vorweisen zu können.

Moira und Lynn gehören zu den 934 Kindern im Kanton Bern, die daheim unterrichtet werden. Dazu brauchen die Eltern keine pädagogische Ausbildung, jedoch eine Fachperson, die sie bei der Planung und dem Unterrichten unterstützt (siehe Infobox).

Seit Kurzem hat Moira einmal pro Woche einen Test. Damit will Kathrin sie auf das vorbereiten, was noch alles kommen könnte. «Vielleicht entscheidet sie sich ja später, an eine Schule zu wechseln, ans Gymnasium oder an eine Berufsschule. Darauf möchten wir sie so weit wie möglich vorbereiten.» Moira soll lernen, auch in Prüfungssituationen durchzuatmen. «Wir wollen unseren Kindern nicht im Weg stehen. Sie sollen selber entscheiden können, was sie später tun möchten», sagt Kathrin.

 

Kein Freifahrschein

«Kannst du mal leise sein?», sagt Lynn genervt. Lynn mag die Spontanität ihrer Mutter nicht. Sie mag Struktur. Sie sei hochsensibel, sagt Kathrin. Ihr werde es rasch zu viel. «Willst du in dein Zimmer gehen?» Lynn nickt und geht. Sie darf ein Hörbuch abspielen, ausnahmsweise, weil Besuch da ist. «He, das finde ich jetzt aber gemein!», sagt Moira. Kathrin ermutigt sie, doch noch etwas weiterzumachen. Und rasch ist sie wieder ganz bei ihrem Bild, bei den Wolken, bei der Sonne, beim Regen.

Sie setze nicht aufs Freilernen, sondern orientiere sich so gut wie möglich am Lehrplan, sagt Kathrin. Und sie und Dieter halten sich dabei an die Erkenntnisse der Wissenschaft. Religion und Glaube hatten mit dem Entscheid fürs Homeschooling nichts zu tun. Das ist ihnen wichtig, zu erwähnen. Deshalb habe sie sich auch dazu bereit erklärt, ihre Tür fürs BT zu öffnen. «Wir wollen zeigen, dass es auch völlig normale Familien gibt, die sich für Homeschooling entscheiden», sagt Kathrin. Unter den Homeschoolern gebe es viele Querdenker. Solche, die sich gegen die Wissenschaft stellen. Das tun Winkelhausens nicht. Vorgeworfen werde es ihnen aber trotzdem immer wieder. Wohl, weil sie das System kritisieren.

Noten seien nicht dazu geeignet, Fähigkeiten zu messen. Sie seien eine Momentaufnahme. Für manche Kinder komme sie zu früh, für andere zu spät, jedes Kind lerne anders und zu einem anderen Zeitpunkt. «Wir wollen den Kindern ein Umfeld bieten, dass sie zum lernen animiert und sie dort auffängt, wo sie Halt brauchen», sagt Kathrin. Zudem hat für sie die Chancengleichheit an den öffentlichen Schulen einen zu hohen Stellenwert. «Es wird zu viel dafür investiert, die Kinder gleich zu machen. Der Fokus liegt auf den Schwächen, nicht auf den Stärken. Dabei brauchen wir doch keine Soldaten mehr», sagt Kathrin.

Und das gab auch den Ausschlag fürs Homeschooling: Lynn hat noch nie ein reguläres Klassenzimmer von innen gesehen, Moira war lediglich am Besuchstag im Kindergarten. In einer anderen Bieler Schule als ihre Freunde im Quartier. «Mir hat es überhaupt nicht gefallen», sagt Moira. Sie erinnere sich noch daran, als sie die Lehrerin fragte, ob diese ihr etwas vorlesen oder mit ihr etwas unternehmen könne. «Und sie meinte nur, sie müsse sich um andere Kinder kümmern.» Dazu kam, dass ein Grossteil der Klasse, in die Moira eingestuft wurde, Stützunterricht erhielt. Moira nicht. Sie kann Deutsch, ziemlich gut sogar, wechselt zwischen Hochdeutsch und Schweizerdeutsch, je nach dem, wer vor ihr sitzt – Kathrin ist in Deutschland aufgewachsen –, spricht Französisch und ein bisschen Englisch. «Da fehlten mir die Worte. Wie kann es sein, dass alle anderen zu einer Förderlehrerin dürfen, sie aber nicht? Da fühlt sie sich doch als Sonderling», sagt Kathrin.

Also suchte sie sich eine Lehrperson, die sie im Homeschooling unterstützen kann, beantragte die Freistellung ihrer Tochter, reichte einen Lehrplan ein und ein paar Wochen später unterrichtete sie Moira daheim.

 

Leise Töne aus dem Alphorn

Es ist Zeit für eine Pause. Lynn ist immer noch in ihrem Zimmer. Moira will etwas zeigen. Sie klopft bei Dieters Büro an die Tür, tritt ein und kommt bald bepackt mit einem Alphorn und einem Waldhorn zurück. «Ich will etwas vorspielen», sagt Moira. Das darf sie. Auch Dieter macht eine Pause und brüht in der offenen Küche Kaffee. Es störe nicht, wenn Moira übe. Ausser es stehe gerade ein längeres Meeting mit mehreren Personen an. Deshalb frage Moira ihn jeweils vorher. Dieter hilft auch beim Homeschooling, aber zurzeit eher im Hintergrund. Meetings macht er übrigens überall, auch mal beim Spazieren durch den Wald. Dazu ermutigt er auch seine Mitarbeitenden. Kathrin und Dieter nennen dies Achtsamkeit.

Mit dem Alphorn dürfe sie daheim nur leise üben, sagt Moira. Das störe sonst die Nachbarn. Und ja, Alphorn könne man auch leise spielen. Jetzt will sie aber zeigen, was sie auf dem Waldhorn kann. Kurze Zeit später hat dann auch der blaue Notenständer die richtige Höhe. Moira bläst ins Horn. «Mama, weshalb tut sich da nichts?» Irgendwo sei es verstopft. «Oder vielleicht ist es zu kalt?», fragt Kathrin. Moira wird nervös. Doch sie versucht es weiter. Und bald erklingt das erste Lied. Dann das Zweite. Das Dritte kann sie fast auswendig. Moira ist sichtlich stolz. Am Donnerstagnachmittag hat sie jeweils Unterricht an der Musikschule in Biel. Lynn spielt Blockflöte, wie ihre Mutter.

In Kathrins Familie gibt es viele Lehrerinnen – und viele Diskussionen. Die gab es besonders damals, als Kathrin und Dieter vor fünf Jahren mit dem Homeschooling begonnen haben. Es habe zwar auch Zuspruch gegeben, aber eben auch Zweifel. «Auf Unbekanntes reagieren viele mit Misstrauen und Ablehnung», sagt Kathrin. In der Pandemie sei die Akzeptanz fürs Homeschooling gewachsen. Da hätten manche zum ersten Mal wahrgenommen, dass das daheim Unterrichten auch Vorteile haben kann. Schon nur, dass man mehr Zeit mit den Kindern verbringen könne. «Ich erhielt viele Anrufe von Freunden und Bekannten, ob ich ihnen beim Fernunterricht helfen könne. Aber ich konnte nicht helfen. Das ist etwas ganz anderes», sagt Kathrin. Schliesslich liegt die Verantwortung für den Unterricht beim Homeschooling bei den Eltern. Im Fernunterricht, wie ihn seit der Pandemie alle Schulkinder kennen, hingegen bei der Schule. Kathrin muss sich Arbeitsblätter und Schulmaterial selbst zusammensuchen, und diese auch bezahlen. Das Finanzielle sei ein wesentlicher Aspekt, sagt Kathrin. «Homeschooling können sich nicht alle Eltern leisten.»

Kathrin und Dieter homeschoolen nicht deshalb, weil sie das Konzept Schule ablehnen. Es gehe um die Art und Weise, wie in der Schule vermittelt werde. Heimunterricht sei zurzeit für sie einfach die beste Lösung. «Wir würden unsere Kinder lieber in eine gute Schule schicken», sagt Kathrin. Etwa in eine Montessori-Schule.

Gäbe es in Biel eine solche, wären die beiden Mädchen dort, sagt Kathrin. Der Grundsatz «Hilf mir, es selbst zu tun» ist genau das, was sich Kathrin und Dieter für ihre Kinder wünschen. Fokus auf die Stärken, nicht auf die Schwächen. Den weiten Weg nach Bern in die Montessori-Schule wolle sie ihren Kindern aber nicht zumuten.

Doch auch für die öffentlichen Schulen sieht Kathrin Hoffnung: «Wenn alle Möglichkeiten des Lehrplans 21 genutzt und die Lehrpersonen auf die Noten verzichten würden, wäre die Schule ein besserer Ort.» Dafür müsse aber wohl mehr Geld in die Bildung gesteckt werden, der Lehrerinnenberuf müsse an Attraktivität gewinnen und das System brauche eine regelmässige und rasche Auffrischung. Bei der Gestaltung sollen alle mithelfen, die Eltern, die Kinder, die Lehrpersonen, ist Kathrin überzeugt.

 

Sie hinterfragen Homeschooling

Daran gezweifelt, dass sie ihren Kindern im Homeschooling genügend bieten kann, hat Kathrin nie. «Man muss für Homeschooling nicht in allen Fächern ein Profi sein.» Es gebe zahlreiche Lernhilfen, die einen unterstützen. Jedes Jahr machen Kathrin und Dieter jedoch eine «nüchterne Analyse», wie sie es nennen, in der sie sich fragen, ob sie die Lerninhalte weiterhin gut vermitteln können. «Wir ziehen das Ganze nur so lange durch, wie wir alle ganz dahinter stehen können.» Dies bespreche sie auch mit den Mädchen. Und sie und Dieter würden sie regelmässig fragen, ob sie denn nicht an eine reguläre Schule gehen möchten. Bisher hätten sie das aber nie gewollt. «Ich glaube auch nicht, dass unsere Kinder das Gefühl haben, ausgeschlossen zu sein», sagt Kathrin. Vielmehr komme es vor, dass Moiras Gspänli eifersüchtig auf sie seien, weil sie mehr Freizeit habe.

Und was sagt Moira dazu? Sie vermisse die Schule nicht. Zu wechseln sei für sie keine Option, auch wenn sie von ihrem Fenster aus den Kindern auf dem Pausenhof der angrenzenden Schuhe beim Spielen zusehen kann. «Ich bin froh, dass ich nicht dorthin muss.» Zuhause habe sie mehr Freiheiten, dürfe zwischendurch rausgehen, habe mehr Zeit für sich, mehr Freizeit. «Meine Freundinnen haben nie Zeit», sagt Moira. «Und ich kann selbst bestimmen, in welcher Reihenfolge ich was lerne.» Würde es nach ihr gehen, würde sie wohl hauptsächlich Französisch und Englisch lernen. Sie mag Sprachen.

Lynn ist inzwischen aus ihrem Zimmer gekommen. Bald geht es ans Kochen. Moira hilft montags immer mit. Lynn ist froh, wenn der Besuch geht. Das sei wohl gerade etwas viel für sie, sagt Kathrin.

Und was möchte Lynn mal werden? «Försterin. Sie liebt den Wald», sagt Kathrin. Sie wolle wissen, was da alles auf dem Boden krabbelt, welche Bäume wo wachsen, wie das alles zusammenspielt. Und Moira? «Hm, na ja», sagt sie und überlegt. «Vielleicht Tierärztin, am liebsten etwas mit Pferden und Hunden.»

Nun gilt es für die beiden Mädchen aber erst einmal, die reguläre Schulzeit zu absolvieren. Wichtig ist, dass sie jederzeit fähig sind, an eine reguläre Schule zu wechseln. Das schreibt das Gesetz vor. «Und das sind sie allemal», sagt Kathrin.

 

Homeschooling wird
 immer beliebter

In den letzten Jahren ist die Zahl der Kinder im Homeschooling deutlich gestiegen: 2021 waren es eineinhalb mal so viele wie im Vorjahr. Im Kanton Bern war die Zunahme zwar deutlich geringer, aber immer noch beträchtlich. Seit 2016 hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Im Schuljahr 2016/2017 waren es noch 421 Kinder, im aktuellen Schuljahr sind es 934. Sie machen aber immer noch einen geringen Anteil aus, insgesamt befinden sich in Bern auf Stufe Volksschule aktuell 107 800 Kinder. Die Zunahme hängt auch mit der Pandemie zusammen: Seit der Einführung der Maskentragepflicht ab der 1. Klasse haben die 
Anfragen rund ums Thema Homeschooling bei den Schulinspektoraten im Kanton Bern zugenommen, schreibt die Berner Bildungs- und 
Kulturdirektion auf Anfrage. Über 
hängige Gesuche werde jedoch keine Statistik geführt, weshalb man diesbezüglich keine Aussage machen könne. Die Bedingungen für Homeschooling sind kantonal geregelt. Im Kanton 
Solothurn benötigen die Erziehenden ein Lehrerdiplom, um ihre Kinder daheim zu unterrichten. Im Kanton Bern hingegen nicht. Das Schulinspektorat prüft die Bedingungen im Heimunterricht regelmässig. Vor einer Woche teilte der Kanton Bern mit, dass der Zugang zu Privatunterricht bis zur 
4. Klasse aufgrund der Maskentragepflicht vorübergehend erleichtert wird. Dies gilt jedoch nur für eine befristete Zeit. Mit einem Wechsel zum Privatunterricht übernehmen die Erziehungsberechtigten die schulische Verantwortung für ihr Kind. haf

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