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Intime Einblicke

«Ich kenne guten Sex erst jetzt»

In einer neuen Serie gewähren Seeländerinnen und Seeländer im BT intime Einblicke in ihr Liebesleben. 
Den Anfang macht Sonja*. Sie ist 38-jährig, hat zwei Kinder, ist geschieden und lebt seit zwei Jahren in einer neuen Beziehung.

Illustration: Tiphaine Allemann
  • Dossier

« Wie oft ich Sex habe? Oft. Das ist die erste Antwort, die mir bei dieser Frage in den Sinn kommt, noch bevor ich zu rechnen beginne. Und was mir als zweites durch den Kopf schiesst: Obwohl wir nun schon fast zwei Jahre zusammen sind, hat der Sex überhaupt nicht nachgelassen. Wie oft wir effektiv Sex haben, ist verschieden, im Durchschnitt dürfte es aber vier- bis fünfmal pro Woche sein. Als wir uns kennengelernt haben, dachte ich, das sei der Sex meines Lebens. Besser kann es gar nicht kommen. Und es wurde trotzdem immer besser. Dieses Gefühl kommt immer wieder: Da denke ich, jetzt haben wir den Höhepunkt erreicht, jetzt kann es nur noch abwärts gehen; und dann haben wir plötzlich Sex, der wieder alles andere in den Schatten stellt.

Der Sex, den wir haben, entwickelt sich irgendwie wie unsere Liebe. Am Anfang war ich verknallt mit vielen Schmetterlingen im Bauch und dachte, das kann nicht besser werden. Aus meinem bisherigen Leben weiss ich: Nach dem Verliebtsein kommt das Monotone, alles flacht ab. Aber bei uns ist dies überhaupt nicht der Fall. Die Liebe wächst nach wie vor, sie geht immer tiefer. Und je tiefer die Liebe geht, desto besser scheint der Sex zu werden.

Für mich ist guter Sex das, was ich mit meinem Partner erlebe. Denn wenn ich heute von Sex rede, ist dies etwas völlig anderes, als wenn ich früher von Sex gesprochen habe. Er befindet sich heute auf einem ganz anderen Level. Und jetzt sage ich etwas, das für mich früher immer so kitschig geklungen hat: Guter Sex ist mit Liebe verbunden. Klar kann man guten Sex mit Menschen haben, die man nicht liebt, aber mit einem Menschen, den man liebt, ist es einfach 10 000-mal besser. Da ist Leidenschaft. Da ist Begehren. Die Lust kommt aus dem Innersten heraus.

Ich will damit aber nicht sagen, dass ich immer dann guten Sex in meinem Leben hatte, wenn ich verliebt war. Nein. Ich kenne guten Sex erst jetzt. Früher empfand ich es vielleicht schön, mit einem Partner Zärtlichkeiten auszutauschen. Aber durch den sexuellen Akt selbst fühlte ich mich nie wirklich befriedigt. Eine wirkliche Befriedigung erreichte ich eigentlich nur, wenn ich es mir selber gemacht habe. Nur dann hatte ich einen anständigen Orgasmus. Das war so mein Ding, da konnte ich mich völlig meinen Fantasien hingeben. Heute ist Selbstbefriedigung immer noch wichtig für mich. Aber ich tue es nicht mehr, um eine Lücke zu füllen, um in meinem Kopf etwas zu erleben, was ich von einem Mann nicht bekomme. Es ist mittlerweile etwas ganz anderes. Ich befriedige mich auch selbst, wenn mein Partner neben mir ist. Es ist nicht mehr nur meine intime Angelegenheit, es ist etwas, das ich mit ihm teile. Es ist auch so, dass ich beim Sex mit meinem Partner ständig Orgasmen habe. Früher war das schwierig, rein durch die Penetration fast unmöglich. Noch heute habe ich die meisten Orgasmen, wenn er mich während des Sexes berührt, es passiert aber auch oft, dass ich rein durch die Penetration zum Höhepunkt komme.

Klar ist es nicht die Liebe allein, die den guten Sex ausmacht. Aber Liebe schafft das nötige Vertrauen, sich dem Partner hinzugeben. Ich habe durch ihn gelernt, dem Sex gegenüber offener zu sein. Ich bin selbstbewusster in der Beziehung und dadurch auch selbstbewusster beim Sex. Ich weiss nicht, was wäre, wenn ich mal nicht mehr mit ihm zusammen sein würde. Ob ich diese Offenheit mitnehme, ob ich diesen Sex auch ohne Liebe so ausleben könnte.

Früher zum Beispiel wäre ich wütend geworden, hätte mir ein Mann den Hintern versohlt. Ich hätte mich wie eine Schlampe gefühlt; und das wollte ich nicht. Bei ihm jedoch ist es anders. Ich bin gerne seine Schlampe beim Sex. Einfach, weil ich weiss, dass er mich im Leben nicht so sieht. Ich kann Lust dabei empfinden und sehe die Lust in seinen Augen, was mich wiederum noch spitzer macht.

Beim Sex selbst bin ich nicht dominant. Ich habe zwar auch manchmal Bilder im Kopf, was ich gerne mit ihm anstellen würde. Und ich ergreife auch die Initiative zum Sex. Aber wenn es dann losgeht, übernimmt er die Führung. Und genau das gefällt mir. Ich liebe es, mich ihm hinzugeben, ihm die Kontrolle über mich zu überlassen. Es macht ihn so männlich. Und ich fühle mich dabei als Frau. Ich sehe, wie sehr er mich begehrt. Und weil meine Hingabe ihn so erregt, kann ich mich auch so hingeben. Dieses Rollenverhältnis beim Sex mochte ich schon immer. Ich glaube, ich habe nur einmal einen Mann beim Sex wirklich dominiert. Für mich wurde er dadurch zum ‹Bubi› – und das macht mich einfach nicht an.

Wenn mein Partner beim Sex die Kontrolle übernimmt, fühle ich mich dadurch überhaupt nicht unterdrückt. Denn ich weiss, dass wir uns in unserer Beziehung auf Augenhöhe begegnen. Und ich würde mich auch nicht wohlfühlen, wenn ich das Gefühl hätte, ich hätte nichts zu sagen beim Sex. Dies zu wissen, ermöglicht es mir, mich fallen zu lassen.

Beim Akt selbst ist es schwer zu definieren, was es genau ausmacht. Ich liebe es, wenn er mich hart rannimmt, ich liebe es aber genau so, wenn wir zärtlichen Sex haben. Unser Sex ist je nach Situation anders, immer aber leidenschaftlich. Wir können uns einfach voll und ganz der Lust hingeben. Ich kann mich gehen lassen, ohne Gedanken oder Ängste darüber, ob ich das nun darf oder nicht. Ob etwas zu pervers wäre. Das gibt es nicht. Alles kann schön sein. Wir können auch über alles reden. Er kann mir offen sagen, was er sich wünscht. Ich kann dasselbe bei ihm tun. Und wir sind sexuell so befreit, dass uns auch nichts zurückhält, neue Dinge auszuprobieren. Bei Fantasien ist es aber so, dass sie einen im Kopf zwar anturnen, in der Praxis aber nicht mehr so prickelnd sind. Eine sexuelle Erfüllung erreicht man auch nicht, wenn man so viele Dinge wie möglich ausprobiert. Wir haben zum Beispiel einen Dreier mit einer weiteren Frau probiert. Sogar einen Vierer mit einem anderen Pärchen. Da denkt man sich im Voraus vielleicht: Wow, wir können Dinge tun, die man sonst nicht macht in einer Beziehung. Aber nichts von dem kommt an den Sex heran, den wir haben, wenn wir zu zweit sind. Ich denke, unser Sex wird nicht besser, weil wir Dinge probieren oder sich die Technik verändert hat, sondern hauptsächlich, weil die Vertrautheit gewachsen ist.

Was sich im Vergleich zu meinem früheren Sexleben ebenfalls verändert hat, ist meine Lust. Früher hatte ich auch mal Sex mit einem Partner, nur, damit er Ruhe gibt. Heute würde ich dies nicht mehr tun. Denn eigentlich habe ich fast immer Lust auf ihn. Und wenn ich mal keine Lust habe, schafft er es irgendwie doch immer, dass ich Lust bekomme. Es muss dabei nicht mal eine Berührung sein. Manchmal reicht schon die Art, wie er mich anschaut.

Heute sage ich, dass Sex eine wichtige Sache im Leben und in einer Beziehung ist. Wenn ich das früher von jemandem gehört habe, habe ich das nie verstanden. Mittlerweile sage ich: Meine Beziehung ist so gut wegen dem Sex; und der Sex ist so gut, weil die Beziehung so gut ist.

Dass ich früher ein so verklemmtes Verhältnis zu Sex hatte, hat sicher damit zu tun, dass ich als Kind missbraucht wurde. Es ist nicht so, dass ich ein Trauma hätte und bei mir Bilder hochkamen, wenn ich Sex hatte. Aber vieles beim Sex in einer Beziehung hat mich angeekelt. Wenn die Liebe nicht mehr da war, empfand ich meine Partner als abstossend. Ausserhalb einer Beziehung, also in einer Affäre oder einem One-Night-Stand, war das nie ein Problem für mich. Ich konnte es geniessen, weil es ja genau das war, was ich in dem Moment wollte. Ich hatte die Kontrolle. In der Beziehung kam aber immer wieder dieselbe Person und wollte etwas, das ich nur getan habe, weil ich dachte, ich müsste es tun.

In früheren Jahren war ich selber untreu in einer Beziehung und weiss deshalb, was man dadurch kaputt machen kann. Deshalb ist mir Treue heute sehr wichtig. Und wenn ich zurückdenke, glaube ich auch: Wenn jemand untreu wird, passiert dies wahrscheinlich nur, weil in der Beziehung etwas nicht stimmt. Das war bei mir der Fall. Und ich glaube auch, ich wäre nie untreu geworden, wenn kein Alkohol im Spiel gewesen wäre.

Früher habe ich immer gesagt, ich würde Untreue niemals verzeihen. Dann gab es eine Zeit, in der dachte ich: Doch, ich könnte verzeihen. Heute weiss ich es schlichtweg nicht. Es ist schwierig, dies zu beurteilen, wenn man es nicht erlebt. Ich kann Untreue dann irgendwie verstehen, wenn jemand wirklich ein unerfülltes Bedürfnis hat, mit seinem Partner darüber spricht und einfach abgeblockt wird. Schlimmer fände ich es sowieso, wenn ein Partner emotional untreu würde. Einen rein sexuellen Ausrutscher könnte ich vielleicht verzeihen. Wobei: Ich weiss echt nicht, ob ich das Geschehene jemals ablegen könnte. Sicher ist aber: Eine Affäre könnte ich nicht akzeptieren, da würde ich sofort den Schlussstrich ziehen.

Ich glaube, es gibt viele Beziehungsformen, die funktionieren können. Wenn beide Partner einverstanden sind, könnte eine offene Beziehung eine Ehe sogar besser machen. Jedenfalls wäre es wohl besser, es so zu machen, als den Partner zu hintergehen. Heute kann ich sagen: Eine offene Beziehung wäre nichts für mich. Jedenfalls nicht in diesem Moment. Doch ich habe zu viele Dinge erlebt, um sagen zu können, dass man etwas aus Prinzip nie tun würde. Ich habe zu viele Dinge getan, von denen ich früher gesagt hätte, dass ich sie niemals tun würde. Es kann immer anders kommen, als man denkt – und das gilt auch für die richtige Beziehungsform.»

*Name der Redaktion bekannt

Aufgezeichnet: Parzival Meister

Sonja*, 38-jährig, seit zwei Jahren in einer Beziehung

 

 

Intime Einblicke (Folge 1)

Die meisten von uns haben ihn – manche mehr, manche weniger. Sex ist eine der natürlichsten Tätigkeiten der Welt. Und trotzdem fällt es uns nicht immer leicht, darüber zu reden. Unter Wahrung ihrer Anonymität lassen Seeländerinnen und Seeländer in dieser losen Serie tief blicken und sprechen offen darüber, welche Rolle der Sex in ihrem Leben spielt. pam

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