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Titelgeschichte

«Homeschooling reproduziert soziale Ungerechtigkeit»

Daniel Steiner bildet an der Pädagogischen Hochschule Bern Lehrkräfte aus.
 Im Homeschooling sieht er viele Gefahren.

Daniel Steiner, Institutsleiter Primarstufe an der PH Bern.

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Interview: Hannah Frei

Daniel Steiner, Sie haben vier Kinder und sind ausgebildeter Lehrer. 
Würden Sie es sich zutrauen, Ihre Kinder zuhause zu unterrichten?

Daniel Steiner: Ja, auch weil meine Partnerin ebenfalls Lehrerin ist. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Nachteile von Homeschooling deutlich überwiegen. Ich würde das also nur in einer akuten Notsituation in Betracht ziehen.

 

Was sind die grössten Nachteile?

Der soziale Austausch ist stark eingeschränkt. Die Kinder verbringen weniger Zeit mit Gleichaltrigen. Ihnen fehlt die gegenseitige Inspiration, das Diskutieren, das Streiten, die anderen Sichtweisen. Homeschooling-Familien sagen natürlich, dass es auch Vorteile gibt: Es stärkt den Zusammenhalt in der Familie. Aber ich erachte den sozialen Austausch, der in der Schule stattfindet, als zentral. Nehmen wir das Beispiel der Impffrage: Mein jüngster Sohn, 4. Klasse, kam vor Kurzem nach Hause und erzählte mir, dass die Eltern eines Gspändlis impfkritisch seien. Er musste sich dadurch also mit gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen. Das fällt im Homeschooling grösstenteils weg.

 

Im Kanton Bern braucht es für 
Homeschooling keine pädagogische Ausbildung. Was halten Sie davon?

Ich zweifle daran, dass Eltern ohne pädagogische Ausbildung wirklich in gleichem Masse Fachpersonen sein können wie Lehrerinnen und Lehrer.

 

Wertet diese liberale Haltung 
den Beruf ab?

Ja, das ist so. Wir haben ein hervorragendes Bildungssystem und sehr gut ausgebildete Lehrkräfte. Es ist klar, dass ich das als Vertreter der PH sage. Aber das zeigen auch Vergleichsstudien. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Eltern ohne pädagogische Ausbildung wirklich Fachkräfte in allen schulrelevanten Bereichen – und das noch vom Kindergarten bis zur sechsten Schuljahr – sein können. Es fehlen die fachlichen, die fachdidaktischen, und die erziehungswissenschaftlichen Kompetenzen. Und was auch oft vergessen geht: Lehrpersonen arbeiten heute im Team und können auch bei Fachleuten, wie beispielsweise schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, Unterstützung 
holen.

 

Ein Gegenargument ist doch: Sind die Eltern nicht ohnehin Profis in Sachen Kindererziehung und -begleitung?

Eltern kennen ihre Kinder zwar gut. Aber übers Lernen wissen die Fachkräfte deutlich mehr. Eltern sind nicht a priori gute Lehrpersonen.

 

Was braucht denn ein Kind auf 
der Primarstufe, um zu lernen?

Das Wichtigste sind stabile und verlässliche Strukturen. Dazu gehört eine gute Beziehung zur Lehrperson. Das ist die Basis jeglichen Lernens. Es braucht aber auch ein anregendes Umfeld, das die Kinder auf ihrem Niveau beim Lernen fördert. Die Lehrperson ist nach wie vor eine wichtige Akteurin für ein erfolgreiches Lernen, auch im Homeschooling.

 

Diese Voraussetzungen können beim Homeschooling durchaus gegeben sein, besonders die starke Bindung zum Kind. Was kann die Schule denn da noch bieten?

Wie gesagt: Wenn das pädagogische Fachwissen fehlt, arbeiten die Eltern vielleicht einfach ein Lehrmittel mit den Kindern durch, ohne dass sie das didaktische Konzept dahinter kennen. Das ist in der Schule anders. Und die Forschung zeigt, dass Kinder in der Gruppe viel besser lernen, weil sie auch voneinander lernen. Um das Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit zu entwickeln, ist ein intensiver Austausch mit Gleichaltrigen elementar.

 

Ein weiteres Argument für Homeschooling ist, dass man die Kinder 
zuhause individueller fördern kann. Gibt es an den Schulen genügend Raum für individuelle Förderung?

Ja. Die Förderung des individuellen Potenzials ist ein Bildungsauftrag. Wir müssen die Kinder dort abholen, wo sie sind, ihre Potenziale erkennen und diese fördern. Das Ziel ist nicht, alle Kinder denselben Bedingungen auszusetzen. Dafür braucht es aber unterrichtsergänzende Massnahmen, auf beiden Seiten des Begabungspotenzials. Dazu bietet die Schule von heute eine Vielzahl an Möglichkeiten. Im Unterricht macht längst nicht mehr jedes Kind zu jeder Zeit dasselbe.

 

Das wurde ja durch den Lehrplan 21 noch verstärkt.

Genau. Es gibt auch durchlässige Unterrichtsmodelle und Begabungsförderung. Das Ziel ist, jedes Kind als Individuum wahrzunehmen. Aber das ist natürlich auch eine Herausforderung. In einer Klasse von 20 bis 25 Kindern ist das oft schwieriger als daheim mit zwei oder drei. Wichtig ist aber auch der Inklusionsgedanke. Die Schule muss für alle da sein. Wenn wir dem Rechnung tragen wollen, sind weitere Anpassungen bei den Rahmenbedingungen nötig.

 

Sind die Klassen mit 20 Schülerinnen und Schülern oder mehr nicht zu gross für die individuelle Förderung?

Was das angeht, gibt es keine einheitliche Studienlage. Es ist abhängig von der Klassenzusammensetzung. In manchen grossen Klassen funktioniert es sehr gut, in anderen, auch kleinen, weniger. Eine homogenere Klasse, also wenn sie aus Kindern mit ähnlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten besteht, ist vielleicht weniger herausfordernd. Aber die mentale Belastung der Lehrperson kann man nicht ausschliesslich an der Grösse einer Klasse festmachen.

Im Kontext von Homeschooling fällt häufig der Satz: «An Schulen werden Soldaten ausgebildet.» Das widerspricht dem Ansatz der individuellen Förderung. Ist es denn heute noch wichtig, dass Jugendliche mit 15 Jahren alle in etwa dasselbe können und dies auch belegt werden kann?

Also erst einmal: Die Schule bildet keine Soldaten aus. Jedes Kind soll sich individuell entwickeln können. Es geht nicht um eine Ausnivellierung, und das soziale Lernen ist ganz zentral. In diesem Bereich sehe ich im Homeschooling ein Risiko.

 

Inwiefern?

Manchmal bewegen sich die Kinder daheim in einem eingeschränkten Umfeld, beispielsweise in einem systemkritischen. Wenn wir unsere Kinder von der Realität abschirmen, kommt es nicht gut. Früher oder später müssen sie mit den Herausforderungen, die unser Leben im 21. Jahrhundert prägen, umgehen können. Die Familie und die Schule müssen hier gemeinsam eine grosse Arbeit leisten und nicht gegeneinander kämpfen.

 

Homeschooling-Kinder sind ja auch heute noch Sonderfälle. Was macht 
es mit einem Kind, ein Sonderfall zu sein?

Beim Homeschooling besteht durchaus die Gefahr, dass die Kinder von der Gesellschaft und von anderen Kindern als etwas Besonderes wahrgenommen werden, sowohl im positiven, wie auch im negativen Sinne. Es kann das Bild entstehen, Homeschooling-Familien würden sich als «zu gut» sehen für die öffentliche Schule. Oder die Kinder würden es in der öffentlichen Schule nicht schaffen. Das kann so oder so eine negative Etikette sein. Muss es aber nicht. Manchmal setzen Eltern ja auch aus purer Verzweiflung auf Homeschooling, weil es für ihr Kind in der öffentlichen Schule nicht geht. Dann habe ich sogar Verständnis für diese Entscheidung.

 

Sonst nicht?

Weniger Verständnis habe ich, wenn es um ein grundsätzliches Misstrauen dem Staat und dem Bildungssystem gegenüber geht. Das sage ich jetzt nicht nur als Vertreter des Schulwesens, sondern auch als Vater: Wir haben ein ausgezeichnetes Schulsystem. Und aus gesellschaftlicher Sicht reproduziert Homeschooling soziale Ungerechtigkeit. Häufig sind die Familien, die auf Homeschooling setzen, finanziell gut gestellt. Würden das alle machen, würden die Ungerechtigkeiten verstärkt. Dabei soll die Schule ja das Gegenteil bewirken, nämlich Chancengleichheit schaffen.

 

Was denken Sie, wird es in 50 Jahren immer noch Klassenzimmer geben, wie wir sie heute kennen, mit 
 Pulten, Wandtafeln und Frontalunterricht?

Ich denke nicht. Die Schule der Zukunft nimmt jedes Kind in seiner Einzigartigkeit wahr. Es wird noch mehr Möglichkeiten zur Individualisierung geben. Unterricht wird künftig wohl verstärkt nicht mehr nur im Klassenzimmer stattfinden. Die Räume in einem Schulhaus werden flexibler eingerichtet und genutzt, und es gibt unterschiedliche Lernorte unter dem gleichen Dach. Das Gute aus dem Digitalen und das Gute aus dem Analogen werden zusammengeführt. Die klassischen Fachbereiche werden wohl aufgelöst, zugunsten von interdisziplinären Inhalten und Kompetenzen. Wir werden uns also vom klassischen Deutsch-, Französisch- und Mathematikunterricht verabschieden. Die Schule wird aber immer ein Ort der Gemeinschaft sein.

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