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Wenn bei der Pflege von Angehörigen Missbrauch geschieht

Die Vorstellung von «Vater Staat», der analog dem «Pater Familias» die Verantwortung und im Zweifelsfall gleich auch noch Bevormundung seiner Schäfchen übernimmt, ist heute glücklicherweise weitgehend überholt und meist nicht mehr gängige Praxis.

Bild: Sabine Kronenberg

Sabine Kronenberg

Entsprechend hat es bisweilen ein Ende gefunden, dass «grosse Männer grosse Geschichte 
machen». Die Verunsicherung und Vereinzelung, die damit einhergeht, ist natürlich gesellschaftlich spürbar.

Und ich bringe ja ein gewisses Mass an 
Mitgefühl entgegen, wenn diese Verunsicherung und Vereinzelung auslöst, dass man sich nach Althergebrachtem sehnt. Früher war 
alles besser. Ich bin nicht sicher. Verunsicherung und ständiges Neuverhandeln ziehe ich den allmächtigen, grossen Wahrheiten allemal vor.

Grundsätzliches Misstrauen ist angebracht, wenn jemand allmächtige Wahrheiten verkündet. Beispiel fürsorgerische Massnahme. Oder Verdingkinder. Da hat der Staat auf gesetzlicher Basis und aufgrund fragwürdiger wissenschaftlicher Evidenz (Eugenik lässt grüssen) Familien auseinandergerissen. Die Mutter schizophren? Der Bub kommt als Verdingkind zum Bauern. Im Idealfall ist der Bauer ein netter Mensch. Oft war der Bauer aber ein gewalttätiger Alkoholiker oder sonstwie derangierter Zeitgenosse, der solche platzierten Kinder gnadenlos ausnutze, wenn nicht physisch und psychisch missbrauchte.

Allerhöchste Eisenbahn, dass solche fürsorgerischen Massnahmen heute umstritten und abgeschafft sind und – typisch Schweiz – mit einigen Jahrzehnten Verspätung (und leider auch nur zaudernd und zähneknirschend) 
aufgearbeitet werden. Aber aufgearbeitet wirds. Soweit so gut.

Was ab dem 18. Jahrhundert der Staat (fragwürdig und lückenhaft) «versorgte», ist heute weitgehend Privatsache. Die Pflege von Angehörigen bedeutet für die Betroffenen wie auch ihre Familie eine aussergewöhnliche Belastung. Kommt erschwerend dazu, dass wenn die betroffene Person psychisch krank ist, das sofort Fragen nach Schuld und Verantwortung aufwirft.

Oft werden Krankheiten, Pflegebedarf und psychische Erkrankungen verschwiegen. 
Pflege findet versteckt statt. Dabei sind Erkrankungen, auch psychische, sowie Pflegebedarf reale Situationen, die im realen Leben stattfinden und Leiden und Widerstände 
verursachen.

Glücklicherweise gibt es heutzutage zahlreiche Anlaufstellen, die Pflegende wie auch Betroffene unterstützen, ja sogar vor Missbrauch schützen. Richtig. Es gibt nicht nur «schwierige» Pflegende und Pflegeverhältnisse. Es gibt auch Betroffene, die gepflegt werden und die ihre Pflegenden manipulieren und missbrauchen. Beispiel Pflege von pflegebedürftigen Eltern. Missbräuchliche Erziehungsmethoden waren weit verbreitet in der Elterngeneration meiner Grosseltern. Diese damaligen Kinder, also unsere Eltern, finden sich heute als Erwachsene wieder in Situationen mit pflegebedürftigen Angehörigen, die schikanieren, manipulieren und psychisch wie auch physisch (soweit möglich) den Gewalthebel setzen, wo sie nur können.

Zu Recht sind Pflegende und ihre unbezahlte Arbeit ein politisches Thema. Es ist richtig und wichtig, diese Ungerechtigkeit zu thematisieren und zu korrigieren. Aber auch pflegenden Angehörigen, welche psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt sind, sollte unbedingt Unterstützung zukommen. Machen Sie einen Anfang und fragen Sie ihre Eltern mal, wie es ihnen geht bei der Pflege der 
Altvorderen. Darüber reden und Tabu brechen, ist ein erster Schritt.

Info: Sabine Kronenberg ist Historikerin und 
Ausbildnerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Biel. 


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