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Titelgeschichte

Von der hohen Kunst des Sex

Seit fast 15 Jahren führt Mireille Baumgartner in Biel ihre Praxis für Sexologie und betreut Paare bei ihren sexuellen Problemen. Was guten Sex ausmacht, wieso es nicht nur um die Technik geht und wie ein Paar eine Flaute überwinden kann, erzählt sie im Interview.

Bild: Nico Kobel
  • Dossier

Interview: Parzival Meister

Mireille Baumgartner, zu Beginn des Interviews eine ganz banale Frage an Sie: Was macht eine Sexologin eigentlich?
Mireille Baumgartner: Hatten die Leute früher ein Problem in ihrem Sexleben, war es kaum möglich für sie, darüber zu reden. Manchmal wagten Sie, ihren Arzt oder vielleicht den Pfarrer zu fragen. Und jeder versuchte dann, das Problem auf seine berufsspezifische Art zu lösen. Der Arzt verordnete eher Salben oder Pillen, der Pfarrer setzte auf das Zuhören. Damit versuchte man einen spezifischen Schmerz oder ein spezifisches Manko zu behandeln. Wir Sexologen arbeiten mit einem Modell für ganzheitliche sexuelle Gesundheit. Denn meistens ist ein sexuelles Problem nicht auf ein spezifisches Manko zurückzuführen. Sie können physisch und psychisch völlig gesund sein und trotzdem eine Unzufriedenheit empfinden, ein Problem mit der Libido oder anderes haben.

Können Sie etwas konkreter werden?
Grundsätzlich haben fast alle Menschen, die mich aufsuchen, dasselbe Ziel: Sie wollen guten Sex und einen guten Orgasmus erleben. Meine Arbeit besteht darin, für jeden den richtigen Weg dorthin zu finden. Dazu muss ich zuerst analysieren, wo die Wurzel des Problems liegt.

Die Wurzel des Problems kann bei einem Paar auch einfach im Zwischenmenschlichen liegen. Bieten Sie also auch eine klassische Paartherapie an?
Am Anfang fokussierte ich mich grundsätzlich nur auf die sexuellen Probleme meiner Patienten. Meist in Einzeltherapien. Ich merkte aber, dass das eigentliche Problem der Leute, die mich aufsuchten, in der Beziehung selbst zu suchen war. So habe ich mich auch als Paartherapeutin ausgebildet, um voll und ganz auf die sexuellen Probleme der Paare eingehen zu können. Wenn ich jemandem nur die richtige Technik für etwas beibringen würde, löst das in der Regel nicht die Probleme im Bett.

Die Technik ist also nicht so wichtig?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Mich suchte ein Mann auf, der unter vorzeitigem Samenerguss litt. Er dachte, seine Frau sei nicht zufrieden im Bett, weil er immer so schnell zum Orgasmus kam. Ich konnte ihm zwar beibringen, wie er länger durchhalten kann, aber damit habe ich ein neues Problem kreiert. Denn seine Frau war eigentlich nicht so unglücklich mit der Dauer des Aktes. Dass ihr Mann nach der Therapie länger durchhalten konnte, gab ihr nicht das, was sie wollte. Deshalb rate ich meinen Patienten immer, dass beide Partner in die Therapie miteingeschlossen werden sollten. Nur so können wir wirklich herausfinden, wo das Problem liegt und was man verbessern könnte. Technik kann man zwar lernen, ja, aber eine gute Technik bedeutet nicht automatisch guten Sex.

Es geht also nur um das Emotionale?
Nein, es ist eine Mischung aus Technik und Emotionen. Ich muss von meinen Patienten wissen, was sie erregt, was ihnen Lust bereitet oder warum Sie keine Lust mehr haben oder nie hatten. Ich befasse mich aber auch mit ihren Bewegungen, der Muskelspannung, der richtigen Atmung. Sehen Sie, bei allem, was wir tun, brauchen wir die richtige Technik. Sei dies beim Singen, Skifahren oder Tennis: wenn wir damit anfangen, wird uns die Technik beigebracht, die es dazu braucht. Ausser beim Sex. Da erwartet man von uns, dass wir es einfach können. Aber Sexualität geniessen zu können, ist uns nicht einfach von Natur aus gegeben.

Und trotzdem kann man mit seinem Sexualleben zufrieden sein, ohne je eine Technik gelernt zu haben.
Es gibt viele Leute, die mit dem zufrieden sind, was sie haben. Wenn Sie nur Lieder mit drei Akkorden kennen würden, wären Sie auch zufrieden, wenn Sie diese auf dem Klavier spielen könnten. Aber was, wenn man bemerkt, dass da mehr ist? Man liest über Sex, man hört Dinge, man vergleicht. Und dadurch entstehen neue Bedürfnisse, die gestillt werden wollen.

Sex ist weitgehend enttabuisiert. Wir werden im Alltag immer wieder mit Sex konfrontiert. Es gibt Bücher, es gibt Fernsehsendungen, es gibt Podcasts, die sich um Sex drehen. Eigentlich sollten wir doch heute gut informiert sein.
Eigentlich, ja. Aber was den meisten Menschen fehlt, ist das Basiswissen über Sex. Wenn jemand von einem Höhepunkt spricht, meint er damit in der Regel diese Zuckungen, die er bei jemandem gesehen hat, der einen Orgasmus hat. Dabei geht es um weit mehr. Den Orgasmus zu erreichen ist wohltuend, aber es bringt nicht automatisch Sinnlichkeit und ein Gefühl von Verbundenheit mit dem Partner mit sich. Diesen Zustand mit Sex zu erreichen, ist hohe Kunst.

Und wie erlernt man diese hohe Kunst?
Zuerst einmal müssen wir uns die Erlaubnis erteilen, solche sexuellen Gefühle überhaupt zuzulassen. Wir leben in einer Welt, in der jeder denkt, wir seien der Sexualität gegenüber sehr offen.

Eigentlich schon, ja. Doch jetzt kommt von Ihnen ein «aber».
Ich stamme aus der 68er-Generation. Damals ging es um «Peace and Love». Es gab damals wenige negative Assoziationen zu Sex. Die Prävention bezüglich der Risiken eines aktiven Sexuallebens, die heute allgegenwärtig ist, ist zwar wichtig, sie hat aber auch mit sich gebracht, dass wir explizit über die negativen Seiten der Sexualität Bescheid wissen. Die Stop-Aids-Kampagnen zum Beispiel, oder auch die #MeToo-Bewegung, haben die Gesellschaft weltweit beeinflusst.

Hat Aufklärung also zu einer sexuellen 
Verschlossenheit geführt?
Ich kann Ihnen aus meiner Erfahrung als Sexualpädagogin berichten und fange gleich bei den Eltern an. Vor 20 Jahren habe ich mit den Eltern locker über das Thema reden können, das ich ihren Kindern beigebracht habe, und sie waren amüsiert über die Fragen, die ihre Kinder zu diesem Thema gestellt haben. Heute spüre ich bei den Eltern primär Angst. Angst, dass ich den Schülern etwas Falsches beibringen könnte. Angst, ihre Kinder seien noch zu jung dafür. Aufklärung ist wichtig, keine Frage, und trotzdem hat sie etwas ausgelöst. Die jungen Leute sind zum Beispiel unsicher, was sie tun dürfen. Sie fragen sich, wo der Unterschied zwischen Verführung und Manipulation liegt.

Wie hat der leichtere Zugang zu Pornografie uns verändert?
Viele denken, weil wir heute häufiger Pornografie konsumieren, seien wir sexuell befreiter. Aber das ist nicht der Fall. Ich habe Gymnasiasten erlebt, die völlig schamfrei über Pornos reden können, aber wenn es um echte Sexualität und Gefühle geht, verschliessen sie sich.

Zu Ihrem Beruf gehört es, sich mit Paaren auseinanderzusetzen, bei denen es im Bett nicht rund läuft. Was ist denn meistens die Ursache dafür?
Oftmals ist schon die Kommunikation ein Problem. Ich frage die Leute zum Beispiel, ob sie sich noch Komplimente machen oder mit kleinen Geschenken überraschen, ob sie sich streicheln oder in den Arm nehmen. Und dann höre ich von der Frau: «Ja, das macht er. Aber wenn er es tut, weiss ich genau, dass er es nur tut, weil er Sex will.» Schon befindet sich das Paar in einer verzwickten Situation: Sie will zwar, dass er sie umwirbt, sie verführt, aber wenn er es versucht, will sie es trotzdem nicht.

Was kann ein Paar denn tun, um wieder 
guten Sex zu haben?
Wichtig ist, dass die Partner einander verstehen. Bei einer Frau bewegt sich die Lustkurve oftmals nicht im selben Rhythmus wie beim Mann. Man kann nicht darauf zählen, dass einfach beide gleichzeitig Lust nach Sex haben. Zudem können beide auf unterschiedliche Stimulationen reagieren. Oft gibt man dem Anderen, was man selbst erhalten möchte. So braucht ein Mann vielleicht etwas Visuelles und etwas zum Anfassen. Die Frau kann das dann so interpretieren, dass er sie wie ein Objekt behandelt, und sich dadurch beleidigt fühlen. Da hilft es ihr, zu verstehen, wie ihr Mann funktioniert und sie kann darauf eingehen. Denn wenn er nicht bekommt, was ihn stimuliert, verliert er seine Erektion. Das ist rein funktional halt einfach so. Das Ganze funktioniert natürlich nur, wenn auch der Mann die Bedürfnisse der Frau besser versteht. Sehr oft gehen die Männer sehr direkt an die genitalen Punkte einer Frau. Doch eben genau dies kann die Lust der Frau stören. Bei einer Frau kann eine indirektere Herangehensweise meistens mehr bewirken: Sie will, dass man sie anschaut, sie bewundert, ihr Komplimente macht, sie zum Lachen bringt, den Nacken streichelt, ihr Zeit gibt und zuhört. Mit der Zeit kommt ihre Lust dann von alleine.

Also ist es wichtig, auf die Bedürfnisse des Partners einzugehen?
Ja, aber nicht nur. Denn es ist nicht einfach, in Erregung zu bleiben, wenn man nur darauf konzentriert ist, das zu machen, was dem anderen gefällt. Sex ist nicht nur geben oder nehmen. Die eigene Lust muss sich auch von dem nähren können, was man gibt. Zudem muss man offen sein, zu bekommen, Fragen müssen erlaubt sein, aber auch Verweigerung und Verführung. Wichtig ist auch, für den Partner interessant zu bleiben. Wenn ein Mann seine Frau streichelt, nur um Lust zu geben, und dabei selber nichts empfindet, ist es für sie auch nicht angenehm. Es gibt ihr aber ein gutes Gefühl, wenn sie spürt, dass auch er erregt ist bei dem, was er tut. Oftmals ist es ein Problem, dass Menschen im Bett zu grosszügig sind und sich dabei selber vergessen. Bei gutem Sex geht es auch darum, sich selber zu spüren. Deshalb muss man lernen, miteinander über seine Bedürfnisse zu reden und gewisse Dinge zuzulassen.

Da sind wir bei Theorie und Praxis: 
Man kann zwar über etwas reden, es aber dann in die Tat umzusetzen, ist nicht 
immer einfach.
Ein wichtiger Punkt meiner Therapie ist auch, zu lernen, dass man nicht immer alles sofort schafft. Man muss sich Zeit nehmen und darüber lachen können, wenn mal etwas schief läuft. Man darf sich nicht auf etwas versteifen und sich zum Beispiel sagen: Wenn ich die andere Person nicht zum Orgasmus bringe, bin ich kein guter Liebhaber. Denn glauben Sie mir: Es gibt keinen Mann, der eine Frau zum Orgasmus bringen kann, wenn sie sich selber nicht gut kennt und nichts dazu beiträgt.

Braucht es Liebe, um guten Sex zu haben?
Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Sicher ist aber: Guter Sex kommt von Herzen. Wenn zwischen den Menschen, die Sex haben, eine qualitativ gute Verbindung da ist, erreicht man eine vollkommenere Sexualität als mit einem Unbekannten. Dies kann aber auch bei einer Affäre zutreffen, auch da besteht eine Verbindung zwischen zwei Menschen.

One-Night-Stands stehen also nicht für 
guten Sex?
Sicher kann man guten Sex mit jemandem haben, den man nicht gut kennt. Aber dann liegt es nicht unbedingt nur an dieser Person, sondern am ganzen Moment: Eine prickelnde Begegnung, Alkohol, ein Hotelzimmer, alles ist neu. Gut möglich aber, dass Sie sich ein zweites Mal mit dieser Person treffen und es Ihnen nicht mehr dasselbe Vergnügen bereitet. Einfach, weil noch viele andere Zutaten als die Verbindung zu dieser Person eine Rolle gespielt haben.

Ist es nicht aber gerade so, dass bei vielen Paaren mit der Zeit die Lust aufeinander abnimmt und die Sehnsucht nach etwas Neuem steigt?
Sicher, das höre ich oft. Aber es ist falsch zu glauben, dass nur das Neue den besseren Sex mit sich bringt. Das Neue kann prickelnd sein, aber qualitativ nicht besser als das, was das Paar haben könnte. Diese Qualität im Sex erreichen Partner aber nur, wenn sie ihre Sexualität pflegen und weiterentwickeln. Von alleine bleibt oder wächst die Lust nicht.

Führt schlechter Sex zu Untreue?
Nicht zwingend. Aber es ist so, dass der Mensch gewisse Dinge braucht: Anerkennung, Zuneigung, das Gefühl, begehrt zu sein. Aber auch wenn jemand all das bekommt und sich sehr verbunden zu seinem Partner fühlt, heisst das nicht, dass man niemanden anderes begehren kann. Die Liebe alleine genügt nicht, um treu zu bleiben.

Ist lebenslange Treue überhaupt möglich?
Sicher ist das möglich. Zum Glück. Treue ist ein Wille zu einem Konstrukt, in dem man zu einem Menschen oder einer ganzen Familie gehört, Sicherheit erhält und sich entscheidet, mit nur einem Partner Sex zu haben. Daran kann man sich halten. Aber es wird trotzdem Momente im Leben geben, in denen man sich vielleicht zu einer anderen Person hingezogen fühlen kann. Zumindest, wenn man gerne Sex hat. Es gibt auch Menschen, die mit Sex nichts anfangen können; und für die ist es auch nicht schwierig, dem Partner treu zu bleiben.

Wo fängt Untreue an?
Spricht man von Untreue, ist damit in der Regel ausserehelicher Sex gemeint. Denn dadurch wird ein Vertrag gebrochen. Für mich bedeutet Treue aber auch, in der Beziehung engagiert zu bleiben: Auf sich achten, sich nicht gehen lassen, Aufmerksamkeit und Zuneigung zeigen, Gemeinsamkeiten pflegen und so weiter. Es gibt Paare, die sich sagen, dass körperliche Treue über allem stehe – dabei ist ihre Beziehung tot.

Glauben Sie, dass eine offene Beziehung funktionieren kann? Also dass ausserehelicher Sex dann vom Partner akzeptiert wird, wenn es nicht im Geheimen passiert?
In den 68ern ist dieses Konzept aufgekommen. Und es gab Leute, die das so gelebt haben. Aber funktioniert hat es schon damals eher schlecht. Ich glaube nicht, dass eine offene Beziehung generell funktionieren kann. Denn oft ist es so, dass es der eine Partner will und der andere zwar zusagt, sich aber nicht wirklich wohl dabei fühlt. Wenn mich meine Patienten danach fragen, sage ich ihnen, dass sie damit ein Risiko eingehen. Gleichzeitig muss ich auch sagen, dass das Leben viele Risiken für Untreue mit sich bringt.

Eine Variante, keine Probleme mit Sex zu haben, könnte ja auch sein, ganz auf Sex zu verzichten.
Ich kenne einige Fälle von Asexualität. Ich würde sogar sagen, heute gibt es mehr Menschen, die sich dafür entscheiden, als früher. Das sind Paare, die sich in vielen Bereichen gut verstehen – ausser eben beim Sex. Dieses Konzept kann über eine bestimmte Zeit funktionieren, aber das Risiko besteht darin, dass eines Tages ein Blick oder ein Lächeln in einem Menschen sein sexuelles Verlangen wiedererweckt. Dann kann das ganze Konstrukt bröckeln.

Wenn ein Paar zu Ihnen kommt, um über ihre asexuelle Beziehung zu sprechen, bedeutet das ja quasi schon, dass es eben nicht funktioniert.
(Lacht). Es ist effektiv eher selten, dass jemand zu mir kommt und sagt, es sei alles gut. In Wirklichkeit hätte aber wahrscheinlich jedes Paar einen Bereich, in dem es noch dazulernen möchte. Sehen Sie, Sexualität kommt aus dem Herzen, es ist ein Feuer, das in einem brennt. Klar, es gibt Krankheiten und Medikamente, die die Libido eines Menschen ändern können. Auch das Alter kann diesen Effekt haben. Es gibt aber ziemlich viele junge Klienten, die ziemlich schnell keinen Sex mehr zusammen haben. Es kann mit der Angst verbunden sein, den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Sie reden sich ein, beim Sex alles schaffen zu müssen: Multiple Orgasmen und die wildesten Stellungen. Das bringt Stress; und Stress und Sex gehen nicht gut zusammen. Oft ist es aber auch, weil Sie denken, dass die Lust auf Sex natürlich ist und sie die Gabe der Lust haben oder nicht haben.

Woher kommt dieser Druck?
Zum einen denke ich, dass sich hier die gesellschaftliche Entwicklung im Allgemeinen widerspiegelt: Immer mehr, immer besser, immer schneller. Man hat das Gefühl, der Beste sein zu müssen, um in der Welt bestehen zu können. Hinzu kommt, dass wir heute offener über unsere Sexualität und Bedürfnisse sprechen. Man hört durch die Medien von anderen Paaren, was sie alles machen und erwarten dann, all dies auch vom eigenen Partner bekommen zu müssen oder zu geben.

Sie sagen, der gesellschaftliche Leistungsdruck sei gestiegen, auch im Beruf. 
Haben wir heute auch schlichtweg weniger Zeit für Sex?
Ich hatte schon etliche Patienten, die eigentlich kein Problem mit ihrer Sexualität und trotzdem nicht mehr miteinander schlafen. Dann höre ich ihnen zu und erfahre, dass er nach der Arbeit noch Bandprobe hat und sie sich im Turnverein engagiert. Wenn sie dann beide um 23 Uhr nach Hause kommen, müssen sie zuerst etwas essen und fallen dann müde ins Bett. Das sind keine Probleme für eine Sexologin, das ist nur eine falsche Planung.

Aber was raten Sie denn einem Paar, das vielseitig engagiert und beschäftigt ist und deshalb kaum mehr Sex hat? Sollen Sie sich fixe Sex-Abende reservieren?
Wenn ich das den Paaren rate, spüre ich im ersten Moment immer Abneigung. Sex müsse schliesslich spontan kommen. Das ist ein fester, aber nicht produktiver Glaube. Wenn jemand Tennis spielt, bestreitet er auch nicht spontan einen Match. Er hält sich den Termin für seinen Match frei und rechnet auch genügend Zeit ein, um sich vorher aufzuwärmen.

Sind Sex und Tennis wirklich dasselbe?
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Denken Sie an Menschen, die eine aussereheliche Affäre haben. Wie machen die das? Genau, die verabreden sich zum Sex in einem bestimmten Zeitfenster. Sie bereiten sich darauf vor, freuen sich darauf, machen sich hübsch und profitieren dann von den zwei Stunden, die sie zusammen haben. Bei einem Pärchen muss es ja auch nicht ein so enges Zeitfenster sein. Es geht darum, sich bewusst für einander Zeit zu nehmen, damit die Lust überhaupt kommen kann. Besonders wichtig wird dies, wenn Kinder im Spiel sind. Dazu ist noch ein wichtiger Punkt: Wenn ein Paar fixe Sex-Abende verabredet, nimmt dies auch den Druck von anderen Abenden. Sie können Zweisamkeit geniessen, Zärtlichkeiten austauschen, ohne sexuelle Erwartungen zu haben. Sexuelle Probleme führen oft dazu, dass auch der einfache Austausch von Zärtlichkeiten zu kurz kommt. Denn darunter leidet ein Paar oft mehr als unter der fehlenden Lust.

Wie oft sollte ein Pärchen Sex haben?
Eine gewisse Regelmässigkeit bringt mehrere Vorteile mit sich. Wenn beide gerne Sex haben, kann man sagen: Je öfter man es macht, desto grösser wird auch die Lust auf Sex. Zudem fällt einem, wenn man mehr Sex hat, der Einstieg in den Sex leichter. Die Sexualität ist auf eine Art eine eigene Dimension, die ein Pärchen betritt. Doch zu dieser Dimension gibt es eine Schwelle. Und diese wächst, je länger man sie nicht betritt. Das gilt auch bei Pärchen, die sich zum Beispiel schon seit 30 Jahren kennen. Wenn sie mehrmals im Monat Sex haben, stellt man auch weniger Erwartungen daran. Man hat ihn einfach: Mal kurz, mal lang, mal im Bett, mal unter der Dusche …

Aber nicht jedes Paar hat auch nach 30 Ehejahren noch jede Woche Sex. Müssen sich all diese Paare, die es nicht schaffen, also Sorgen machen?
Leute, die sagen, sie hätten einmal in der Woche Sex, in den Ferien auch mal mehr, denen geht es oft sehr gut. Beunruhigender wird es, wenn er sagt, ein- bis zweimal und sie antwortet mir: dreimal. Dann weiss ich in der Regel, dass in der Sexualität etwas nicht stimmt. Bei ihm spüre ich, dass er dies für zu wenig hält, aber er sich damit abgefunden hat, nicht mehr zu bekommen. Sie hingegen sagt dreimal, weil er es wahrscheinlich dreimal bei ihr versucht und sie sich dazu zwingen muss, obwohl ihr das eigentlich zu viel ist. Solche Paare haben ein Problem. Die Frequenz, wie oft man Sex hat, ist noch kein Garant dafür, dass der Sex gut ist.

Kommt es öfters vor, dass die Frau nur mitmacht, damit der Mann Ruhe gibt?
Das gibt es nicht selten. Meistens ist es dann der Mann, der sich daran stört, wenn er merkt, dass seine Frau ihn einfach machen lässt, aber selber keinen Gefallen daran hat. Wenn es bei einem Paar soweit ist, bringt das beide nicht weiter.

Ist es in dieser Situation möglich für ein Paar, zurück zur Lust zu finden?
Es kommt darauf an: Um sexuell wieder zueinander zu finden, ist es am wichtigsten, das Bedürfnis des anderen zu verstehen. Guter Sex kann viel mehr als körperliche Freude bringen. Es bringt Selbstsicherheit, das Gefühl der Liebe zu bekommen. Dieses Gefühl ist für sie und ihn wichtig. Genauso wie Zärtlichkeiten und das Vertrauen in sich und den Partner. Es ist wichtig, eine Verbundenheit zu spüren, sich als Komplize seines Partners zu fühlen. Wenn bei einem Paar die Lust fehlt, haben beide oft das Gefühl, nicht mehr geliebt zu sein. Darum muss ihnen beiden klar sein, dass es nicht nur darum geht, auf einen Orgasmus hinzuarbeiten. Ich vergleiche das gerne mit dem Unterfangen, einen Berggipfel zu besteigen. Um möglichst schnell ganz oben zu sein, nehmen Sie die Gondel. Aber dort drin ist es unangenehm eng und sogar der Blick auf die Aussicht ist Ihnen versperrt. Dann kommen Sie oben an und denken: Ah, endlich. Doch die Gefühlsexplosion bleibt aus. Es ist okay da oben, das Bistro haut Sie auch nicht aus den Socken, also fahren Sie möglichst schnell wieder runter.

Sie wollen uns sagen: Der Weg ist das Ziel.
(Lacht) Also das Ziel ist auch sehr schön. Aber ja, es geht darum, das Ganze anders anzugehen. Um beim Bild des Gipfelerklimmens zu bleiben: Suchen Sie sich gemeinsam die Ausrüstung aus, planen Sie die Route, geniessen Sie unterwegs die Aussicht, machen Sie halt in der Mittelstation. Und wer weiss, vielleicht schaffen Sie es beim ersten Mal nicht bis ganz nach oben. Hauptsache, sie geniessen die ganze Wanderung.

Es geht also nicht primär darum, einen Orgasmus zu haben?
Ganz klar nein. Dieses Ziel kann zu einem Stressfaktor werden. Wenn der Mann die Frau unbedingt zum Orgasmus bringen will, erzeugt das auf beide einen gewissen Druck. Sie wird sich dabei nicht entspannen können und sich entsprechend auch nicht gehen lassen. Das Wichtigste ist aber eben gerade, dass sich beide fühlen und gehen lassen können. Vielleicht klappt es dann mit dem Orgasmus – vielleicht aber auch nicht.

Welchen Tipp können Sie uns zum Schluss mit auf den Weg geben?
Es ist wichtig, die Bedürfnisse des Partners zu verstehen. Denn was ich feststelle ist, dass viele Männer nicht wissen, wie die Sexualität einer Frau funktioniert, und noch weniger Frauen wissen, wie Männer veranlagt sind. Es ist wichtig, dem Partner im Bett ein Komplize zu sein, gemeinsam auf dieses Spiel einzugehen, Freude daran haben. Man muss offen sein, auch im Alter noch dazuzulernen und vor allem muss man Lust auf die Lust haben.

Info: Das Interview wurde in französischer Sprache geführt.

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